Friedrich Hebbels Wort über das Drama

Zum Glück für alle Jubiläumsfreunde gibt es in diesem Jahr gleich zwei mit Friedrich Hebbel. Wer also noch leicht benommen seinen Wieland eben abgeschüttelt hat, um nach einem verschämten Abstecher zu Otto Ludwig auf die breite Heerstraße namens Jean Paul einzubiegen, schon im Tunnelblick den Georg Büchner im Visier, seitlich von Richard Wagner bedrängt, der darf den heutigen zweihundertsten Geburtstag Hebbels mit einem überraschten „Ach ja, der auch!“ quittieren und alle Versäumnisse bis fast zum Ende des Jahres noch in Ruhe nacharbeiten. Am 13. Dezember 1863 starb Hebbel, drei Monate, bevor er einundfünfzig Jahre alt geworden wäre. Es ist also der 150. Todestag eines zu früh Verstorbenen die zweite Hebbel-Chance des Jahres.

1836 hat Friedrich Hebbel eine kleine Novelle geschrieben mit dem Titel „Anna“, veröffentlicht wurde sie erst elf Jahre später in der Wiener Zeitschrift „Der Salon“. Hebbel erzählt darin von einer jungen Magd, die sich mutig und selbstbewusst wehrt gegen Nachstellungen und Anzüglichkeiten ihres Dienstherrn, des Freiherrn von Eichenthal. Rachsüchtig wie das letzte abgewiesene Männchen unter Testosterondruck mobbt er das Mädchen, indem er ihr das fröhliche Singen in der sonntäglichen Küche verbieten will, was sie wiederum zu einer folgenreichen Unbedachtsamkeit provoziert. Sie wirft eine Suppenterrine zu Boden, was ihr nicht nur gleich mehrere Ohrfeigen einträgt, sondern auch Ausgangsverbot. Das sonntägliche Tanzvergnügen zur Kirmes ist ihr verwehrt, weil sie Flachs hecheln muss bis spät. Ganz nebenbei erzählt Hebbel, wie sich im Personal des Hauses das Gegenteil von Solidarität mit der Boshaftigkeit des Herrn verbündet und so den Boden bereitet für die nach nur wenigen Seiten sich vollziehende finale Katastrophe.

Dem reizvollen Bezug des Feuertodes der Dienstmagd Anna zum cherubgestützten Überleben des Käthchens von Heilbronn bei Kleist soll hier nicht nachgegangen werden, wenngleich die Versuchung groß ist. Denn Hebbel hat sich eben nicht nur ausführlich zum „Prinzen von Homburg“ geäußert, sondern auch zum „Käthchen“. Ich will zwei bekenntnishafte Stellen aus der Rezension zitieren, weil sie ihren Verfasser kennzeichnen: „... ich gehöre nicht zu den politischen Poeten, die es von der Höhe der Gesinnung herunter den Malern bei Strafe des Hochverrats verbieten könnten, Adler oder Geier zu malen, weil diese Vögel nicht bloß auf Kirchtürmen und Stadttoren, sondern auch auf Wappenschildern auszuruhen pflegen...“. Und: „Es ist lächerlich, obgleich gewöhnlich, eine in sich abgerundete und auf sich selbst beruhende Schöpfung zu verurteilen, weil sie feindlich mit Ideen zusammenstößt, die außerhalb ihres Kreises liegen.“

Wer solche Sätze schreibt, dürfte sich dauernden Interesses erfreuen, wäre da nicht die lebenserhaltende und trotzdem oder gerade deshalb deprimierende universelle Vergesslichkeit des menschlichen Geschlechts. Dass zu DDR-Zeiten solche Sätze nicht in den Lehrbüchern standen, versteht sich von selbst, ob andere Zeiten das besser halten, hängt weniger von den Zeiten als von den Ideen ab, mit denen Schöpfungen zusammenstoßen. Noch ist die Verfassung nicht verabschiedet, die die berühmteste Phrase der Staatsrechtsgeschichte abwandelte in „Die Würde des Kunstwerks ist unantastbar.“ Der Paragraph dürfte durchaus auch weiter hinten stehen, um den Text nicht sofort unglaubwürdig zu machen, wie es der bekannte wegen seines ersten Satzes ja ist. Wer am Montag nicht schon selbst Folgerungen aus Vorgaben ziehen kann, dem sei expliziert: Die Würde des Menschen ist ebenso antastbar wie die Würde des Kunstwerks.

Dieses pessimistisch wirkende Diktum führt direkt zu Friedrich Hebbel hin. Von ihm sagt der Goethe-Experte Ernst Beutler in seinem hübschen Aufsatz „Beppi“: „Hebbel war ein scharfer Denker, der schärfste unter den deutschen Dichtern.“ Von ihm sagt Ludwig Marcuse in „Die Welt der Tragödie“. „Hebbel war kein Denker. Mehr als zerstreute Fragmente eines vagen, nebulosen, unprofilierten Gefühlspantheismus gibt sein Werk nicht her.“ Freunde der zweiwertigen Logik mögen an dieser Stelle gut kantisch überlegen, wie man gleichzeitig der schärfste und gar kein Denker sein kann und damit die Nebenfrage verbinden, ob klugen Köpfen Dummheiten eher erlaubt sein sollen als Dummköpfen. Mir schiene die Dummheit der Dummen kein Exposé für einen Bezahlverlag wert.

