Zum Abiturienten-Treffen 2011 in Ilmenau. Eine kleine Rede

Vor zwanzig Jahren, genau gesagt, am 10. Juni 1991, veröffentlichte eine Ilmenauer Zeitung einen fünfspaltigen Artikel unter der Überschrift: „Abiturientenjahrgang 1931 beging Jubiläum“. Der Artikel hatte eine Dachzeile, die lautete: „Zur Feierstunde in der Goetheschule“ und er hatte eine Unterzeile, die lautete „Glück und Wehmut beim Rückblick nach sechzig Jahren.“ Verfasser des Artikels war ich und es fällt mir einigermaßen schwer zu beschreiben, was ich dabei empfinde, wenn ich ein solches Relikt aus meinem früheren Leben in den Händen halte. Ich lasse es besser.

Ich will Euch, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gäste, die ich alle in diese Sie hoffentlich nicht überfordernde Anrede einbeziehe, auch in meinem Namen herzlich begrüßen. Ich habe mich wieder überreden lassen, eine kleine Rede zu halten. Sie hat schon begonnen und ich gestehe gern, dass die Überrednerinnen keine Mühe hatten mit mir. Böse Zungen behaupten, ich hörte mich gern reden, gute Zungen wissen, dass einer, der seit fast acht Jahren als Freiberufler allein zu Hause arbeitet, ein verzeihlich größeres Redebedürfnis hat als vielleicht Talk-Show-Moderatoren, die wahrscheinlich am liebsten Urlaub im Trappisten-Kloster machen, weil sie da nichts hören und nichts sagen müssen.

Ich komme auf meinen Anfang zurück, denn einigen von Euch ist möglicherweise inzwischen eine Idee gekommen, was das damals für ein Jahrgang war. Genau neun Angehörige des Abiturjahrgangs 1931 haben sich auf der Freitreppe unserer Goetheschule für mich zum Erinnerungsfoto aufgestellt und vorn rechts steht einer, der, um es freundlich und modern zu sagen, nicht zum harten Kern meines Fan-Blocks gehörte, solange er unter den Lebenden weilte. Ich meine Martin Morgenroth, unseren Mathematik-, Physik- und auch Chemielehrer. Er trug wie alle seine einstigen Mitschüler eine Krawatte. Wenn ich mich umsehe, sehe ich auch daran einen Unterschied der Zeiten.

Das erwähne ich auch deshalb gern, weil ich vor einigen Tagen einen Artikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT las, der mich durch seine Überschrift neugierig machte. „Schlips ist Schicksal“ lautete die und unter dieser Überschrift stand allen Ernstes „Der krawattenlose Mann ist der Untergang des Abendlandes“. Nun weiß ich als studierter Philosoph, dass es in der Zeit, als unser Martin Morgenroth dem Abitur zusteuerte, so etwas wie einen Bestseller gab mit dem Titel „Der Untergang des Abendlandes“, Autor Oswald Spengler. Mein Sohn, den seine Jahre an der Goetheschule nicht zu einem Philosophie-Studium führten und der das dennoch nicht bereut, hat erst kürzlich die Lektüre dieses 1000-Seiten-Opus abgebrochen und sich etwas leichterer Kost zugewandt.

Keine Krawatte zu Anzug und Hemd zu tragen, sagt der Artikel, den wir Zeitungsleute eine Kolumne nennen, „Dies ist die tausendfache Beleidigung des Oberhemdes, mit oder ohne Manschette.“ „Zweitens ist das offene Hemd Konformismus im Quadrat. So läuft inzwischen die halbe deutsche Männlichkeit herum; vierzig Prozent behaupten sogar, keinen Schlips zu beisitzen. Selbst amerikanische Kuhhirten tragen Halstuch.“ Der Verfasser dieser Perle hochkulturellen Räsonnierens ist Herausgeber der ZEIT, also in seinem Haus ein so hohes Tier, dass er das Recht erworben hat, alles von sich zu geben, was aus ihm herauswill. Das ist ein schöner Status, will ich nur nebenbei unbedingt gesagt haben.

