Als Goethe redete und lange schwieg

Kurios ist es schon, wenn das Buch eines wichtigen Mannes über einen noch viel wichtigeren Mann von einem nicht ganz so wichtigen Mann volle fünf Jahre nach dem Erscheinen des Buches in einem Oberflaggschiff deutschsprachiger Print-Öffentlichkeit besprochen wird, als hätte der herausgebende Verlag gerade die Sperrfrist ausgesetzt. Das Buch heißt „Der Schein trügt nicht. Über Goethe“, stammt vom Schweizer Adolf Muschg, der am 13. Mai 80 Jahre alt wird und erschien 2004 im Insel-Verlag Frankfurt am Main und Leipzig. Für Ilmenau hat das Buch zeitlosen Wert, obwohl es schon zeitig als Mängelexemplar preiswerter zu kaufen war, als der Verlag wohl ursprünglich wollte. Denn das Buch enthält jene Rede, die Adolf Muschg am 27. August 1999 in der Ilmenauer Festhalle hielt und die ein knappes halbes Jahr später in der Neuen Zürcher Zeitung zuerst gedruckt wurde.
 
Das Buch bietet ein Vorwort plus acht Texte, alle bis auf einen Reden oder Vorträge. Das Buch nennt den Namen Ilmenaus außerhalb der Ilmenauer Rede genau viermal und zwar in einem Vortrag, der am 21. April 1999 in Frankfurt am Main gehalten wurde, Titel „Goethes Lebensträume“. Vermutlich hatte Adolf Muschg da seinen Auftritt in Ilmenau schon auf dem Schirm, wie man heute wohl sagen muss. Denn auch im April schon hat er immer den Brocken und die Harzreise zur Hand, die im August in Ilmenau fast zum Nebenthema werden. Äußerlich aber handelt „Goethe in Ilmenau – Mutmaßungen über ein Verstummen“ von jener Goethe-Rede, die der Eröffnung des Bergbaus gewidmet war. Ihres Jubiläums am 24. Februar wurde auf diesen Seiten erst im vorigen Heft gedacht (GEHEIMRAT 60, S. 28/29).
 
„Kein deutscher Dichter außer Goethe war in der Lage, einem Gemeinwesen so seinen Stempel aufzudrücken, ein großes Werk nicht nur zu schreiben, sondern zu tätigen.“ Dem wird man kaum widersprechen können. Redebedarf entstünde eher zum Thema, ob Goethe mit allem, was er tat, wenn er nicht dichtete, sich selbst vom Dichten abhielt oder von anderen davon abgehalten wurde, die ihm Aufträge erteilten. Man mag an der Tatsache, dass nach dem endgültigen Scheitern des Projekts Bergbau in Ilmenau 18 Jahre vergingen, ehe Goethe 1813 erneut die Stätte seines immensen Engagements aufsuchte, ablesen, wie sehr es ihn traf. Man mag in der Tatsache, dass Adolf Muschg den Besuch 1813 offenbar nicht zur Kenntnis genommen hatte für seinen Ilmenauer Vortrag, eine für die weite Welt lässliche Sünde sehen. Zu Füßen des Kickelhahns aber war die kleine Sünde ein ziemlich schwerer Lapsus.
 
Das plötzliche Schweigen Goethes mitten in seiner Rede am 24. Februar 1784, gehalten für Adolf Muschg in einer „Tonart paulinischer Ermahnung“, keineswegs wie zu einer Aktionärsversammlung zu erwarten, soll je nach Zeugnis oder Darstellung zehn oder gar zwanzig Minuten gedauert haben. Muschg bezweifelt den Zeitraum aus vernünftigen Gründen. Stellt aber zugleich seine Vermutung in den Raum, Goethe habe eben nicht etwa den Faden verloren, die Rede lag ja gedruckt vor und hätte notfalls als Manuskript herhalten können, sondern habe voller Absicht pausiert. Muschg kommt bis zum deutschen Goethe-Freunden immer mindestens leicht suspekten Psychoanalytiker K. R. Eissler und dessen Erklärung des Schweigens: einer plötzlichen Vision des Faust-Schlusses. Wer mehr wissen will, möge nachlesen.
 
„Der Schein trügt nicht“ enthält auch einen Vortrag mit der provokanten Überschrift „War Goethe Antisemit?“, gehalten am 11. Februar 2002 im Haus der Jüdischen Gemeinde Bern. Adolf Muschg zitiert einschlägige Stellen, hält vorher fest: „Auch der verehrende Blick muß Dunkel sehen können.“ Jochen Hörisch, der eingangs nicht namentlich genannte Kritiker des CICERO vom Dezember 2009, hat vor allem anregende Andeutungen gefunden bei Muschg und zwar ebenfalls mit Ilmenau beginnend. Gut so.
 Zuerst veröffentlicht in:  der NEUE Geheimrat, Ausgabe 61, 2014, S. 40


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