Renate Krüger 90

Menschen wie ich neigen dazu, eigenes Leseverhalten für das normale, das übliche, das womöglich gar mustergültige zu halten: ich schaue seit Kindesbeinen nach den Namen auf den Büchern: wer schrieb sie, wann lebte er/sie, wo und unter welchen Umständen? Ich kann nicht mehr genau sagen, wann mir erstmals ein lesender Menschen begegnete, der mir von einem tollen Buch schwärmte, das er eben gelesen hatte und auf meine Frage: Von wem ist es denn? - keine Antwort wusste. Heute müsste ich vermutlich sofort sagen: na immerhin: er/sie liest, das ist besser als von Büchern nichts zu halten, wozu sich dann auch noch Namen merken? Ja, wozu eigentlich? Ich weiß nicht, wie groß im Meer der Nichtleser inzwischen die schwindende Spezies vertreten ist, die auf das nächste Buch ihrer Autorin, ihres Autors wartet. Nur einmal in neueren Jahren gab es ein Massenphänomen des Wartens, sofort auch gepuscht und vermarktet von den üblichen Schlaumeiern, begleitet von den üblichen Feuilletons: Harry Potter. Doch stand selbst da der Name der Autorin Joanne K. Rowling eher im Hinter- als im Vordergrund. Jetzt spielt sie die Rolle einer Ikone der Incorrectness und muss vielleicht bis zu ihrem 60. Geburtstag am 31. Juli 2025 warten auf dann gerechtere Gesamtschauen.

Renate Krüger, geboren am 23. Juli 1934 im Spremberg, gestorben am 27. Mai 2016 in Schwerin, war mit immerhin elf Büchern in den Regalen meiner Eltern vertreten. Allein diese Häufung prägte mir ihren Namen ein. Im zweibändigen DDR-Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller war sie noch nicht vertreten, in „Schriftsteller der DDR“ dann aber schon: als Tochter eines Baumeisters, als Abiturientin des Jahrgangs 1952, mit Erwerb eines Diploms am Ende des Studiums 1958, mit einer Promotion 1966 über mittelalterliche Tafelmalerei. Aus dem 1972 im Berliner Union-Verlag erschienenen Buch „Das Kloster am Ilmensee“ machte das 1974 gedruckte Taschenlexikon mal eben „Das Kloster am Immensee“, der Korrektor hatte vermutlich zu viel Theodor Storm gelesen (oder zu wenig). Kulturhistorische Sachbücher, Romane und Erzählungen bilden das Werk: 21 Titel zwischen 1966 und 1989, das war für die seit 1968 freiberuflich tätige Autorin eine stattliche Reihe, hinter der immense Arbeit nicht nur zu vermuten, sondern im Ergebnis auch zu erkennen ist. Das allererste Buch „Die Kunst der Synagoge. Eine Einführung in die Probleme von Kunst und Kult des Judentums“ war innerhalb der DDR eine Pionierleistung: im Leipziger Verlag Koehler & Amelang.

Ähnlich ausgestattet die Bände „Das Zeitalter der Empfindsamkeit. Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland“ (1972) und „Biedermeier. Eine Lebenshaltung zwischen 1815 und 1848“ (1979). Beide Bücher scheinen auf eine Bevorzugung von Zeiten und Epochen zu deuten, die sich der einfachen Charakterisierung entziehen, die durch Übergange und Mischformen geprägt sind, durch Rückgriffe und Vorgriffe, Diskontinuitäten und auch glatte Brüche. Vor allem aber durch ungerechte und ungerechtfertigte Blicke späterer Zeiten auf sie. Der programmatische Wunsch der Autorin Renate Krüger, ihre Gegenstände Empfindsamkeit und Biedermeier von Fehlurteilen, von vorschnellen Abwertungen zu befreien, war innerhalb der DDR die unerklärte, vor allem friedliche Kampfansage an offizielle Geschichtsbilder, wobei sie, an beiden Büchern leicht nachweisbar, diese nie grundsätzlich in Frage stellte. Zieht man nach 1990 publizierte Aussagen zu ihrem Lebenslauf zu Rate, dann suggerieren diese vor allem politische Schwierigkeiten: 1955 eine Suspendierung vom Studium, zehn Jahre später ein Verlust der Arbeitsplatzes aus politischen Gründen. Sehr schlimm, das weiß jeder wirklich DDR-Kundige, kann es nicht gewesen sein, das sagen die Fakten.

