Zwanzig Jahre vergessen

Am dritten Juli war ein Jahrestag, den ich verschlafen habe. Obwohl ich mir mit großer Ausdauer vorgenommen hatte, ihn auf gar keinen Fall zu vergessen. Für den Weltlauf ist dieser Tag ohnehin ohne Bedeutung, denn nur ich kenne ihn, nur ich profitiere von ihm und es gibt selten Gelegenheiten, die Umstände, die ihn zu dem machten, was er ist,  ausführlicher zu erörtern. Ich habe am dritten Juli 1991 meine letzte Zigarette geraucht, so wie mein Vater dreißig Jahre vor mir, 1961, seine letzte Zigarette rauchte. Nur ein Unterschied blieb zwischen uns, bis er starb: Er hat noch einmal eine, auf Backe, wie Raucher sagen, die sich über Pseudo-Raucher lustig machen, gezogen, in Ungarn, als winzige Fliegen den terroristischen Versuch starteten, den Wein in seinem Glas komplett zu bedecken. Das war fünf Jahre nach seinem Ausstieg und ich habe bis heute Mühe, ihn mir überhaupt rauchend vorzustellen.

Mühe habe ich ebenfalls, mir vorzustellen, dass ich bis 1991 nicht selten noch kurz vor Mitternacht in den „Stern“ nach Unterpörlitz marschierte von meiner Kopernikusstraße aus, um Zigaretten zu kaufen, die es damals noch an Theken gab, wenn der Blick in meine letzte Schachtel nur drei oder vier Stäbchen Rest anzeigte. Ich habe immer gelacht über die Menschen, die mir im Brustton der Empörung mitteilten, sie würden nie auf nüchternen Magen rauchen. Sie waren für mich wie Alkoholiker, die behaupteten, sie würden vor 18 Uhr keinen Schluck zu sich nehmen. Ich habe geraucht, sobald das erste Auge offen war und ich habe geraucht, wenn das vorletzte Auge bereits auf Standby geschaltet hatte, was ich damals nicht so hätte ausdrücken können, weil es den Begriff in meinem Sprachpool noch nicht gab. Aber ich war kein Kettenraucher.

Meine erste Zigarette rauchte ich auf dem Heimweg von Langewiesen nach Gehren als Schüler der achten Klasse, es war ein Heimweg zu Fuß und die Zigarette kam aus dem Automaten, sie hieß Jubilar, die Zehnerpackung kostete eine Mark der Deutschen Demokratischen Republik. Eine Weile rauchte ich Pfeife, bis meine Mutter sie eines Tages einfach in den Kachelofen warf. Ich hatte kein Reservoir an Pfeifen wie echten Pfeifenmänner, nur zwei, eine braune und eine schwarze. Später habe ich bisweilen mit meinem Schwiegervater eine dicke Zigarre geraucht nach den sonntäglichen Klößen. Und ohne Begleitung so genannte Dreißiger mit Mundstück. In der Spätphase der DDR rauchte ich eine völlig unindianische Marke namens Inka, die sehr kräftig war und eine kalkulierte Nebenwirkung hatte. Wann immer mich jemand „anschlauchte“, hielt ich ihm meine „Inka“ vor die Nase und zwölf von elf Schlauchern lehnten grienend dankend ab. So konnte ich alle allein rauchen.

Ich habe zu DDR-Zeiten einen kompletten fabrikneuen Wartburg in die Luft geblasen, wie ich seinerzeit addierte, Karo und Salem gelb eingerechnet, alle ungarischen Menthol-Zigaretten, alle Club, alle alten Juwel, alle Semper, Cabinet und F 6 natürlich auch. Nach dem Hinscheiden der Bulgartabak-Paradiese des Osten stieg ich auf eine Marke um, der man seitens der Konkurrenz Nierenschädigung nachsagte, es waren 25 Stück in einer Schachtel und sie waren preiswert, was man im Westen so preiswert nennt. Ich habe gehustet, bis das Brustbein knirschte und eines Tages musste der Notarzt ran. Es ging mir schlecht. Es ging mir so schlecht, dass ich drei Tage lang keine einzige Zigarette rauchte. Am vierten Tag, es war jener dritte Juli 1991, zündete ich mir liegend eine an. Ich nahm einen Zug, ich nahm einen zweiten Zug und beim dritten hatte ich endgültig das Gefühl, es schmecke unfassbar widerlich. Ich drückte das gute Stück in den Aschenbecher, nach dem Krieg hätte der Rest noch drei Raucher glücklich gemacht.

Ein Gedanke, der mir Tage vorher noch vollkommen absurd vorgekommen wäre, ergriff Besitz von mir: Warum willst du eigentlich wieder anfangen, wo du doch jetzt so schön ausgehalten hast. Ich verabschiedete mich von der letzten weitgehend geleerten Schachtel, die ich noch besaß, ich teilte meiner Frau meinen Entschluss mit, sie folgte umstandslos meinem Beispiel und fortan waren wir ein Nichtraucher-Haushalt. Bis heute verstehe ich nicht wirklich, warum mir die Versuchungen aller Abbrecher, die ich kenne, erspart blieben. Weder juckte es mich bei Kaffee und Bier, noch in Gesellschaft, noch schnüffelte ich je sehnsüchtig den Qualmwolken aus Nachbarschlünden nach. Heute schließe ich Balkontür und Fenster, wenn von irgendwo auch nur ein leises Tabakdüftlein hereinweht. Damals habe ich entrüstet in der Berliner Friedrichstraße ein Café verlassen, als mir die Kellnerin bedeutete, es sei ein Nichtraucher-Café. Damals habe ich, weil die Planwirtschaft trotz wöchentlicher Politbürositzung nicht in der Lage war, die Ostseeküste mit ausreichend Genussmitteln zu versorgen, in einem Urlaub sogar Norton geraucht für sechs wahnwitzige Mark und hundert Millimeter lang. Heute würden sich manche Raucher für diesen Preis wahrscheinlich sogar zum Sozialismus bekennen. Falls der ohne Mauer zu haben wäre.


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