Mit Lothar Ehrlich zu Harald Gerlach

Erst später habe ich mich gefragt, was ich erwartete und die Antwort war simpel: nichts. Wenn ich nun als Titel über diese Zeilen geschrieben hätte: „Mit Lothar Ehrlich an Harald Gerlach vorbei“, dann wäre das ehrlicher und zugleich höchst missverständlich. Denn der Umstand, dass ich eine solche Wanderung durch Erfurt anders gemacht hätte, spricht weder gegen Lothar Ehrlich noch für mich. In Zeiten, da auch Schriftsteller vor allem dadurch Aufmerksamkeit erregen, dass ihre Biografien diese oder jene Bestandteile enthalten, da pure Prominenz, unabhängig vom sie begründenden Grund, Aufmerksamkeit garantiert, selbst wo nichts zum Aufmerken anfällt, in diesen Zeiten war Lothar Ehrlichs Entschluss, seine geführte Wanderung primär dem Werk des tatsächlich erschreckend vergessenen Harald Gerlach zu widmen, fast eine rührende Tat.

Ich hörte und das hat mich nun tatsächlich verwundert, Verweise auf die subversive Substanz vor allem von Gerlach-Gedichten, Ehrlich trug sie in einer Weise vor, als wolle er das einst in jener DDR verbreitete und von breitesten Kreisen virtuos beherrschte Lesen zwischen den Zeilen zu neuem Leben erwecken. Er stupste lesend gewissermaßen unsere Nasen, als misstraute er unseren einstigen Fähigkeiten. Freilich erweist sich erwähnte Substanz als nicht verflüchtigt und doch irgendwie gestrig. „Mauerstücke“ und „Nachricht aus Grimmelshausen“ hießen die im Aufbau-Verlag 1979 und 1984 erschienenen Bände, aus denen Stücke gewählt wurden, deren Erfurt-Bezug erkennbar und vorführbar ist. Ich habe dereinst für eine Zeitung namens „Volkswacht“ in aller Knäpplichkeit „Wüstungen“ besprochen, erinnere mein allfälliges Unbehagen, Lyrik zu rezensieren, welche Aufgabe in diesem Fall nur deshalb an mich gegeben wurde, weil ich bereits mehrfach, nämlich genau sechsmal, wenngleich immer zu Prosa, zu Harald Gerlach mich geäußert hatte. Das rote Buch, welches Lothar Ehrlich und Kai Agthe 2007 unter dem Titel „Dichter und Theatermann“ im Wartburg Verlag herausgaben, nennt immerhin eine meiner insgesamt acht Gerlach-Besprechungen, die ich seit ihrem Erscheinen nicht wieder gelesen habe.

Mein Gang zur Alten Oper Erfurt hatte also mindestens ein Spurenelement von Nostalgie. Denn immerhin durchsuchte ich meine Aktenordner nach den Kritiken, um wenigstens zu wissen, wann ich zu welchem Buch schrieb. Was 25 Jahre her ist, sechs der acht Texte erschienen 1988, nur einer davon unter einem meiner Pseudonyme, ist jetzt Fremdtext, lesbar, als hätte nicht ich ihn in einst in meine Breitwagen-Erika getippt, die tonnenschwere. Vor der Alten Oper suchte eine fürwitzige Ente ganz ohne Erpelschutz und -begleitung den Kontakt mit uns Gerlach-Wanderern und es gelang ihr tatsächlich, einige Keksbröckchen zu erbetteln. Ob sie in Entenkreisen das Loblied der Literarischen Gesellschaft Thüringen quarren wird, erfahren wir nicht, zu vermuten ist eher, dass ihre Pfiffigkeit in der furchtlosen Kontaktaufnahme mit uns bereits weitestgehend verbraucht wurde.

Wir durften uns in den Hof der Alten Oper stellen, in der dazumal, sonst wäre das ja nur eine skurrile Idee gewesen, Gerlach als Hof- und später Bühnenarbeiter tätig war. Wir sahen den traurigen Status des Schauspielhauses, an dem Gerlach Dramaturg war, wir hörten von Uraufführungen und von Leuten, die ihn förderten. Auch Gerlach sammelte, wenngleich zehn Jahre vor mir, seine Erfahrungen mit der Suhler Zeitung „Freies Wort“. Was später Volontariat hieß, scheint damals noch Praktikum genannt worden zu sein, zu gedeihlichen Ergebnissen hat es jedenfalls auch bei Harald Gerlach nicht geführt. Am Schauspielhaus erzählte Lothar Ehrlich vom Versuch Gerlachs, zum Republik-Geburtstag ein Auftragswerk zum Aktivisten Adolf Hennecke zu produzieren. Unter dem Titel „Die Schicht. Schaustück mit Musik und Zauberei“ kann man das Ergebnis in der Sammlung „Spiele“ nachlesen, welche der Aufbau-Verlag in seiner Reihe Edition Neue Texte 1983 herausbrachte.

Dass Gerlach schließlich nach 1990 mehr als 80 Funk-Essays verfasste, wundert mich wenig. Jeglicher, der vom Schreiben leben will, wird, falls es ihm je gelang, für zwei Tage Arbeit mehr Honorar einzukassieren als mit einem Monat redlicher Arbeit an einer Universität, ein unversiegliches Interesse für öffentlich-rechtlichen Rundfunk entfaltet haben. Meine einzige Arbeit für den Deutschlandfunk Anfang 1990 erscheint mir heute noch wie ein Märchen aus, sagen wir, neunhundertneunundneunzig Nächten. Wohl Gerlach, wenn er über Lenau, Heine, Anna Seghers und wen auch immer arbeiten durfte, die ihm sicher rascher sympathisch wurden als sich ein Fünf-Minuten-Ei bei Loriot zum Familienkonfliktstoff wandelt. Will sagen: Man soll einfachen Fakten nicht mehr Bedeutung unterschieben, als ihnen realistischerweise zukommt. Der schnöde Mammon ist eine brachiale Macht.

Am Ratsgymnasium wollte uns ein Regen aus dem Feld schlagen, doch mit Gedichten wie „Stehbierhalle“, „Faust in Erfurt“ und „Eckhart oder die Bilanz“ trotzten wir der Lyrikfeindlichkeit des Wetters und schon an der Engelsburg, dem Produktionsort der Dunkelmännerbriefe, war wieder Gunst der Umstände zu registrieren. Und lebhaftes studentisches Treiben. Gibt es Schöneres, als wenn der Wanderführer merkt, er hat sich zu viel vorgenommen und trotzdem weiter macht? Lothar Ehrlich, sich verplaudert habend, hängte eine volle halbe Stunde an, denn auch Augustinerkloster und der „Alte Schwan“ mussten noch ihre Rolle als Etappenorte der Wanderung spielen. Ich gestehe, dass ich nicht verlegen auf meine Schuhspitzen geschaut hätte, wenn mir  auch von Gerlachs Frauen, Kindern, Seitensprüngen, seinen Umzügen und seinen Trinkgewohnheiten erzählt worden wäre. So aber habe ich, kaum aus den Schuhen, nach seinen Gedichtbänden gegriffen.


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