Medienblick auf Ulrich Becher

Als der 100. Geburtstag von Alexander Roda Rodas Schwiegersohn Ulrich Becher heranrückte, zogen zwar weder Gunnar noch Kerstin Decker eine längst fällige Biographie aus ihren Gärbottichen, aber der findige Verlag Schöffling & Co. legte den Roman „Murmeljagd“ wieder auf. Und siehe, es ereignete sich ein mediales Wunder. Die großen Feuilletons des Westens entdeckten ein Werk, das schon 40 Jahre auf dem Buckel hatte und schwelgten in Begeisterung. Als ich gestern in einem großen Antiquariatsnetzwerk (der Name ist der Redaktion bekannt) nachschaute, wie die „Murmeljagd“ denn so gehandelt wird, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Während sonst Dutzende von Exemplaren ein und desselben Werks in teilweise abenteuerlichen Preisspannen angeboten werden, hier die glatte Fehlanzeige: Ganze fünf Exemplare waren zu haben: das älteste aus dem Aufbau-Verlag 1977, das zweitälteste von Rowohlt 1981, dann eines aus der genannten Schöffling-Ausgabe 2009, eines auf der Taschenbuch-Nachverwertung von btb Random House 2011 und eine brandneue Nachauflage wieder von Schöffling 2020, mehr nicht. Sollte 50 Jahre nach der Erstauflage ein Buch, das laut DDR-Klappentext vom „Letzten Sozialdemokraten“ handelt, plötzlich zum gesamtdeutschen Buch-Hit aller Hits geworden sein? Wunder, oh Wunder?

Immerhin, ganz von der Hand zu weisen wäre die Spekulation nicht: In den genannten Jahren verschliss die alte Tante SPD mehr Vorsitzende als ein gut gehender Bundesliga-Verein Trainer. Heute ist die Situation sogar so, dass alle noch lebenden SPD-Vorsitzenden männlichen Geschlechts gemeinsam eine Fußball-Mannschaft inklusive Ersatzbank stellen könnten, die einzige Frau in der langen Reihe müsste in der Coaching-Zone auf- und ablaufen, während ihre Vorgänger sich an die Schienbeine und auf die Schlappen treten. Zurück zu Ulrich Becher. Wer auch immer die Behauptung in die Welt setzte, sein erster Erzählband „Männer machen Fehler“ (Rowohlt 1932) sei von den Nazis verboten worden und 1933 auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung gelandet, hat eine Falschmeldung verbreitet. Die sich aber wie ein junger Corona-Virus still verbreitete. Man las sie in der DDR auf den Rücken auflagenstarker Taschenbuchausgaben seiner Erzählungen („Ihre Sache, Madame!“, bb 264; „Das Herz des Hais“, bb 510), man las sie im Stuttgarter Reclam-Verlag 1990 an der einzige Stelle, die in 18 Jahren Jahresüberblick Deutsche Literatur, im Lauf der Zeit verantwortet von Volker Hage, Adolf Fink, Franz Josef Görtz, Uwe Wittstock, Katharina Frühe, Hubert Winkels, Rainer Moritz, Ulrich Bechers Namen überhaupt einmal ins Gespräch brachte.

Anlass war, wen überrascht es, der Tod von Ulrich Becher am 15. April 1990. Ich zitiere, weil es nicht zu viel ist, komplett: „In New York stirbt im Alter von 80 Jahren der Dramatiker und Erzähler Ulrich Becher. Er wurde 1910 in Berlin geboren und veröffentlichte 1932 sein erstes Buch, den Erzählband „Männer machen Fehler“. Es wurde 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt; Bechers erstes Stück „Niemand“, von Erwin Piscator zur Uraufführung angenommen, wurde vor der Premiere verboten. Becher emigrierte 1938 in die Schweiz, schlug sich 1941 mit einem gefälschten Pass durch Frankreich, Spanien und Portugal nach Brasilien durch, wo er als Farmarbeiter und Journalist arbeitete. Später reiste er weiter nach New York, von wo aus er 1948 nach Europa zurückkehrte. Doch er wurde nicht wieder heimisch, hielt weiter an seinem Emigrantenstatus fest. Seine Stücke, darunter „Samba“ (1951) und „Feuerwasser“ (1952) wurden zwar gespielt, aber nur selten mit Erfolg. 1969 erschien sein Hauptwerk, der Roman „Murmeljagd“, der jedoch in den Zeiten der Studentenbewegung keine angemessene Resonanz fand. Zuletzt publizierte er unter dem Titel „Flaschenpost“ seinen Briefwechsel mit George Grosz.“ Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: die Studentenbewegung verhinderte angemessene Resonanz.

Deutschlands größte Kritiker hatten also keinen klaren Blick, weil die Studenten sich bewegten. Wäre ich Karl-Eduard von Schnitzler, würde ich die steile These wagen: es lag nicht an der Studentenbewegung, es lag daran, dass die DDR ihren Ulrich Becher seit ihrer Gründung schon liebte, bereits 1949 erschien im Aufbau-Verlag die Novelle „Die Frau und der Tod“ und ein Buch folgte dem nächsten im Lauf die Jahre, die Romane, die Stücke, Erzählungen. Wen aber die DDR liebte, den liebte die gute alte Bundesrepublik nicht. Manche nennen das Kalten Krieg, man kann es auch Dummheit nennen. Als aber am 15. April 1990 der Ungeliebte starb, gab es Nachrufe. In der Hamburger ZEIT unter der Überschrift „Leben unterwegs“, als Verfasser ist das Kürzel vhg angegeben, was sich zwanglos als Volker Hage lesen lässt. Hage verrät den Urheber der Berliner Opernplatzlegende: es ist Becher selbst, was ihn plötzlich und unerwartet, für uns alle viel zu spät, in den Hermlin-Verdacht bringt, an seiner Biografie ein wenig gefeilt zu haben. Hage-Nachfolger Volker Weidermann kennt in seinem Standard-Werk „Das Buch der verbrannten Bücher“ Ulrich Becher nicht, der Name fehlt auch in „Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933“. Das spricht mehr als massiv dagegen, dass Becher-Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt wurden.

