Zum Klassentreffen 2015 in Gehren. Eine kleine Rede

Diese Woche hatte ich einen jungen Mann bei mir in der Wohnung, der mir neue Technik für Computer und Fernsehen installierte. Irgendwann musste er an meinen Rechner, weil er mir zeigen wollte, wie ich die Programme nach eigenem Bedarf umsortieren kann. Das ginge am Rechner viel schneller als mit Fernbedienung am Fernseher. Dann saß er leicht hilflos vor meiner Tastatur und sagte: Man erkennt hier ja kaum noch was, die ist wohl schon älter?

Tatsächlich wusste ich in diesem Moment, wie ich meine heutige kleine Rede anfange. Denn: Sind wir alle nicht in gewisser Weise auch so eine Art Tastatur, auf die schon ziemlich lange und meistens ziemlich kräftig gehackt wurde? Mancher Buchstabe ist fast verschwunden, zwei sogar ganz. Wer aber weiß, wo sich das unsichtbare N, das unsichtbare I verbergen und dass der schwache Querstrich oben das T ist, der kann auf dieser Tastatur prima schreiben.

Liebe Freunde und -dinnen! Vielleicht habt Ihr ein bißchen gestutzt, als Euch die Einladung ins Haus flatterte: Klassentreffen. Ihr habt kurz überlegt, noch kürzer gerechnet und festgestellt, ein rundes Jubiläum gibt es nicht, nicht einmal eine ganz kleine Rundung. 1959 haben wir angefangen, das ist fast 56 Jahre her, 1967 haben wir aufgehört nach alter Zählung, das ist fast 48 Jahre her. Etliche von uns haben bis 1969 weiter gemacht, einige bis 1971, wie ich zum Beispiel. Und dann noch die Überschrift zur Einladung.

„Wir kennen uns – erkennen wir uns auch?“ steht da in etwas fetterer Schrift. Das ist vielleicht nicht der heißeste Werbespot, trifft aber den Kern dessen, was uns heute wohl ein wenig beschäftigen wird. Einige von uns sehen sich am laufenden Meter, einige ab und zu und einige haben sich seit Urzeiten nicht mehr gesehen. Mir geht es bisweilen so, wenn ich einem alten Gehrener begegne, Ihr merkt schon, dass sich das Wort alt fast unvermeidlich einschleicht, dass ich denke: der ist aber alt geworden. Ich will gleich sagen, dass hier nicht umsonst der steht und nicht die.

Ihr müsst euch ja nur umschauen und werdet mir bestätigen, dass auffallend oft sich unsere Mädchen, und jetzt nehme ich das Wort einfach mal, besser gehalten haben als unsere Jungen. Ausnahmen bestätigen die Regel und werden nicht ins Protokoll aufgenommen. Nur dies noch, damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich gehe immer davon aus, dass es anderen beim Blick auf mich ebenso ergeht. So ist es vielleicht eine gar nicht so dumme Idee, wenn anschließend jeder von uns kurz aufsteht und sagt, wer er/sie ist, wie sie oder auch er jetzt heißt und früher hieß, ob noch in Arbeit und mit wievielen Kindern und Enkeln gesegnet. Falls Euch das nicht zu blöd erscheint.

Unser letztes Treffen, das ja gar nicht das letzte war, sondern das vorige, hatten wir, wenn ich nichts verpasst habe, am 21. Juni 1997, also dreißig Jahre, nachdem wir „aus der Schule kamen“, wie das früher so hieß. Meiner Einzahlungsquittung auf das Lauschaer Konto von Brigitte Eichhorn, vielen besser als Brigitte Rauch bekannt, entnehme ich, dass wir 50 Mark bezahlten für alles. Am 31. Januar diesen Jahres habe ich 30 Euro an Regina Hille überwiesen, vielen auch bekannt als Regina Reinhardt. Dass alles immer teurer geworden ist, lässt sich daran leider oder auch zum Glück nicht beweisen.