Wer bis zum Diplom kam, wer promovieren durfte, von wem 21 Bücher und sicher diverse weitere Publikationen, die nie Buch wurden, die Kontrollinstanzen, die Zensur innerhalb des Kleinstaates passierten, der war auf keiner wie immer zu denkenden schwarzen Liste. Das ist, sehr ausdrücklich sei es erwähnt, kein Vorwurf gegen Renate Krüger. Den hätte ich eher gegen ihr 1996 erschienenes Büchlein „Aufbruch unter Diktaturen“, das allzu deutliche Zeichen des Dienstes an Überzeugungen der Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern trägt, die es in ihrer Reihe „Landeskundliche Hefte“ erscheinen ließ. Da stören weniger die sich häufenden Druckfehler als die tendenziell immer wieder aufscheinenden Gleichsetzungen der einen mit der anderen Diktatur: Blauhemden waren eben keine anderen Braunhemden, die FDJ hatte anders als die SA eben keine Sturmlokale, in denen Andersdenkende zu Tode geprügelt wurden und so weiter und so fort. Es verkleinert das Unrecht in der DDR nicht, wenn man einräumt, dass nicht ununterbrochen und überall Unrecht am Wirken war. Dagegen stimmt es nachdenklich, wenn Renate Krüger behauptet, mit 14 Jahren ganz allein ihren Gang zur Oberschule beim Schulrat erwirkt zu haben. Ging das so?

„Fahndungen“ hieß ein Buch des Berliner Union Verlages aus dem Jahr 1975, Untertitel „22 Autoren über sich selbst“. Der Hausverlag der DDR-CDU bot damit immerhin neun schreibenden Frauen Gelegenheit, sich zu sich selbst zu äußern, noch heute eine imposante Quote, rückblickend fast etwas wie ein Meilenstein. Ich nenne einmal die Namen der Autorinnen, weil keineswegs alle zu bleibendem Ruhm gelangt sind: Barbara Faensen; Elisabeth Hering, Erna Hedwig Hofmann, Christa Johannsen, Hanna Heide-Kraze, Anneliese Probst, Rosemarie Schuder, Tine Schulze Gerlach. Und eben Renate Krüger. Elisabeth Hering war in den Regalen meiner Eltern mit nur einem Band weniger vertreten als Krüger: zehn Bücher, vor allem aus dem Leipziger Prisma-Verlag, standen da beieinander. „Fahndung“ bot ein auch in der lebendigen Druckfehlerwelt eher seltenes Beispiel: aus dem richtigen Titel „Paradiesgärtlein“ im Inhaltsverzeichnis wurde im Buch auf Seite 259 „Paradiesgärtleni“ in der Überschrift. „Paradiesgärtlein“ ist zudem Titel eines 2008 veröffentlichten e-books. Stabile Verlagsbindungen waren nach 1989 für ehemalige DDR-Autoren eher Ausnahme als Regel, Ausnahme machten häufig linke Kleinstverlage, die „Namen“ brauchten.

1975, als Renate Krüger sich mit „Paradiesgärtlein“ vorstellte, lagen bereits zehn Bücher von ihr vor, darunter der Rembrandt-Roman „Licht auf dunklem Grund“, der Holbein-Roman „Der Tanz von Avignon“. Der Cranach-Roman „Malt, Hände, malt“ und „Jenseits von Ninive“ erschienen 1975 quasi parallel. Mein antiquarisches Exemplar der „Fahndungen“ war einst Weihnachtspräsent für einen treuen Mitarbeiter der CDU und seine gute Arbeit als Ortsgruppenvorsitzender. „Ich verrate es gleich am Anfang:“, schrieb Krüger, „Ich besitze keinen Garten und kann auch nicht sachverständig über englischen Rasen, Stangenbohnen und Rosensorten sprechen.“ Und kündigte trotzdem sofort an: „Dennoch werde ich einmal einen Garten haben, wenn ich nicht mehr unterwegs sein muss, später, wenn es mir genügen wird, das Anderswerden der Welt auch auf einem kleinen eingehegten Ausschnitt Erde zu beobachten und zu fördern. Jetzt bin ich noch in zu vielen Gärten zu Hause.“ Und sie nennt einen, den sie gar nicht aus eigener Ansicht kennt, sondern nur aus einem ungarischen Buch: „... es war ein Höhepunkt meiner Lektüre in den letzten Jahren“. Branchenüblich ist solch Bekenntnis zu einem Gartenbuch eher nicht, allenfalls, wenn es eine Provokation sein soll.