Wir wissen, dass Oskar Maria Graf beleidigt war, weil man ihn nicht verbrannt hatte und deshalb eigens einen offenen Brief veröffentlichte. Wir wissen, das auch Bücher von Autoren verbrannt wurden, die harmloser als harmlos waren, alles bei Weidermann nachlesbar. Was aber bewegt einen, sogar ihm bekannte eigene Kommilitonen aufzurufen, die beteiligt waren? Wir wissen es nicht, ich weiß es nicht. Die österreichische Literatur-Zeitung „Volltext“ wusste dafür in ihrer Ausgabe 1/2015 dies: „Nach dem Krieg erzielte er in Wien mit der Posse „Der Bockerer“ seinen wohl größten Erfolg, mit dem er, vor allem in Österreich, bis heute identifiziert wird.“ Ich bin mir nicht sicher, ob es für Österreich spräche, wenn das so wäre. Immerhin, die späte Verfilmung der Posse in der Regie von Franz Antel aus dem Jahr 1981, die sah ich auch. „Volltext“ veröffentlichte damals übrigens aus dem Nachlass Bechers Prosa unter der Überschrift „Hades-Telefonate“ und erläuterte: „Der Text entstand Mitte der siebziger Jahre, unter dem Eindruck des plötzlichen Todes von Fritz Wotruba.“ Von Begegnungen mit diesem Mann kann man bei Bedarf in Bechers Büchlein „Im Liliputanercafé“ (Fischer Taschenbuch 5883) nachlesen (der Bildhauer Wotruba starb am 28. August 1975 in Wien). Bechers Nachlass liegt in Bern im Schweizerischen Literaturarchiv.

In der Noch-DDR fielen die Nachrufe auf Becher im April 1990 eher lieblos aus, NEUES DEUTSCHLAND begnügte sich mit einem Agenturtext von ADN, die NEUE ZEIT, das ND der Ost-CDU brachte zwar einen eigenen Text von Horst Buder, dem aber kaum mehr als einem beliebigen Nachschlagewerk zu entnehmen war. Da war anlässlich des 80. Geburtstages von Becher am 2. Januar 1990 Georg Antosch noch informierter, der kannte sogar eine Theaterkritik von Friedrich Luft zur Schlosstheater-Premiere von „Samba“ in Westberlin, die Kritik trägt das Datum vom 5. April 1950. „Das Publikum genoss es sichtbar, einen lebenden deutschen Autor auf die Bühne rufen zu können. Kein Zweifel, dass Becher selber die Löcher auf der Szene, wo sie noch sind, am kritischsten erkennen wird. Neue Stücke müssen gespielt werden. Und sei es nur, damit die Autoren davon lernen. Dass Becher das Zeug für das kommende, voll ausgeführter Zeitdrama hat, ist seit vorgestern außer Zweifel.“ Geschrieben hat es es dann aber doch lieber nicht. Was nicht gegen die Prognose von Friedrich Luft spricht. Georg Antosch wusste übrigens auch, dass sie „New Yorker Novellen“, die der Aufbau-Verlag 1969 herausgebracht hatte, eine Erstveröffentlichung waren. Was waren das für New Yorker Novellen, die 1950 in Wien als Zyklus gedruckt wurden?

Dann ist da noch ein schmales Buch mit dem Titel „Der schwarze Hut“. Ich besitze es mit einem Stempel versehen, der es als Archiv-Exemplar des Verlages ausweist, des Mitteldeutschen Verlages Halle/Saale 1957, zugehörig der Reihe „tangenten“. Diesen Titel kennt WIKIPEDIA gar nicht, im großen Killy ist er ebenso unbekannt wie in Valentin Herzogs Beitrag über Becher für das „Lexikon der Gegenwartsliteratur“. Im „Autorenlexikon Deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts“, Herausgeber Manfred Brauneck, ist „Der schwarze Hut“ für 1972 erwähnt. Was insofern irritiert, als der Verlag Benzinger in seiner Reihe „Benzinger Broschur“ tatsächlich eine Ausgabe 1972 hat, ein Berliner Antiquariat aber eine Ausgabe desselben Verlages von 1969 anbietet und zudem darauf hinweist, es handle sich um das „Kernstück des New Yorker Zyklus“. Fakten, Fakten, Fakten, rief einst ein gewisser Chefredakteur, um für sein neues Nachrichten-Magazin zu werben. Man kann ihm nicht pauschal widersprechen. Juli Zeh hat sich übrigens 2012 in einem Interview dahingehend erklärt, sie hätte sich nach der Lektüre von „Murmeljagd“ „immer wieder gefragt ob, ich das Schreiben nicht an den Nagel hängen sollte.“ Und Eva Menasse durfte die „Murmeljagd“ am 17. Oktober 2009 in der „Literarischen Welt“ und am 27. November 2014 in der ZEIT loben. Volker Weidermann verband sein sehr spätes Lob mit dem 100. Geburtstag: am Tag danach in der F.A.S.


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