Günter Caspar 100
Als ich das Büchlein „Ansichten eines Bücherfressers“ endlich las im Sommer 2010, war mir die Identität von Kaspar Borz und Günter Caspar sehr wohl bekannt. Für ganz Begriffsstutzige hatte der Eulenspiegel Verlag Berlin noch die Angabe gedruckt: „Ausgewählt und kommentiert von Günter Caspar“. Vermutlich sollte man „Zur Auswahl. Zum Text“ sowie die Anmerkungen als Kommentar nehmen. Das Büchlein traf aus abgezählt 225 „Bücher-Borden“, so Caspar „Zum Geleit“, eine Auswahl von 157 „Ansichten eines Bücherfressers“, so der Klappentext. Und zwar aus den Jahren 1969 bis 1986. Das Bändchen erschien schließlich 1988 im Umfang von 207 Seiten. Für ein Buch des Eulenspiegel Verlages durchaus nicht Norm und Gewohnheit: hinten ein Register, das auch Personen-Register hätte heißen können, denn etwas anderes als Personen registrierte es nicht. Ich notierte mir damals: „Register ist unvollständig, es fehlen Erwähnungen und ganze Namen: Arnold Zweig zum Beispiel. Krumbholz und Kunert nicht nur einmal im Text.“ Ich war da pingelig und registrierte meinerseits Lücken zwischen den Beiträgen: mal drei Monate lang, mal vier, zwischen August 1976 und August 1977 klaffte gar ein ganzes Jahr ohne Buch-Borz. Den Lückenrekord gab es zwischen Januar 1979 und Mai 1981. Nun Schande über mich: Ich forschte nicht nach Gründen.
Viel mehr als Annotationen sind es oft nicht, was Borz-Caspar da für die „Weltbühne“ zu Papier brachte, mehr Platz war nicht, sollte auch nicht sein, denn es gab ja bei Bedarf genug Raum für längere Erörterungen, die dann eher als Rezensionen oder fremdwörtlich als Kritiken durchgingen. Die „Weltbühne“ hatte ihren eigenen Fanblock, respektive Leser-Stamm, ich reihte mich da erst sehr spät ein und hatte, als der Trägerstaat des Sozialismus auf deutschem Boden seine finale Hinfälligkeit zur Sterbenspraxis machte, einen Stapel von vielleicht 60 Zentimetern Höhe gehäuft. Ich gebe zu, dass Borz nicht das Argument war für mich, fünfzig Pfennige pro Woche zu opfern für das jeweils neue Heft. Aber brav klebte ich, als es soweit war, mir zugängliche Kritiken zu den „Ansichten eines Bücherfressers“ auf kariertes Schulblock-Papier. Deshalb kann ich heute zitieren, was Herren wie Hans Uslar, Wolf Tanner und Matthias Biskupek zu Borz zu schreiben hatten. Mit letzterem stand ich, wie man sagen könnte, in freundschaftlichem Verkehr: er las, was ich schrieb (nie in der „Weltbühne“), ich las, was er schrieb (regelmäßig im „Eulenspiegel“) und wir hatten die eine oder andere Seele in unserer jeweiligen Brust, die gelegentlich und vor allem später sich auch meldete. Von Herrn Tanner vermute ich, dass er ein Borz-Artiger war, also ein Pseudonymer.
Dann wäre, der Abwechslung halber, der Name Brigitte Reimann ins Spiel zu bringen. Reimann-Leserinnen und -Leser können sich, seit Tagebücher, Briefe und Briefwechsel und nochmals Briefe von ihr auf den Markt gebracht werden, anhand der Personen-Register ein handgemachtes Bild von Günter Caspar über die Jahre machen. Es geht früh los und endet mit dem frühen Tod der Autorin. Unterm Datum 22. Februar 1959 schreibt sie: „Leider fühlten sich alle bemüßigt, uns von schiefgegangenen Ehen zu erzählen (jeder im Heim ist mindestens einmal geschieden) und Frau Marchlewska, eine prachtvolle, höchst kultivierte Frau, mit der wir uns befreundet haben – diskutierte mit uns am Abend vorher die freie Liebe und die „Ehe als Lüge“. Die Krone setzte Caspar dann allem auf, freilich erst, als er besoffen war.“ Möge jeder neugierig Gewordene im Tagebuch selbst nachlesen: Reimann blieb im Saufen Sieger und drei Scheidungen schaffte sie bekanntlich in ihrem kurzen Leben auch. Später einmal hat Caspar Reimann des Linksradikalismus bezichtigt, das findet man leicht unterm 21. Mai 1961. „Abendessen mit Caspar, Streit wegen Verlagswechsel … seine Stellung ist gefährdet, jeder abgesprungene Autor wird ihm angelastet“, so steht es unterm 4. August 1965. Nach Mai 1966 fällt der Name Caspar im Tagebuch nicht mehr.
