Günter de Bruyn 99

Heute wäre Günter de Bruyn 99 Jahre alt. Das hinzuschreiben braucht weniger Phantasie als für sehr viele andere Autoren. Denn der 1926 Geborene lebte bis zum 4. Oktober 2020, verfehlte seinen 95. Geburtstag also nur um knapp einen Monat. 1989 lehnte er den Nationalpreis der DDR ab, davor gab es für ihn lediglich den Heinrich-Mann-Preis und den Lion-Feuchtwanger-Preis. Nach 1990 prasselten die Preise fast Jahr für Jahr auf ihn nieder, es gab Ehren-Mitgliedschaften, Ehrendoktor-Würden, Ehrenbürgerschaften, durch die Bank Preise renommierter Namenspaten. Für Stipendien und Stadtschreiber-Posten war er da wohl schon zu alt. Lang ist die Liste seiner Bücher, noch jenseits der 90 erschienen neue. Vielen war er längst vor allem der Experte für Preußen und alles Preußische schlechthin. Das war in der DDR alles andere als selbstverständlich, galt Preußen doch lange fast ausschließlich als Schoß, aus dem der Nationalsozialismus kroch. Verbunden mit seinem Namen ist für immer und für mich besonders die Buchreihe „Märkischer Dichtergarten“, die stetig Entdeckungen präsentierte. De Bruyn fungierte als Herausgeber, als Nachwortautor, seine Texte finden sich früher oder später auch in eigenen Büchern. Oft an seiner Seite in der Reihe Gerhard Wolf, der auch allein diesen Dichtergarten bereicherte. Jeder Titel verdiente eine eigene Würdigung.

Weit oben in meinem privaten Lesergedächtnis steht ein kurzer Text mit dem Titel „Der Holzweg“. Er findet sich erstmals in dem Sammelband „Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk“ (Aufbau-Verlag 1974), für die Leser im Westen Deutschlands auch im Fischer-Taschenbuch 11637: „Lesefreuden. Über Bücher und Menschen“. Der Autor geht mit sich und seinem Erstling hart ins Gericht. Es muss unweigerlich als einzigartiger Vorgang in der Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur bezeichnet werden. Retrospektive Selbstkritik ist keineswegs selten, meist aber so, wie Oscar-Gewinner, Gewinner des Silbernen Bären, des Goldenen Löwen davon berichten, wie oft sie bei Aufnahmeprüfungen an der jeweiligen Schauspielschule durchfielen. Ganz ohne die Selbstironie des Erfolgreichen ist er dann doch nicht ausgekommen, man soll darob nicht die Nase rümpfen. Von Günter de Bruyn sind keine frühen Preisgedichte auf Stalin überliefert, die aus dem Autoren-Jahrgang 1926 durchaus auch an kaum vermuteten Stellen auszugraben sind. Aus dem Vor-Jahrgang 1925 ragt auf diesem Gebiet Herbert Otto heraus, der zwischen 1950 und 1952 nicht nur mit „Mutter von Gori, wie groß ist dein Sohn“ die Stalin-Pauke schlug. Jens Gerlach kam von Stalin begeistert aus Hamburg in die junge DDR. Er feierte die Mutter, nicht den Vater Stalins.

Es scheint denkbar, dass „Der Holzweg“ die steile Karriere von „Der Hohlweg“ (551 Seiten) 1974 wie ein kritisches Fallbeil beendete. Noch 1973 erschien eine 8. Auflage, der voluminöse Roman fand bis dahin Verbreitung auch im „Buchclub 65“, der DDR-Antwort auf Bertelsmann. Die Selbstkritik galt schon dem Romantypus: „Denn ich hatte mir einreden lassen, dass ein Roman Entwicklungsroman sein, positiv enden und Totalität geben müsse.“ Von einer eingeredeten Theorie verabschiedet man sich leichter als von einer eigenen, wer aber hat als Debütant schon eine solche. Günter de Bruyn hätte sicher nie nach nur einem Roman die Idee entwickelt, es nun aber möglichst vielen anderen als Wissender zu zeigen. Heute wimmelt es von Schreibwerkstätten, die von Menschen sämtlicher verfügbaren Geschlechter betrieben werden, die eines eint: Sie selbst haben kein einziges wirklich nennenswertes Buch veröffentlicht, wissen aber, wie man erfolgreich wird. „Erst längere literarische Praxis hat mich an das Wunder glauben gelehrt, dass Eigenstes, genau dargestellt, sich als Allgemeines erweist.“ Das bedeutet auch: der schnellere Weg zu diesem Ziel, der darin besteht, sich selbst einfach als Repräsentanten zu sehen, wie es Goethe und Thomas Mann anfechtungsfrei schafften, war ihm verwehrt. Sein Glück 1945 nennt er „das Glück der Anarchie.“