Krüger verwahrt sich gegen den möglichen Vorwurf einer Nähe zu Blut-und-Boden-Mystik, den ihr vermutlich selbst hartnäckige Ideologen nie gemacht hätten in der DDR, stattdessen ist Liebe zum Garten für sie „Fortführung wertvollster Tradition, in der sich wie in kaum einem anderen menschlichen Bereich Friedenssehnsucht und Friedenswille äußern.“ Die Bewegung „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“ war 1975, wenn ich mich recht erinnere, noch nicht ins Leben getreten. Mir wäre, wenn man mich gefragt hätte, eher der Postbeamte Emil Pelle eingefallen mit seiner Laubenlandparzelle: „Ferientag eines Unpolitischen“ hieß das Gedicht von Erich Weinert, das in der Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern wohl nicht an den Bürowänden hing in graphischer Schmuckausgestaltung. Renate Krügers Buchgarten fand sich auf der Balaton-Halbinsel Tihany, sie zitiert einen überaus frommen Wunsch der Autorin Ilona Kéry: „Und vielleicht erreiche ich damit, dass auch ein anderer einmal versucht, wie ich einen Garten anzulegen, weil es ewige Sehnsucht und ewiges Ziel ist, die Wüste in einen Garten zu verwandeln.“ Wir wären heute schon zufrieden, würden sich Wüsten nicht immer weiter ausbreiten.

Das „Paradiesgärtlein“ ist natürlich auch und eher ein Objekt der Kunstgeschichte, womit die Kunsthistorikerin Krüger sich wohl im Zentrum ihres Dissertationsgegenstandes bewegt. Es ist ein Tafelbild aus dem Jahr 1410, von einem oberrheinischen Meister gemalt, dessen Name nicht überliefert ist. Sie geht dann weiter zu einem Garten in Kestely am südlichen Ende des Balaton, „in dem ich manchmal las und schrieb“. Ungarn und die damalige CSSR waren bevorzugte Reiseziele der Schriftstellerin, sehr viele Alternativen hatte der DDR-Reisende zwar nicht, dennoch fühlten die meisten, die nach Ungarn reisten, keinen Phantomschmerz. Sie waren vor Ort eher abgestoßen vom arroganten Verhalten westdeutscher Touristen, die den Anschein erweckten, als gäbe es an Ungarn nichts Besseres als die Grenze zu Österreich, hinter der Zivilisation und essbares Essen warteten. „Wir brauchen die starken Widerstände des Lebens, den harten Umgang mit den Dingen.“ Die Frage ist aus später Sicht, wozu wir sie brauchen: unser Ich zu entfalten, Persönlichkeit zu werden und zu bleiben, oder um Stoff zum Jammern in späteren Zeiten zu haben, wenn geschichtsnotorisch Zeitenwenden anfallen. „Ludwigslust. Eine kulturhistorische Skizze“ erscheint 1970 ankündigend.

Nicht nur ankündigend natürlich, aber wie eine Vorarbeit zu „Das Zeitalter der Empfindsamkeit“. Dies erschien ihr als jene fruchtbare und zugleich widersprüchliche Strömung des späten 18. Jahrhunderts mit ihrer Werther-Begeisterung, Mondscheinelegie, Ruinenromantik und Ironie. Vernünftig und empfindsam – diese bürgerlich-selbstbewusste Devise jener Epoche kennzeichnet auch eine Schicht meines Wesens und Charakters.“ Schweriner Gärten prägten ihre Kindheit. „Schwerin empfand sich als Vorort von Hamburg und gefiel sich in den gleichen Hamburgereien, über die sich Theodor Fontane in „Frau Jenny Treibel“ lustig gemacht hat.“ Renate Krüger redet 1975 der „Erfahrung des begrenzten Genusses“ das Wort, sie verweist auf ihren Rembrandt-Roman und hebt den Zeigefinger: „Unser befreiter Grund und Boden bleibe frei von jeglichem Missbrauch, sei niemals mehr Objekt der Habgier, der Spekulation, Mittel der Ausbeutung, verwüstet durch Bombentrichter, von Kriegsbränden versengt. Möge unsere Gesellschaft sich mehr und mehr auch der Gärten annehmen!“ Wenige Jahre später wurde der Boden wieder Objekt der Habgier und die Landeszentralen für Politische Bildung halfen nach Kräften, auch das als Freiheit zu verstehen.