Eckart Krumholz hat, als er ihm im „Sonntag“ vom 20. August 1989 zum 65. Geburtstag gratulierte, einigermaßen nachträglich, man könnte auch sagen, vierzehn Tage zu spät, Brigitte Reimann dementiert: „... er schlürfte Tee, nicht Feuerwasser, was Kleingeister ihm zeitweilig nachklatschten.“ Gut, zu DDR-Zeiten wurden Tagebücher wie die von Reimann nicht gedruckt. Auch Günter Caspar selbst sorgte dafür, dass vermeintlich oder tatsächlich problematische Stellen etwa in den Tagebüchern von Bodo Uhse einfach fehlten. Da mit einer neuen vollständigeren Ausgabe nicht zu rechnen ist („Who the Fuck is Uhse?“), bin ich jedesmal, wenn ich etwas bei ihm suche, neu verärgert über die, mit Verlaub, Scheiß-Zensur in der DDR, die sich ja bei den jeweils betreffenden Mitwirkenden fast immer verheerender als Selbstzensur auswirkte. Und da war Caspar noch einer, der wollte. Erwin Strittmatter hat ihm, lese ich mehrfach, just deshalb den ersten Band von „Der Laden“ gewidmet. Andere, um die er sich mühte, konnten ihm nichts mehr widmen, weil sie tot waren. Caspars eigener Tod am 8. Juli 1999 verhinderte seine geplante große Fallada-Monographie. Krumbholz: „... auf dem weiten Feld der Literatur ist er ein einzigartiger Zeitzeuge, wir verlangen Memoiren.“. Ob die je begonnen wurden, weiß ich nicht, gedruckt wurde nichts.
1984 veröffentlichte der Aufbau-Verlag Berlin und Leipzig das Buch „Über Bodo Uhse. Ein Almanach“, mit Erinnerungen und Aufsätzen, Herausgeber Günter Caspar. Mein später erworbenes Exemplar trägt den Stempel „Rat des Kreises Leipzig. Abt. Kultur. Kreisbibliothek. Ausgesondert“. Ich stelle mir lebhaft vor, wie in Leipzig (und überall) in vorausrasendem Gehorsam rote Bücher, in diesem Falle sogar tatsächlich ein roter Ganzleinen-Einband, aussortiert wurden, um Platz zu machen für Bücher der Freiheit und des Rechtsstaats. Caspars „Erinnerungen an Bodo“, knapp 50 Seiten umfassend, im Juli 1982 entstanden, las ich erst 30 Jahre später. „Bodo trank gern und rauchte ununterbrochen.“ So steht es da, ganz lapidar auf Seite 326: Bodo, nicht Günter. Da steht auch: „Zum Romanschreiben animierte besonders das Jahr 56 nicht.“ Und: „Uhse verzettelte sich auch. Er machte zu viel Kulturpolitik.“ Man hätte, ich hätte so gern so viel mehr gewusst von dem, was Caspar wohl wusste, aber verschwieg. Anders als andere nach 1989 hat er die Katzen im Sack gelassen, konnte oder wollte nicht mehr. Als ich vor 12 Jahren erstmals seinen Wikipedia-Eintrag aufrief, ein spärliches Stück, da gab es seine NSDAP-Mitgliedschaft noch nicht und auch nicht seine Herausgeberschaft für „Du Welt im Licht. J. W. Stalin im Werk deutscher Schriftsteller“.
Zwölf Jahre später ist der Text immer noch dürftig, aktuell 14 Aufrufe in 14 Tagen. An dieser Armseligkeit sind immerhin 24 Autoren beteiligt. Nein, das hat Caspar nicht verdient. Ebenfalls 1984 erschien „Im Umgang. Zwölf Autoren-Konterfeis und eine Paraphrase“. Darin die Arbeiten zu Hans Marchwitza, Franz Carl Weiskopf, Max Schroeder, Willi Bredel, Johannes R. Becher, Hans Fallada, Anna Seghers, Alfred Wellm, Ulrich Becher, Herbert Nachbar und natürlich Bodo Uhse. Die Paraphrase ist ein gehobenes Nachwort zu den vorangegangenen Gelegenheitsarbeiten, wie Caspar sie nennt. Zu Herbert Nachbar zitiert er sich selbst aus einem Interview: „Das ist das Ärgste, was einem Lektor passieren kann: wenn er im Bemühen mitzukonzipieren, dem Autor die Lust am Produzieren vermiest.“ Borzens Bücher-Bord erschien am 30. August 1988 zum 250. Mal. Wolf Tanner vermisste in der Buchausgabe die Nummer 1 vom 15. April 1969. Biskupek, die gute Zunge, vermerkte die falsch beschnittenen Seiten 182/184 in seinem Exemplar, es erwischte „Gotha ist säbelförmig gebaut“ bei ihm. Ich markierte mir auf Seite 101 (zu Walter Mehring) „Mulackstraße sechse“, wo die Kartenhexe dereinst wohnte und das nur, weil ich vier Jahre die Mulackstraße 25 bewohnte. Mein Fallada-Bestand, ansehnlich seit vielen Jahren, signalisiert mir: Caspar sei Dank.