Nur einen Satz nehme ich noch, dann seid Ihr entlassen aus dieser Abschweifung: „Der 70-Jährige, der Jugend vorspielen will, möge den Kragen lieber schließen, um die Halsfalten zu kaschieren.“ Sind wir, will ich uns alle einmal pauschal loben, vierzig Jahre nach unserem Abitur, zwanzig Jahre und mehr nach unserer Deutschen Einheit, in diesem Punkt vielleicht doch, und nicht zu unserem Nachteil, ein wenig Ossi geblieben? Also Menschen, denen Non-Konformismus um jeden Preis eine alberne West-Macke zu sein scheint, weil wir meinen, es komme immer darauf an, wovon wir uns unterscheiden wollen und nicht auf den Unterschied als solchen? Weil wir zum Beispiel als alte FKK- und Saunagänger nicht auf Faltenbesichtigungstour gehen, um unsere ästhetischen Empfindungen gestört zu erleben, sondern weil wir uns wohlfühlen und es gut finden, wenn sich andere auch wohlfühlen und unverklemmt tun, was ihnen gut tut? Wenn ich die Wahl habe, und ich gehe bei dieser meiner Behauptung in keine weiteren weiblichen und männlichen Details, zwischen Schwerkraft und Silikon, entscheide ich mich, ohne eine Nanosekunde nachzudenken, für die Schwerkraft.

1991 war das sechzigjährige Abiturjubiläum ein echtes Ereignis, es kam die Schulrätin, die noch so hieß und zugleich schon Dezernentin für Bildung und Kultur war, es kam einer, der heute auch hier ist und sich damals Dezernent nennen durfte, heute nur noch Hauptamtsleiter, der Schulchor sang, ein Klingeln unterbrach mitten im „König von Thule“ die weihevolle Stimmung. Ein Lateinlehrer, den wir alle sehr gut kennen und den die meisten von uns sicher immer noch sehr mögen, hielt einen Festvortrag über die Schulgeschichte. Er hatte kurz zuvor in der Zeitung, von der die Rede ist, eine siebenteilige Serie zur Geschichte unserer Goetheschule veröffentlicht.

Womit ich den Schwenk zu uns mache. Wir haben uns heute die Schule am obersten Ende der Herderstraße verkniffen. Dafür das, wie ich meine, sehr sehenswerte Ilmenauer GoetheStadtMuseum erlebt und nun wollen wir einfach ein wenig beisammen sein. Wir kaschieren die Halsfalten nicht mit unseren Krawatten, ich sehe auch keine Schnürleibchen, um Bäuche gegen die Wirbelsäule zu quetschen. Meine, das nebenbei, ist nach einer unfreiwilligen Flugeinlage auf der Autobahn nahe Naumburg im vorigen Jahr titanbewehrt. Ein Arzt in der Klinik Bergmannstrost in Halle baute mich mit seinem leicht angeschrägten Medizinerhumor wieder auf, indem er bei meiner Entlassung sagte: „Wenn Sie Ihren nächsten Unfall haben und alles im Eimer ist, wird eins halten: unsere Titanverschraubung.“ Auf den Test will ich freilich sehr gern verzichten, 19 Prozent Dauerschaden laut Unfallversicherungs-Gutachten reichen. Die restlichen 81 Prozent hätte ich gern auf unbestimmte Zeit im Quasi-Naturzustand.

Nur scheinbar habe ich nun auschließlich von mir gesprochen, denn ich gehe ohne Optimismus und ohne Pessimismus davon aus, dass auch die Zahlen, die uns alle betreffen, langsam in Dimensionen vorrücken, die nicht mehr noch nur lustig sind. Hätten wir, Gedankenexperiment, nicht unser Abitur gemacht, wie es war, also am Ende von zwölf Schuljahren, dann wären wir womöglich schon in den Vor- oder Nachbereitungen für unsere sechzigsten Geburtstage. Unsere Brüder und Schwestern, die heute vom Turbo-Abitur jammern, das ihnen, ihren Kindern und Enkeln aufgezwungen wird, haben es zum vierzigjährigen Abitur-Jubiläum näher zur Rente als wir. Ich gönne ihnen das. Aber ich gestehe auch, dass ich manchmal mit Wehmut wie meine eingangs zitierten 1931er an Momente denke, da ich meinen Studenten, ich weiß nicht mehr, was, erzählte und dabei sagte: vor zwanzig Jahren. Und eine Studentin fast empört rief: Na so alt sind Sie aber nun wirklich noch nicht.

