Franz Kafka, 3. Juli 1913

„Wenn ich etwas sage, verliert es sofort und endgültig die Wichtigkeit, wenn ich es aufschreibe, verliert es sie auch immer, gewinnt aber manchmal eine neue.“ Dies ist die zweite von nur drei sehr kurzen Notizen, die Franz Kafka am dritten Juli 1913 in sein Tagebuch schrieb. Dass es der Tag seines 30. Geburtstages ist, war ihm nicht erwähnenswert. Dafür schrieb er deutlich ausführlicher an Felice Bauer, die Verlobte. Er bedankt sich: „Du hast mich so beschenkt. Die Kraft, mit der ich es dreißig Jahre lang ausgehalten habe, verdient die Geschenke, aber das Ergebnis dieser Kräfte, das Dasein, verdient es wirklich nicht.“ Es ist exakt zwei Wochen her, dass er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat. Der betreffende Brief ist auf den 16. Juni datiert, aber bereits einige Tage vorher begonnen worden.

Elias Canetti, Nobelpreisträger des Jahres 1981, der Kafkas Briefen an Felice rund hundert Seiten Essay widmete, kommentierte lakonisch: „Es ist der sonderbarste aller Heiratsanträge.“ Dabei war die entscheidende Frage selbst fast lehrbuchmäßig gestellt: „Willst du unter der obigen, leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob du meine Frau werden willst?“ Die obige Voraussetzung meinte seinen Gesundheitszustand. Doch schließt er an die an sich eindeutige und völlig unmissverständliche Frage sofort ihre knappe Wiederholung an: „Willst du das?“ Fast bedrohlich klingt das und in der Tat offenbaren bereits die kommenden Tage, wie sehr ihn sein eigener Antrag aus dem Gleichgewicht brachte, das er bis dahin mehr oder minder mühselig ausbalanciert halten konnte. Es mag die besondere Magie des runden Geburtstags gewesen sein, die ihn antrieb und dann fast im selben Moment zutiefst erschreckte.

Die erste kurze Notiz im Tagebuch vom 3. Juli 1913 lautet: „Die Erweiterung und Erhöhung der Existenz durch eine Heirat. Predigtspruch. Aber ich ahne es fast.“ 18 Tage später beginnt er seine Tagebucheintragungen mit: „Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, daß du nicht verzweifelst.“ Dieser 21. Juli ist der Tag, an dem Franz Kafka in sieben Punkten eine „Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht“ zu Papier bringt. Kaum ein Kafka-Autor, der an dieser Aufzählung vorbei geht. Denn Kafka bekennt sich zur Angst vor der Verbindung mit Felice Bauer (wie vor jeder Verbindung). Er formuliert es brutal: „... es langweilt mich, Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem, was ich denke, die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit.“ Voller Beredsamkeit entfaltet Kafka eine private Philosophie des Schweigens.

Am 13. August 1913, es ist der erste Jahrestag ihres ersten Zusammentreffens in der Wohnung von Max Brod, ist sich Kafka sicher: „Vielleicht ist nun alles zu Ende und mein gestriger Brief der letzte. Es wäre unbedingt das Richtige. ... Wenn nicht, dann werde ich sie gewiß heiraten, denn ich bin zu schwach, ihrer Meinung über unser gemeinsames Glück zu widerstehn und außerstande, etwas,was sie für möglich hält, nicht zu verwirklichen, soweit es an mir liegt.“ Und am 14. August legt er sich eine Bedingung zurecht, die nun wirklich überrascht: „Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins. Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Junggeselle, das ist die einzige Möglichkeit für mich, die Ehe zu ertragen. Aber sie?“ Wie überhaupt, möchte man von Kafka-Brief zu Kafka-Brief an Felice fragen, hat sie alles ertragen, wie hat sie reagiert, was schrieb sie? Sie war ja als Prokuristin der Carl Lindström AG alles andere als ein Heimchen am Herd, ein Hascherl, das tapfer alle Marotten ihres Herzenskönigs zu ertragen gewillt war. Die 1887 Geborene war in einer Position wie nur wenige Frauen in jener Zeit. Leider hat die alte Felice Bauer fünf Jahre vor ihrem Tod zwar die Briefe Kafkas an sie dem Verleger verkauft, ihre eigenen aber nicht, soweit sie noch vorhanden waren.