1974 ist sich de Bruyn nicht nur eines Holzweges allein bewusst, er hat sich ebenso die Elemente dieses Weges vor Augen geführt und, ohne das ausdrücklich zu betonen, auch nur überhaupt zu erwähnen, für eine ganze Literatur gesprochen: „Um das Ziel aufzuhellen, wird der Anfang eingeschwärzt.“ Und: „Wenn rührende Versuche gemacht werden, den Klischees durch Umkehrung zu entgehen, zeigt sich nur besonders deutlich das Haften an ihnen.“ Man könnte, ein weithin vergessenes Diktum von Johannes R. Becher variierend, sagen: Das Gegenteil eines Klischees ist auch ein Klischee. Dass „Der Hohlweg“ am Ende wurde, wie und was er wurde, verschleiert der Autor nicht: „Der Grund ist verständlich und verächtlich: Er will gedruckt werden.“ Dass, was viele rückblickend gern und keineswegs ohne Recht behaupten: die Selbstzensur in der DDR-Literatur hätte womöglich die Zensur übertroffen, ist hier schlagend formuliert. Verständlich und verächtlich, auf die Kombination kommt es an. „Ich schrieb über meine Verhältnisse.“ Nicht: ich lebte über meine Verhältnisse. „Noch fehlte mir die Erfahrung, dass nur gut werden kann, was man, sich selbst gehorchend, schreiben muss, nicht, was man will oder soll.“ Wie herrlich viele Bücher wären uns erspart geblieben, hätten ihre Verfasser nur jene geschrieben, die sie wirklich schreien „mussten“.

Günter de Bruyns Wahrheit ist noch heute ziemlich brutal: „Das Bewusstsein des Sich-verkauft-Habens machte die Arbeit zur Fron. Unmerklich trat an die Stelle der Frage: „Ist das die Wahrheit?“ die: „Nimmt man mir das ab?“ Da man sich zum Teil eines Apparats gemacht hatte, dessen Arbeit ganz auf Veröffentlichung gerichtet ist, wurde diese einem selbst zum höchsten Ziel – bis es erreicht war.“ Wie viele Bücher nach den eins bis drei werden geschrieben, weil „man“ nun eben die Berufsbezeichnung Schriftsteller führt? Man sehe sich das Spektrum der Bücher an, das manche Autoren (auch des Jahrgangs 1926) am Ende ihrer Laufbahn vorweisen können: mit Kraut und Rüben ist es ein wenig unfreundlich durchaus beschrieben. Günter de Bruyn hat, behaupte ich mal so vor mich hin, ein in sich stringentes Werk hinterlassen. Passen seine Parodien aus dem Jahr 1966 dazu, der Mitteldeutsche Verlag Halle gab ihnen den Titel „Maskeraden“? Prüfe das jeder für sich. Ich bin völlig begeistert, wenn ich sehe, wie er sich seines wahrhaft fürchterlichen Kollegen Uwe Berger annahm: „Wertvolle Teile der Kritik beachtend, formte der Dichter die Tagebuchnotizen für die Öffentlichkeit um.“ Zwei Blicke in die gedruckten Tagebücher reichen aus, die Treffsicherheit des Parodisten zu erkennen. Auf Berger folgt Siegfried Pitschmann im Schriftstellerheim Petzow.

Mit Vorausblick auf den schon erwähnten Jens Gerlach, dessen Jubiläum im kommenden Jahr sehr viel früher anfällt als das von de Bruyn, zitiere ich den parodierten Pitschmann: „Einfall des Nachts. Jeder auf diesem „Zauberberg“ Weilende müsste ein Tagebuch über die anwesenden Kollegen verfassen. In Jahresbänden könnten diese Aufzeichnungen dann veröffentlicht werden. Ein Kompendium des Gegenwartsliteraturklatsches, eine Fundgrube für künftige Literaturgeschichte!“ Denn Gerlach war von Petzow so fasziniert, dass er am Ende dort sogar begraben sein wollte. Pitschmann wiederum leitet mich sanft zu Brigitte Reimann weiter, war er doch immerhin der zweite von ihren vier Ehemännern. Unter dem 15. März 1965 notierte sie in ihrem Tagebuch: „... lernte Günter de Bruyn kennen, der mir einen vorzüglichen Eindruck machte, ein stiller, blonder, ziemlich hässlicher Mensch, sehr schüchtern. Wir hatten ein friedliches Gespräch und schnell Sympathie füreinander. Er wäre einer, den ich mir zum Freund wählen würde.“ Am 26. April: „Vorhin habe ich mit de Bruyn telefoniert; wir sind für morgen verabredet. … Wir sind beide so schüchtern, dass wir wahrscheinlich nie miteinander zu sprechen gewagt hätten … Wir tranken in dieser halben Stunde schrecklich viel Sekt ...“. Vier Jahre später, 3. Juni 1969, wird sie ausführlich.