„Ein Wort über das Drama“ erschien im „Stuttgarter Morgenblatt für die gebildeten Stände“, einem Zeitungstitel, der heute wohl sämtliche Antidiskriminierungsbeauftragte Deutschlands ihre jeweiligen Wutbürger-Kohorten mobilisieren ließe. Aber das war 1843, als die Ungebildeten, soweit ihnen eine gewisse Selbstreflexion nicht unorganisch war, ihre Unbildung noch bedauerten oder sich ihrer gar schämten und im schlimmbesten Falle sie mit Autodidaktik zu bekämpfen suchten. Heute wird, folgt man linker Medienrhetorik, das ausgestellte Zeugnis der Unbildung in Form der Nichtversetzung in die nächsthöhere Klassenstufe nur noch von so genannten Springer-Journalisten wie Ulf Poschardt verteidigt, was Inhaber des rechten Glaubens wie Christian Füller mit Ekel und Abscheu erfüllt. „Ein Wort über das Drama“ wird von Werkkennern als Einstieg empfohlen, vor Satzlängen zugleich gewarnt. Lange Sätze, schmeicheln wir uns heute, sind kein Zeichen gebildeter Stände mehr, sondern von Arroganz den Analphabeten gegenüber. Wobei der Nachweis, dass Literatur nun auch diese Kompatibilität aufweisen muss, noch nicht schlüssig geführt wurde.

„Die Geschichte ist für den Dichter ein Vehikel zur Verkörperung seiner Anschauungen und Ideen, nicht aber ist umgekehrt der Dichter der Auferstehungsengel der Geschichte“, meinte Hebbel jedenfalls sehr entschieden. „Ich will nur den weitverbreiteten Wahn, als ob der Dichter etwas anderes geben könne als sich selbst, als seinen eigenen Lebensprozess, bestreiten; er kann es nicht und hat es auch nicht nötig...“ Stolz klingt das und ist eine frühe Verzichtserklärung. In seiner zugespitztesten Daseinsform als Verfasser von Lyrik hat der Dichter, möchte man meinen, diese Maxime heute in einem Maße verwirklicht, das wohl selbst Hebbel nicht für möglich gehalten hätte. Das Land ist voller geschlossener lyrischer Parallelgesellschaften, deren Mitglieder sich gegenseitig loben, die Zeitschriften produzieren, die niemand außer ihnen selbst liest, Preise und Stipendien gewinnen, von denen niemand außer sie selbst je gehört hat. Während der Literaturmarkt bis zur Brechgrenze nach Romanen giert und nur Romane hofiert und am liebsten titelseitenfotogene Romanautorinnen vermarktet, halten sich die Dichter marktfern dicht beieinander, weil sie füreinander schreiben.

Friedrich Hebbel regt, das überrascht mich nicht besonders, wie auch immer es um sein Denkertum bestellt war, zum Denken an. Jeder nächste Schritt zu ihm hin hätte die Ausgangspunkte zu erörtern, die er für das Drama, ihm vollkommen selbstverständlich die höchste Kunstform, als grundlegend ansah. Seine Sicht auf die Verfasstheit der Welt, sein Sicheinordnen in die nachhegelsche Periode, sein Umgehen mit dem Jungen Deutschland, seine unbeirrte Überzeugung, auch Goethe und Schiller übertreffen zu können, die Hebbel-Literatur ist voll davon und dennoch zu keinen Endgültigkeiten im Reden über ihren Gegenstand gelangt, wären zu thematisieren. Als „gefährlichstes Geheimnis der Kunst“ jedenfalls bezeichnete Hebbel im Anschluss an sein eher triviales „Aber der Inhalt des Lebens ist unerschöpflich, und das Medium der Kunst ist begrenzt.“ Goethes Aussage, „daß alle ihre Formen etwas Unwahres mit sich führten.“

Auf den Bühnen ist Hebbel weniger präsent, als man seines Ranges wegen vermuten sollte. Doch haben Rang und aktuelle Bühnenpraktikabilität ja nicht zwingend miteinander zu tun. „Die Nibelungen“ nach Hebbel gab es zuletzt in Weimar, davor auch schon als Sommertheater und unter Amina Gusners Regie in Gera: Thüringer Affinitäten. Noch immer am häufigsten wird, glaubt man den Aufführungsstatistikern, „Maria Magdalena“ gespielt, das Stück vom Meister Anton und seiner Tochter (der oben erwähnte Beutler-Aufsatz „Beppi“ handelt von Hebbels Münchner Zeit, auf der das Stück fußt). Jacqueline Kornmüller inszenierte es beispielsweise am Hamburger Schauspielhaus, Jorinde Dröse am Maxim-Gorki-Theater Berlin, Gerhard Willert am Linzer Landestheater, Jens-Daniel Herzog in Mannheim, Anne Lenk in Augsburg. Von den Tagebüchern Hebbels, seinen Briefwechseln, seinen Gedichten ist hier zu schweigen. Und von vielem mehr. Der 13. Dezember freilich bleibt im Kalender angestrichen. Auch deshalb.


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