Wir sind, verdammt, um ein Lieblingswort von Hemingway zu benutzen, zu dem ich im Oktober in der Ilmenauer Stadt-Bibliothek einen Vortrag halte, tatsächlich so alt. Wir haben erwachsene Kinder, wir haben Enkel, wir geraten schon lange nicht mehr in Panik, wenn jemand Oma oder Opa zu uns sagt. Wer von uns nicht gerade das Pulver erfunden hat und wer hat das schon, kommt wahrscheinlich der Erkenntnis immer näher, dass seine Kinder das Beste sind, was er der Welt hinterlassen konnte. Und, wollen wir ehrlich sein, unterm Teppich mit einem Dreijährigen zu liegen, der sicher ist, dass ihn Oma dort nicht findet, macht Opa mehr Spaß als fast alles andere auf der Welt. Sag ich mal so einfach.

Als ich, mich vorbereitend auf diese Rede, noch einmal jene las, die ich 2006 unter freundlichem Beifall vor Euch hielt, hatte ich zwei Gedanken. Der erste: Eigentlich könntest Du Deine Rede noch einmal halten. Der zweite: Ist das tatsächlich erst fünf Jahre her? Könnt Ihr diesen Zwiespalt nachempfinden? Einerseits nickt man heftig, wenn irgendjemand behauptet, je älter man werde, umso rascher vergehe die Zeit. Andererseits hat uns die Zeit so viel an Erlebensmöglichkeiten und eben auch Erlebenswirklichkeiten zur Verfügung gestellt, dass fünf Jahre, mir jedenfalls, erscheinen, wie sehr viel mehr als fünf Jahre. Ich hätte schwören können, dass es länger her war, als ich Euch mit Arnold Zweig kam und seiner schönen Abitur-Geschichte. Meine Frau wusste es auf Anhieb: 2006. So glaube ich nun auch langsam an den Unterschied von gefühlter und tatsächlicher Temperatur, von gefühlter und tatsächlicher Zeit.

Es tut mir ein wenig leid, dass manche von uns auf die Einladungen unserer vier Damen nicht einmal mit einer Absage reagiert haben. Wer einen Grund hat, nicht zu kommen, ist immer entschuldigt. Aber gar kein Interesse? Ehe ich es später vergesse, danke ich hier ausdrücklich allen, die daran beteilgt waren, dass heute alles gut klappt und läuft. Ich habe, als ich meine 30 Euro auf Utes Konto überwies, im Mai, erstmals das neue Chip-Tan-Verfahren benutzt. Sowas vergisst man normalerweise wieder, aber da ich die Einladung als guter deutscher Bürokrat aufhebe und abhefte, habe ich eben immer auch diese Notiz parat.

Nun will ich gern noch etwas sagen, das wie ein Kompliment klingt. Ich habe festgestellt, dass es auch nach vierzig Jahren eine Ebene gibt zwischen uns einstigen Goetheschülern, aber auch zwischen uns einstigen POS-Schülern, wenn wir uns treffen, die ohne Aufwärmphase auskommt. Wir alten Krieger und Kriegerinnen reden, wenn wir beisammen sitzen, von uns als den Mädchen und den Jungens. Und ich weiß, dass das auch bei denen so läuft, die nach sechzig Jahren sich treffen. Es sind dann einfach nur weniger von ihnen übrig. Sicher gibt es soziologische Erklärungen dafür, dass man einem einstigen Banknachbarn, einer Banknachbarin ein Vertrauen entgegen bringt, wie man es anderen Menschen, die man nur alle Jubeljahre sieht, nie schenken würde.

Wir zeigen uns Bilder und erzählen uns Geschichten und wir profitieren von den Erinnerungen der anderen, die wir selbst nicht mehr haben. Was wir für unsere Heldentaten hielten, finden andere eher albern, was wir selbst albern finden, macht anderen noch heute feuchte Augen. Und anders als in den mittlerweile vielen Filmen und Romanen, wo im Verlauf eines Klassentreffens jemand ermordet wird oder schwerste Konflikte sich ballen, nehmen wir uns weder das eine noch das andere ernstlich übel. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass die, die übel nehmen würden, erst gar nicht kommen.

Ich habe zum Abschluss einen sentimentalen Wunsch. Möge es möglichst lange dauern, bis nur noch neun von uns allen für ein Gruppenfoto übrig sind und mögen wir uns bis dahin immer wieder einmal sehen, und sei es alle fünf Jahre im ganzen Jahrgang. Uns allen einen schönen Abend und danach alles Gute.
Rede zum Treffen des Abiturjahrgangs 1971 der Goetheschule Ilmenau,
gehalten am 24. September 2011 im Hotel "Tanne"


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