Wir sind in einer gar nicht so unvergleichbaren Situation wie der mit den Briefen Goethes an Charlotte von Stein, dessen Monologisieren es freilich schwerer macht, auf das zu schließen, was Charlotte schrieb, als aus Kafka Briefen wenigstens zu erahnen, was Felice tat und antwortete. Das Gesamtergebnis ist bekannt, zwei Verlobungen, zwei Entlobungen, bis zu einer Ehe hat es Franz Kafka nie gebracht in seinem kurzen Leben. An seinem dreißigsten Geburtstag aber, mitten in einem Jahr, das ihm erstmals öffentliche Anerkennung in breitem und zugleich sehr schmalem Maße brachte, schien die Welt, wenigsten die im Brief imaginierte, noch für einige Zeilen in Ordnung: „Nein, wir halten uns also von nun ab fest und legen die Hände ordentlich ineinander.“ Doch schon zwei Sätze weiter heißt es: „ Ich sage nicht, daß ich glücklich bin ... bin vielleicht überhaupt nicht menschlichen Glückes fähig...“.

Elias Canetti hat Kafkas „Kampf gegen die Verlobung“ wenig freundlich eingeschätzt: „Er wird zu einem Advokaten gegen sich selbst, der mit allen Mitteln arbeitet, und es ist nicht zu leugnen, daß diese manchmal beschämender Natur sind.“ Zum Beweis nimmt Canetti genau den Brief, den Kafka an seinem Geburtstag an Felice Bauer richtete: „Aber gleich danach, am 3. Juli, seinem 30. Geburtstag, teilt er ihr mit, daß seine Eltern den Wunsch geäußert hätten, Erkundigungen auch über ihre Familie einzuziehen, und er habe seine Einwilligung dazu gegeben. Damit aber hat er sie tief verletzt...“ In der Tat, den Einsatz eines Detektivbüros gegen die eigene Verlobte, die Ankündigung weiterer „Ermittlungen“ gegen die Familie, das muss man schlucken können. Dass Felice Bauer sich nicht sofort von Kafka und zwar für immer, verabschiedet hat, spricht für sie, für ihn nicht. Letztes Canetti-Zitat: „Wenn es um Errettung vor der Ehe geht, bleibt ihm nur Beredsamkeit gegen sich. Sie ist auf der Stelle als solche zu erkennen, ihr Hauptzeichen ist die Verkleidung seiner eigenen Ängste in Besorgnisse um Felice.“

Oliver Jahraus hat in seinem Kafka-Buch (Stuttgart 2006) das Verhalten Kafkas gegen seine  zweimalige Verlobte Felice Bauer (mit anderen Worten) als eine Art Inszenierung dargestellt, die Kafka unternahm, um sich zu stimulieren und zu motivieren. Jahraus zufolge wäre der Schreibantrieb geringer, die Intensität seines Auslebens schwächer gewesen, hätte sich Kafka nicht letztlich künstlich gegen den selbst gebauten Popanz Ehe erwehrt und diese Abwehrschlacht keineswegs absichtslos in die Länge gezogen. Diese Lesart ist verführerisch: „Probleme wurden nur zu dem Zweck erzeugt, um die Auseinandersetzung mit ihnen unmittelbar in Literatur münden zu lassen. Kafkas Problemerzeugungsmechanismus ist also in Wirklichkeit ein Literaturproduktionsmechanismus.“ Wenigstens in dieser Hinsicht, würde ich ergänzen wollen, ist Kafka allenfalls exemplarisch, keinesfalls singulär.

Im September 1913, es waren seit der allerersten veröffentlichten Kafka-Kritik von Hans Kohn am 20. Dezember 1912 nicht weniger als weitere 14 erschienen, zwei folgten noch im Oktober 1913, schrieb Kafka aus Riva am Garda-See an seinen Freund Max Brod, dem er dessen gedruckten Lobeshymnen beinahe übel nahm: „... das Bedürfnis nach Alleinsein ist ein selbständiges, ich bin gierig nach Alleinsein, die Vorstellung einer Hochzeitsreise macht mir Entsetzen ... und wenn ich mir Ekel erregen will, brauche ich mir nur vorzustellen, daß ich einer Frau den Arm um die Hüfte lege.“ Hundert Jahre nach Franz Kafkas dreißigstem Geburtstag darf milder Zweifel angemeldet werden an dieser seiner leicht angeschrägten Weltsicht.


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