Arthur Schopenhauer 225

Hätte 1968, als ich fünfzehn Jahre alt war, mein Vater die Frage an mich gerichtet, ob ich die Goethe-Schule in Ilmenau besuchen und dann studieren wolle oder lieber mit ihm zwei Jahre durch die Welt reisen, ich hätte keine vier Sekunden gezögert und geantwortet wie weiland Arthur, der junge Schopenhauer. Der zog das Reisen umstandslos vor, weil er nicht unbegründet davon ausging, das Schulwissen ginge ihm schon nicht verloren. Wer sich den „Vom Unterschied der Lebensalter“ überschriebenen Schlussabschnitt im ersten Band von „Parerga und Paralipomena“ vornimmt, in dem Schopenhauer gar nicht so pessimistisch, nicht einmal ansatzweise grämlich gar, von den Phasen im Leben (im Männer-Leben, zugegeben) schreibt und ihren wesentlichen Inhalten, der wird staunen, wie begründet die frühe Entscheidung des potentiellen Schülers doch war.

Schieben wir die Erörterung der Frage, ob ein Buchtitel wie „Parerga und Paralipomena“ heutigem Verlagsmanagement eher Ohnmachts- oder eher Tobsuchtsanfälle verursachen würde, auf die lange Bank, an deren hinterem Ende sich eine Falltür befindet. Schon Schopenhauer, dem aus dem Hause Brockhaus lange gleichbleibend Umsatzkatastrophen vermeldet wurden sowie der Ein- und Übergang von Auflagenteilen in Altpapier und Makulatur, wusste mit mäßiger Resignation für sich zu registrieren, dass die Ankündigung der Memoiren von Lola Montez englischen Verlagen mehr Vorschuss entlockte als ein fertiges Buch Erfolgshonorare. An solchen Prioritäten im Buchmarkt hat sich bis heute nichts geändert, allenfalls die Zahl der Lola-Montez-Figuren hat sich explosionsartig vermehrt, während die Zahl der Philosophen, die Vorlesungen ankündigen, obwohl nie Studenten zu ihnen kommen, dann doch eher überschaubar geworden ist. Der heutige Privatgelehrte mit in Rudolstadt geschriebener Dissertation würde sich am Donnerstag die ZEIT kaufen mit ihren je sechshundert offenen Professuren zwischen Sylt und Zugspitze.

Arthur Schopenhauer hatte einen gut situierten Vater mit dem zweiten Vornamen Floris, der als erstes Pseudonym von Hofmannsthal später gar literarisch wurde, und eine Mutter Johanna, die ihn schließlich mehrfach enterbte, aber dennoch Sorgen in sich nicht unterdrücken konnte, als sie von Gesundheitsproblemen des in die Jahre gekommenen Knäbleins vernahm. Es sind hübsche Zänkereien zwischen Johanna und Arthur überliefert, damit nicht nur die Philosophie-Historiker etwas „Butter bei die Fische“ tun können, wenn sie mal über den letzten Systematiker der deutschen Philosophie, den Rationalsten aller deutschen Irrationalisten (Ludwig Marcuse über Schopenhauer) Lesbares zu Papier bringen müssen. 19.000 Taler fielen an den eben Volljährigen, nachdem der nämliche freigebige Heinrich Floris auf eine Weise aus dem Leben geschieden war, die Selbstmordverdacht auf sich zog. Sohn Arthur hat auch den Selbstmord thematisiert in seinem Werk, wie man ohne viel Verwunderung festhalten darf.

Zu den dämlichsten Scherzen über Arthur Schopenhauer gehörte noch zu meiner Studentenzeit die fallenstellerisch gemeinte Frage, wieso sich einer, der die Welt so radikal negativ sieht, nicht selbst umgehend und lachend aus ihr entfernt. Bis zur Frage, wieso ein Frauenverächter eine Dresdner Kammerjungfer schwängerte, drang unsere marxistisch befeuerte Schlaumeierei dazumal nicht vor, unsere Kenntnisse über Kammerjungfern waren unseren Kenntnissen über knackige FDJ-Sekretärinnen klar unterlegen, letztere trugen spätestens 1968 auch die deutlich kürzeren Röcke. Meine private aus Kenntnismangel gespeiste Verunsicherung in Sachen Schopenhauer lebte noch 1988 in weitgehender Unschuld fort. Da war ich zwar geneigt, wo immer es ging, für den vorurteilsarmen Umgang mit Männern wie Schopenhauer auch öffentlich zu plädieren, es mangelten mir aber gescheitere Argumente. Auch deshalb zitiere ich anschließend hier komplett, aber nicht separat für ALTE SACHEN, was am 12. März 1988 in NEUE HOCHSCHULE (31. Jahrgang, Nummer 5, Seite 4) unter der Überschrift „Schopenhauer ??“ von mir zu lesen war.