Dunkel erinnere ich mich an ein großes Foto-Shooting, wie man das heute nennt, ich habe die Bilder von damals offenbar so gut verstaut, dass ich sie momentan nicht finde. Auf alle Fälle war es im „Edelweiß“ in Richtung Möhrenbach, dessen derzeitigen Status wir besser nicht als Symbol für unsere Entwicklung in den 18 Jahren seither verstehen wollen. Also, liebe Freunde und -dinnen! Namens des Organisationsteams freue ich mich über alle, die gekommen sind, nehme zur Kenntnis, dass etliche nicht das Bedürfnis verspürten, uns heute hier zu treffen oder durch gewichtige Gründe verhindert sind. Wie viele sich entschuldigt haben, weiß ich nicht.

Ich trauere um die, die nicht mehr leben, ihre Zahl ist leider gewachsen. Stellvertretend nenne ich Werner Dreßel, der zuletzt nach schwerster Krankheit starb, ich hatte nicht lange davor noch ein langes Gespräch mit ihm in Ilmenau auf dem Weg zwischen City-Kaufhaus und dem Foto-Laden An der Schloßmauer. Stellvertretend nenne ich mit besonderem Grund heute auch Reinhard Escher, denn fast auf den Tag ist es zehn Jahre her, dass er während der Leipziger Buchmesse vom Herztod ereilt wurde, während er seinem Messestand den letzten Schliff geben wollte für den Besuch des Ministerpräsidenten am darauffolgenden Vormittag. Im Escher-Verlag sind meine beiden ersten Bücher erschienen, ich bin also auch ganz persönlich betroffen.

An meine Gehrener Schulzeit habe ich, ich muss es gestehen, viel weniger echte Erinnerungen, als ich gern hätte. Vielleicht geht es Euch da besser. Auch bei den Treffen der ehemaligen Goetheschüler, an denen ich als Abiturient des Jahrgangs 1971 ziemlich regelmäßig teilnehme, alle fünf Jahre muss ich auch dort eine Rede halten, bin ich immer neu erstaunt, was mir andere über mich erzählen und ich längst vergessen habe. Wisst Ihr noch, wann es unsere ersten Zeugnisse gab? Wir hatten ja noch bis 1967 die losen Zettel, die Zeugnishefte wurden später eingeführt. Ich musste nachschauen. Das Halbjahrszeugnis des ersten Schuljahres trägt das Datum vom 9. Februar 1960.

Der erste Satz der Gesamteinschätzung, die es in den ersten beiden Jahren tatsächlich auch schon zum Halbjahr gab, erst ab Klasse 3 nur noch auf dem Versetzungszeugnis, lautete für mich: „Das Verhalten von Eckhard war sehr gut, ließ jedoch in letzter Zeit etwas nach.“ Das Schlusszeugnis hat das Datum 9. Juli 1960. Dort steht: „Sein Verhalten im Unterricht war nicht immer ohne Tadel.“ Drei der ersten vier Schuljahre, die man jetzt wieder Grundschule nennt, hieß meine Klassenlehrerin Rossek, an die Lehrer der Parallelklasse kann ich mich namentlich nicht mehr erinnern. Fräulein Rossek ist erst im vorigen Jahr mit weit über neunzig Jahren gestorben.

Der Klassenlehrer, der sie ablöste und uns aus der „a“ die kommenden vier Jahre ertragen musste, ist Erwin Tesch, den es immer noch gibt, ich las kürzlich einen großen Artikel über ihn in einer Zeitung, für die ich viel später auch einige Jahre gearbeitet habe. Unsere erste Schule steht noch, sie gehört jetzt schon eine ganze Weile dem in den USA lebenden Schauspieler Udo Kier. Der ist am 14. Oktober 70 Jahre alt geworden, das Datum kann ich mir gut merken, weil es der Geburtstag meiner Frau ist, mit der ich nächstes Jahr vierzig Jahre verheiratet bin. Da habe ich Euch gleich noch mein halbes Privatleben mit ausgebreitet.

Man kann übrigens, wenn man Udo Kier als Suchbegriff eingibt, sofort Udo Kier Gehren anklicken und stößt auf ein langes Interview mit ihm in der linken Tageszeitung taz. Nicht immer nennt er den Ort in Interviews, wo seine Schule steht, ab und zu aber doch. Ob das Werbung für Gehren ist, weiß ich nicht. Unsere zweite Schule, in die wir zunächst für einige Fächer wegen der Fachräume und dann ganz wechselten, steht nicht mehr. In gewissen Abständen, wenn ich denn mal in der ehemaligen Dimitroffstraße etwas zu tun habe für meine Mutter, versuche ich mir ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen. Mir fallen immer dieselben Sachen ein, komischerweise.