Ob Renate Krüger, als sie nach 1989 zum Mitarbeiterstab des Schweriner Landtagspräsidenten stieß, Sätze erklären musste wie: „Eine Gartengesellschaft – auch das ist ein Aspekt unserer befreiten Gesellschaft, in deren Händen die Verantwortung für die befreite Erde liegt.“, wird sich kaum noch prüfen lassen. „Das Zeitalter der Empfindsamkeit“ beschloss Krüger mit einem Kapitel zu Goethes „Der Triumph der Empfindsamkeit“: „So verständlich und berechtigt auch Goethes harte, mitunter bissige Kritik am Zeitalter der Empfindsamkeit ist, so darf man dennoch gewisse entwicklungsfördernde und somit positive Tendenzen dieses Zeitalter nicht unterschätzen oder ihre Bedeutung herabsetzen.“ Immerhin, Goethe empfahl als empfindsamen Begeisterungsruf diesen: „Ach, was das für einen besonderen Effekt auf mich macht!“ Ich kann mir nicht helfen: die heutige Dauerfrage aller Dauerfragen: Was macht das mit mir? ist offenbar eine späte Nachgeburt jener Ichfixierung aus Zeiten der Tränenseligkeit, als alle Briefpartner immer allen Briefpartnern sofort mitteilten, bei welcher Gelegenheit sie zuletzt vor Rührung über sich selbst (nebst Welt) fast wieder zerflossen seien. Krügers Buch ist auch ein Muster ganzheitlicher Betrachtungsweise: wie nebenher.

In „Biedermeier“ schreibt Renate Krüger:„Man wird dem Biedermeier nicht gerecht, wenn man diese Zeit aus der Sicht der voraufgegangenen Klassik und Romantik beurteilt.“ Man könnte auch lesen: Man wird gar keiner Zeit gerecht, wenn man sie und ihre Phänomene von Gipfelpunkten her sichtet und beschreibt. Von Goethe her, das wissen inzwischen auch Altakademiker, bleibt das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Ende allenfalls mild hügeliges Jammertal mit deutschen Mittelgebirgen namens Fontane oder eben einzelnen Brocken a la Keller, Heine, wahlweise XY. „Im Biedermeier entsteht auch Unternehmergesinnung, das Leistungsdenken.“ Was 1979, im Jahr des Ausschlusses von neun Berliner Schriftstellern (keine Schriftstellerin dabei) aus ihrem Verband, in der DDR niemanden hellhörig machte. „Das Biedermeier ist weder glückliche Insel, die zur Vergangenheitsflucht einlädt, noch spießig-kleinkariertes Philisterparadies, immer wieder zum Prügelknaben für Spottlustige geeignet. Es ist voller Leben und somit voller Widersprüche, deren genauere Kenntnis in jedem Fall eine Bereicherung bedeutet.“ Neben der Seite, auf der das steht, zeigt der Band das mit Öl auf Kupfer gemalte Bild „Brunnenpromenade in Marienbad“ aus dem Jahr 1836 von August Rentzell. Das macht mir, wenig rational, gebe ich zu, das Buch sympathisch.

Dass in einem Biedermeier-Buch auch der Staatskanzler Fürst Metternich Platz beansprucht, dessen ellenlanger voller Name mir Teilnehmer einer Führung durch seine Privaträume im Schloss Königswart nahe Marienbad noch frisch in den Ohren klingt, versteht sich. Heute spielt keine Kapelle einen Tusch, wenn er Symbolfigur der Reaktion genannt wird, wie es Renate Krüger noch ganz brav tat. Auch er lebte das von ihr genannte Leben voller Widersprüche, dessen Kenntnis Bereicherung bedeutet. Ebenso sie selbst: wie sonst? In „Tanz in der Schlinge“ (1997) hat sie ihre jungen Jahre erweitert noch einmal aufgegriffen, „Herbst des Lebens. Betrachtungen über das Alter“ (2011) war ihr allerletztes Buch. Wikipedia weiß, dass sie 2016 die Ansgarmedaille des Erzbistums Hamburg und den Siemerling-Sozialpreis der Dreikönigsstiftung Neubrandenburg erhielt. Zum Wert dieser Würdigungen weiß ich nichts zu sagen, hörte bisher nie von ihnen. Von Neubrandenburg weiß ich, dass es zu Zeiten von Joachim Wohlgemuth, Helmut Sakowski und Brigitte Reimann gern das Weimar der DDR gewesen wäre. Schwerin war da noch ein ganz anderer Bezirk, im Schloss versammelten sich Poeten zum Seminar, kein Landtag und seine Abgeordneten.


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