„Hätte Arthur Schopenhauer weiter nichts der Nachwelt hinterlassen als seine meisterhafte Übersetzung von Balthasar Gracian's „Hand-Orakel“ aus dem Spanischen (in der Sammlung Dieterich bei uns erschienen) – sein Bild könnte wohl über dem Schreibtisch eines jeden Übersetzers hängen und wehmütige Blicke auf sich ziehen. Franz Mehring aber schrieb 1908: „... es ist so undenkbar wie unmöglich, daß, wer immer in Reih und Glied des proletarischen Klassenkampfes steht, anders als mit sozusagen leidenschaftlicher Abneigung auf das Lebenswerk des Mannes blicken wird, der unter den Philistern ein Philosoph war, aber ein Philister unter den Philosophen.“ Mit der 200. Wiederkehr des Geburtstages von Arthur Schopenhauer am 22. Februar 1988 hat die Frage einen aktuellen Anlaß, ob Franz Mehring Recht behalten hat. Die Antwort kann nur lauten: JA. Doch heißt leidenschaftliche Ablehnung keineswegs Ignoranz, und das nicht nur, weil die lang anhaltende und sich in jüngster Zeit sogar massiv verstärkende Schopenhauer-Rezeption innerhalb der bürgerlichen Ideologie hellhörig macht.

Arthur Schopenhauer ist ein Klassiker der indirekten Apologetik des kapitalistischen Systems, das Grundmodell seiner Weltanschauung hat sich als unverändert lebensfähig erwiesen für alle, die mit der allgemeinen Krise des Imperialismus leben wollen, in kritischer Distanz, aber ohne den Willen zur wirklichen Veränderung. „... sicherlich gehört Schopenhauer zu den größten Prosaikern der deutschen Sprache, und an solchen Prosaikern sind wir nicht so überreich, daß wir ihn ganz zum alten Eisen werfen dürften, weil seine Ideen uns aufs äußerste widerstreben“, schrieb Franz Mehring ebenfalls 1908. Und auch: „... man ärgert sich an keinem unbedeutenden Gegner.“ Das gilt noch immer, und es kann ein äußerste produktiver Ärger sein.“

Muss ich mich nun schämen, weil ich scheinbar dem Mehring so folgte wie ein Hündlein an der Leine? Natürlich nicht. Es gibt ganze Heeresgruppen in der deutschen Geschichte, die unendlich viel blöderen Blödköpfen willig nachgeschwafelt haben und nachschwafeln, als Mehring in seinen blässesten Werken je einer war. Allein der proletarische Hochmut, mit dem zu DDR-Zeiten sich SED-Selbstmord-Kandidaten wie Hans Koch über Mehring schwangen, macht posthum jedes Mehring-Zitat schon fast wieder zur Subversion. (Was mir damals freilich kein vordergründiges Motiv war, das als Klarstellung.) Und der Säulenheilige von DDR-Liberalität, der mit seinem „Deutschen Lesebuch“ zu zeigen hatte, wie herrlich weit wir es gebracht, ich rede von Stephan Hermlin, der verkniff sich den Schopenhauer trotz Mehring noch 1988 in der Reclam-Neuausgabe seiner Anthologie, während das ebenfalls bei Reclam erschienene „Deutsche Lesebuch“ von Hofmannsthal ganz unabhängig von Mehring Schopenhauers „Von dem, was einer ist“ aufnahm.