Sie erinnert sich an einen stundenlangen nächtlichen Spaziergang mit de Bruyn. „Wir zittern und stottern, wenn wir uns begegnen. … Wir wären am liebsten die ganze Nacht herumgewandert, redend, Hand in Hand.“ Sie nimmt ihn mit in ihre Wohnung. Er gehöre keiner Gruppe an, schreibt sie, halte sich zurück in politischen Angelegenheiten: „Ein Einzelgänger, integer, und auf seine stille Art sehr fest in Meinung und Haltung.“ Auch Lothar Kusche kommt sofort auf das Heim in Petzow, als er sich de Bruyn unter der Überschrift „Species carminativae“ nähert: er kam spät, de Bruyn war schon da. Als er hört, der wohne in der Auguststraße in Berlin, Hinterhof, wird ihm klar, dass er lange Jahre unweit davon, in der Großen Hamburger Straße, zugebracht hatte. Über die wiederum de Bruyn in „Berlin. Ein Reiseverführer“ mit ein paar Druckseiten vertreten ist, leider ohne jede Angabe der Quelle, nur des die Rechte besitzenden Verlages. „de Bruyn war natürlich pünktlicher als ich. Sie sind alle immer pünktlicher als ich.“ Kusche zitiert ihn mit dem Satz: „Es wehte bei uns im literarischen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.“ Und er lobt „Buridans Esel“ in hohen Tönen, den Roman, der unter dem Titel „Glück im Hinterhaus“ von Hermann Zschoche verfilmt wurde, Premiere am 5. März 1980 im Filmtheater Kosmos in Berlin.

Mir ist, ich gestehe es gern, eher Ute Lubosch als Fräulein Broder in Erinnerung geblieben als Dieter Mann in der Rolle des Karl Erp. Der Film weckte damals Erinnerungen an meine Jahre als Bibliothekshilfskraft und meine Rolle als Hähnchen im Korbe unter Frauenscharen diverser Alter. Kusche: „Günter de Bruyn gerät bei seiner Erzählung scheinbar vom Hundertsten ins Tausendste, kehrt in Wahrheit aber vom Tausendsten ins Erste und Wichtigste zurück.“ In den Bänden „Die Eule im Kino“ von Renate Holland-Moritz kommt der Film übrigens nicht vor, man müsste also im „Eulenspiegel“ selbst nachschauen, ob sie damals eine maßgebliche Meinung hinterließ und dann mutmaßen, warum diese nicht zwischen die Buchdeckel fand. „Fragment eines Frauenporträts“ hat Günter de Bruyn seine eigene „Liebeserklärung“ an Christa Wolf überschrieben und mit dem Satz begonnen: „Maler möchte ich sein!“ Und fragt sich schon auf der nächsten Seite: „Doch wie stellt man ein Gesicht dar, das Verwundbarkeit eher verdeckt als spiegelt? Mit welcher Farbe malt man Aufrichtigkeit?“ Vom Porträtisten weiß er: „Als wesentlich sieht er an, was ihm selbst wichtig ist.“ Auch das weiß er: „Ursprung von Intoleranz ist Angst. Man missachtet, unterdrückt andere Meinungen, weil man eigene für gefährdet hält.“ Und das: „Verehrung neigt zur Vereinfachung.“

Uwe Wittstock (70) hat schon zu Lebzeiten ein Geheimnis hinterlassen: Wie konnte Günter de Bruyn 1944 zur Reichswehr eingezogen werden, die es seit 1935 gar nicht mehr gab? Und er tolerierte dessen interessante Begriffserweiterung: „Das Kind blieb in der Diaspora allein, ein Katholik unter Protestanten, ein zum Nationalismus Unfähiger unter Nationalisten, ein Träumer unter Anpassern.“ Sonst griff er ihm unter die Arme bei „Der Hohlweg“: „Es entstand ein dürftiges, pathetisches Machwerk über den windungsreichen Weg einiger Jünglinge bis zum Marxismus.“ de Bruyns Kurzprosa erkannte Wittstock als an Hemingway, Böll und Wolfdietrich Schnurre geschult. „Um das, was sich hinter den Fassaden verbirgt und gewöhnlich unsichtbar oder unausgesprochen bleibt, geht es de Bruyn in fast allen folgenden Arbeiten.“ Was aber dürfen wir uns darunter vorstellen: „Seine poetischen Ausdrucksmittel handhabt er mit viel redlichem Geschick.“ Das korrespondiert, mit toxischer Beimengung, wie man heute sagen müsste, mit einer vorherigen Aussage: „de Bruyn ist alles andere als ein Avantgardist.“ Dessen, behaupte ich mal, sollten wir uns reinen Herzens freuen, denn wäre es anders, bliebe sein Ruhm in den Literaturgeschichten wie hinter Fassaden verborgen, unsichtbar und trotzdem ausgesprochen. Ein Jahr noch bis zur 100!


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