Goethe ohne Schiller-Schluss

Zu den Werken, die Goethe zum Jahrtausenddichter machen, gehört „Stella“ ganz sicher nicht. Wohl aber gehört es zu den Werken, die eine hohe Präsenz des Menschen Goethe in seiner banalen Alltäglichkeit aufweisen. In Zeiten, da wieder jedermann vollkommen unreflektiert das Wort vom Dichterfürsten in den Mund nimmt, da der „Geheimrat“ zum selbstverständlichen Synonym wird, obwohl alles doch nicht nur von der Germanistik längst überholt ist, mehr als längst, ist die Inszenierung eines „Goethe in Nöten“ vielleicht sogar eine Tat. Ganz abgesehen vom mehr vordergründigen Reiz, das weniger Bekannte, das möglicherweise sogar ein wenig Versteckte auf die Bühne zu bringen, dem wohl kein Regisseur entgehen kann.

Die Wiederkehr des wilhelminischen Umgangs mit Goethe nun weniger auf der Ebene der offiziellen Jubelfeiern, doch auch solche drohen ja wieder, läßt das Aufbrechen vermeintlich abgetaner Rezeptionsdummheiten wieder aktuell werden. Doch wenn schon jeder Kerl, der halbwegs platziert gegen einen Ball treten kann, von seinen Fans auf Plakaten als Fußballgott gefeiert wird ohne alle Anführungsstriche, wie soll ein Goethe saubergehalten werden von den Nachstellungen des Klassiker-Verehrungswahnes. Wo CSU-Politiker Festreden auf Brecht halten, steht die Welt ohnehin Kopf.

Auf den Fluren des Arnstädter Theaters raunte man sich am Sonnabend zu, daß die Weimarer „Stella“-Inszenierung eine hochgelobte sei, was freilich für die Inszenierung wenig besagt. Schon Lessing wußte in bezug auf Klopstock das Loben trefflich bloßzustellen. Immerhin, das Theater war, gemessen an seiner Norm, sehr gut gefüllt, wenngleich die emsigsten Förderer seines Betriebes so wenig zu sehen waren wie meist, wenngleich die Spitzen des Vereines abwesend waren wie meist, was wiederum ebenso in den Fluren des Hauses ein Thema war. Denn dort trafen sich auch ehemalige Gegner der Wiedereröffnung als nunmehrige Inhaber von Abonnements.

Die Weimarer „Stella“-Inszenierung (Regie Wolfgang Maria Bauer) kann natürlich aus dem Trauerspiel nicht mehr herausholen, als drinnen steckt. Im Durchlauf von knapp anderthalb Stunden muß demzufolge dem Zuschauer manches verborgen bleiben. Warum sich die beiden Frauen Stella (Chris Pichler) und Cäcilie (Elke Wieditz) aus dem Stand zutiefst sympathisch finden, bleibt ebenso unerfindlich wie die näheren Umstände des Weggangs von Fernando (Heimo Essl) aus dem Haus von Frau und Tochter hin zu Stella. Die Mimen wirken durchweg jünger als die Figuren sein müssen, die sie darstellen. Das irritiert dauernd wie der Anfang auf der dunklen Bühne kurzzeitig.

Ein Mann mit einer erwachsenen Tochter war zu Goethes Zeiten im Normalfalle ein alter Mann, um so mehr noch seine Frau als Mutter dieser erwachsenen Tochter eine alte Frau. Wenn man allerdings hinzudenkt, daß Goethe erst 26 Jahre alt war, als er „Stella“ schrieb, haben wir einen der Punkte, wo uns einfach nur der Mensch Goethe entgegentritt.

Der dann auch, ohne darüber in eine Schaffenskrise zu geraten, auf Schillers Rat den Schluß seiner „Stella“ änderte. Der aus der Beinahe-Maler-Müller-Idylle des Gleichnisses vom Grafen von Gleichen einen blutigen Schluß baute. Die Weimarer Inszenierung  deutet die Möglichkeit des Schiller-Schlusses an, um sich dann auf Goethes ursprünglichen Schluss einzulassen. Der freilich nicht funktioniert. Das Schlussbild nach dem Protest der Tochter Lucie, die die Bühne via  Zuschauerraum verläßt, fixiert die Unvereinbarkeit. Übrigens lohnt allein schon die Musikuntermalung des Finales den Gang ins Theater.
 Zuerst veröffentlicht in FREIES WORT, 21. April 1998. alte Rechtschreibung


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