In den Jahren 1980 bis 1985, als ich an meiner fortschrittstheoretischen und fortschrittstheoriegeschichtlichen Doktorarbeit bastelte, wie man das heute nennt, rein systematische wissenschaftliche Arbeit war allein wegen des radikalen Literaturmangels, dem über umständlichste Fernleihaktivitäten notdürftig zu begegnen war, kaum möglich, stieß ich irgendwann auf den verblüffenden Umstand, dass eine der berühmtesten Passagen von Karl Marx zum Thema Fortschritt, jene vom Nektar und den Schädeln Erschlagener aus dem noch berühmteren „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1859. einem Schopenhauer-Passus aus den „Kleinen Schriften“ so auffallend ähnelte, dass es kein Zufall sein konnte. Von meiner Entdeckung wollte niemand hören, zumal sie marxseitig nicht beweisbar war und nur die Wahrscheinlichkeit dafür sprach, das wohl eher der 1818 geborene Marx bei dem 1788 geborenen Schopenhauer als umgekehrt abgeschrieben haben könnte. Vermutlich ist meine Entdeckung gar keine mehr oder schon damals keine gewesen, weil irgendwo irgendwer auch drauf gekommen ist. Immerhin.

Heute würde ich in alter Scheinheiligkeit über Schopenhauer und Goethes Farbenlehre schreiben, wenn ich den Gliedern des proletarischen Klassenkampfes etwas um die Ohren zu hauen hätte, aber inzwischen hat der proletarische Klassenkampf sich freien Zugang zu Lola-Montez-Biographien erkämpft, was seine Ideologen gern friedliche Revolution nennen. Schopenhauer behauptet, was mir heute unendlich sympathisch klingt: „Daher kommt, wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Werth nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unseres eigenen Wesens hervor, und können keine Pestalozzische Erziehungskünste aus einem geborenen Tropf einen denkenden Menschen bilden: nie! er ist als Tropf geboren und muß als Tropf sterben.“ Kurt Tucholsky würde vielleicht ergänzen: „Sozialdemokrat sein heißt, den Tröpfen die Illusion zu vermitteln, es sei anders.“ Bis sechzig war Schopenhauer ein weitgehend unbekannter Mann. Das tröstet keinen, der 1953 geboren ist, im Jahre 2013.

„Bisweilen glauben wir, uns nach einem fernen ORTE zurückzusehen, während wir eigentlich uns nur nach der ZEIT zurücksehnen, die wir dort verlebt haben, da wir jünger und frischer waren.“ Schopenhauer wusste wovon er sprach. „... so wird man sein Alt- und älterwerden daran inne, daß Leute von immer höheren Jahren Einem jung vorkommen.“ Wer das in umgekehrter Erfahrungsrichtung genießen möchte, reise zu Wellness-Zwecken nach Bad Kissingen. Unter Damen, die fast so alt sind wie Arthur Schopenhauer heute, wirkt man mit 60 wie ein sechs Wochen alter Säugling, Herren des Schopenhauer-Alters sind tunlichst längst verstorben. Auch für die Klassenkämpfer hat übrigens Schopenhauer den Kommentar zum jeweiligen Armutsbericht der Bundesregierung geliefert: „Die Abnahme der Körperkräfte schadet wenig, wenn man ihrer nicht zum Erwerbe bedarf. Armuth im Alter ist ein großes Unglück. Ist diese gebannt und die Gesundheit geblieben, so kann das Alter ein sehr erträglicher Theil des Lebens seyn.“

Als der Erfolg Arthur Schopenhauer nach einer langen Verfolgungsjagd dann doch endlich eingeholt hatte, schrieb der an den Verleger Brockhaus: „... noch sehr viele Jahre hindurch wird mein Ruhm wachsen, und zwar nach den Gesetzen einer Feuersbrunst.“ Es gibt krassere Beispiele von Bescheidenheit, warum aber sollte einer, der weiß, was er wert ist, so tun, als wüsste er es nicht? Arthur Schopenhauer war am Ende seines Lebens in der Situation, dass er einen Pudel mit sich führen könnte, der auf den Namen „Mensch“ hörte. Gut möglich, dass das seine besonders diffizile Replik auf des Pudel's Kern war, dessen Verfasser den jungen Mann mehr schätzte als sehr viele andere Männer. Und das wohl keinesfalls nur, weil Mutter Johanna in ihrem Weimarer Salon die erste war, die der „dicken Hälfte“ Christiane Goethe unbefangen gegenüber trat. „Wer aber bin ich denn? Der, welche die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom großen Problem des Daseins eine Lösung gegeben...“. Wesentlich mehr muss man in der Tat nicht vollbringen, wenn man eine Spur von seinen Erdentagen zu hinterlassen gedenkt. Wesentlich weniger freilich auch nicht.


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