Arbeiterfamilie in Ilmenau

Urlaub hat einen nicht nur angenehmen Nebeneffekt: Im Arbeitszimmer stapeln sich Zeitungen, an Kiosk und Tankstelle sammeln sich weitere Zeitungen und am Tag der Heimkehr beginnt das mühsame Geschäft des Nachlesens. Ich gebe zu: Vieles landet fast umgehend in der blauen Kiste, die mir als Zwischenlager auf dem Weg zum Papier-Container dient. Und plötzlich eine kleine Überraschung. Eine Überschrift verspricht eine Nachricht zu Ilmenau, die die hiesigen Tageszeitungen nicht hatten, jedenfalls müsste ich sie sonst übersehen haben. „Das verbotene Porzellan“ heißt diese Überschrift in der Berliner Zeitung und der dazu gehörige Artikel von Ralf Schenk kündigt einen Abend mit Richard Cohn-Vossen an. Einen Film-Abend im Berliner „Arsenal“ mit dem Versprechen eines interessanten Kontrastprogramms.

Richard Cohn-Vossen war ein Mann, der zu DDR-Zeiten Dokumentarfilme drehte. Doch während die Berliner Zeitung ihn jetzt mutig zu den Bekanntesten der Zunft damals zählt, hinkt die Internet-Enzyklopädie Wikipedia noch kräftig hinterher. Sie weist im Stichwort DEFA-Dokumentarfilme nur ganze zwei Filme Cohn-Vossens aus. Von dem, um den es hier geht (Kamera Werner Kohlert), weiß die Wiki-Gemeinde gar nichts. Auch der Name des Regisseurs ist, anders als mehrere andere, noch rot gefärbt, also ohne hinterlegte weitere Personalinformationen. Dafür aber hat man den Hinweis „Bearbeiten“ gesetzt, der ein Signal geben soll an kundige Autoren. Auch Filmportal.de geizt eher mit Informationen, man erfährt lediglich, dass Cohn-Vossen am 30. September 1934 in Zürich geboren wurde, also kaum als ein klassischer DDR-Bürger gelten kann.

Ralf Schenk, der in der  donnerstäglichen Beilage Kulturkalender die Rubrik „Das fliegende Auge“ füllt, weiß mehr. Demnach war der zwanzigminütige 35-Millimeter-Film „Arbeiterfamilie in Ilmenau“, das Porträt eines Paares am Ende seines Arbeitslebens, die in der DDR nicht mehr vollendete Arbeit ihres Regisseurs Richard Cohn-Vossen. Er unterschrieb die Protesterklärung der Schrifsteller und Kulturschaffenden gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns vom 17. November 1976 zwei Tage später, am 19. November. An diesem Tag gab auch Armin Mueller-Stahl seine Unterschrift, der Musiker Klaus Lenz, der Kameramann Werner Kohlert, die Schriftstellerin Helga Schütz, der Zeichner Willi Moese und viele andere schlossen sich an. Als Unterzeichner der Petition blieb Cohn-Vossen nur, 1979 in die Bundesrepublik überzusiedeln, wo er zum Norddeutschen Rundfunk kam.

Der Film selbst fußt auf einer aus den Studios geschmuggelten Arbeitskopie, die restauriert Ende August ihre Weltpremiere hatte, volle 34 Jahre nach den Drehs in Ilmenau. Ganz unbekannt ist das Werk dennoch nicht geblieben, denn aus den Materialien hat ein Kollege Cohn-Vossens, Heinz Müller, einen Film fertiggestellt, der den Titel „Porzelliner“ erhielt, ebenfalls im Jahre 1977. Heinz Müller freilich kommt bei Wikipedia gleich gar nicht vor, weder mit diesem noch mit einem anderen Filmtitel seines Schaffens. Zitat Ralf Schenk zum DEFA-Kollegen Müller: „Die stillen Szenen sind weitgehend mit Kommentaren versehen; die kritische Erinnerung der Frau an ihre Tätigkeit in einem Privatbetrieb ist komplett geschnitten; ebenso der Witz über einen Pfarrer und eine Magd. Fürs DDR-offizielle Wunschbild der Arbeiterklasse war so etwas wohl zu derb.“

Hier ist, wie ich glaube, für gern Geschichten recherchierende Journalisten ein dankbares Thema. Denn Zeugen aus der damaligen Zeit, alte Henneberg-Porzelliner, sind noch reichlich vorhanden, sicher auch Nachkommen der porträtierten Familie. Und vielleicht findet sich ja in Ilmenau sogar eine Möglichkeit, das erst einmal Berlin und einem fast akademischen Publikum vorbehaltene Kontrastprogramm zweier Filme gleichen Stoffs aus dem einstigen Bezirk Suhl auf eine Leinwand zu bringen. Es sind Zeitzeugnisse in mehrfachem Sinne.


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