Zum Beispiel der lange Flur zum Speiseraum mit dem schwarzweißen Steinholz-Fußboden mit den Holz-Bänken rechts. Die Essenausgabe gleich links, die Geschirrabgabe hinten links in der Ecke, die Schiebetür zum Musikraum. In diesem Musikraum hatten wir 1967 unsere erste Klassen-Disko, da blieb die Schiebetür offen. Die Musik lieferte Jürgen Klein, der schon einen Rekorder hatte. Ich hatte nur ein winziges Kofferradio namens „Sternchen“, auf dem man nur Mittelwelle hören konnte. Und war ziemlich neidisch. Wisst Ihr noch, was das war, Mittelwelle? Die bessere Musik kam auf dem Soldatensender, oder auf dem Freiheitssender 904. Gottchen, heute kann ich via Internet mehr als 4000 Radiosender hören, einer bringt nur die Beatles rund um die Uhr, einer nur die Stones, und wahnwitzige 22 Sender Blues.

Oben drin war der Hort, ganz oben eine Hausmeister-Wohnung und der Hausmeister, an den ich mich erinnere, hieß Drehmann. Der andere Hausmeister hatte sogar ein eigenes Häuschen am Schulhof, beide trugen immer diese blauen Kittel, immer wie frisch gewaschen der eine, immer wie heftig gebraucht der andere. Unser Klassenraum hatte neben den Fenstern zur Straße hinten auch eines in Richtung Straßenmeisterei. Was haben wir dort, wenn wir keine Lust auf den Unterrichtsstoff hatten, mit unserem Erwin über den Vietnamkrieg diskutiert. Mit keinem Thema konnte man ihn besser ablenken. Ob es so etwas heute noch in Schulen gibt, weiß ich nicht. Ich erinnere perfekte Tafelbilder in Geschichte mit Herrn Oßmann aus Grafinau-Angstedt. Ich erinnere den Direktor Ratzke, der gern die Kartoffelsuppenfrage stellte und manchmal einschlief, wenn wir eine Klassenarbeit schrieben. Und Herr Mierzwa immer im weißen Kittel.

Nur eine Geschichte will ich noch ins Gedächtnis rufen, ehe ich langsam aber sicher zum Ende komme, denn bestellt ist eine kurze Rede. In jenem wilden Eiswinter 1962/1963, der es später sogar in Dokumentarfilme geschafft hat, hatten wir unseren Unterricht nicht in der Schule, weil Kohlen gespart werden mussten, sondern im Speiseraum des VEB Kunstglas am Ententeich. Die Wirtschaft sollte nicht erlahmen und geheizt wurde für die Arbeit sowieso. Es gab einen wunderbaren Platz hinterm Schornstein, wo man nicht gesehen wurde und wir durften den Schlitten mitbringen.

Weil wir nun schon einmal hier oben auf der „Carl-Marien-Höhe“ sind, frage ich Euch abschließend, ehe wir zum gemütlicheren Teil des Abends übergehen: Seid Ihr auch manchmal hier vom Schirmchen runter mit dem guten alten Hörnerschlitten gerast? Wie tief konnte man da in Schneewehen versinken, wenn man nicht gut lenkte! Haben wir damals hier oben Herschdorfer getrunken? Jetzt gibt es wieder welches. Wer von uns, um wenigstens einen halben großen Gedanken noch unterzubringen, hätte in der Schulzeit sich auch nur im Traum vorstellen können, dass hier ein ICE-Tunnel durchgehen wird?

Ich danke allen, die mit der Vorbereitung des Treffens zu tun hatten, namentlich Regina Hille und Volkmar Eberhardt noch einmal und, weil es ohne Werbeblock nicht mehr geht, verrate ich Euch, dass ich von jedem meiner inzwischen sechs Bücher eins, zwei dabei habe. Vielleicht will ja jemand neben sein bisheriges Buch noch ein zweites stellen von einem ehemaligen Mitschüler, gern auch mit Widmung. Mancher braucht auch mal ein Geschenk für diesen oder jenen Anlass. Danke Euch, dass Ihr mir bis hier zugehört habt.
 Begrüßungsrede zum Klassentreffen am 14. März 2015 in Gehren,
 Einschulungsjahrgang 1959


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