Lotte in Weimar

Übergroß ist die Versuchung, mit dem Roman zu beginnen, der diesen Titel trägt, dem Roman Thomas Manns. Mustergültig führt er vor, wie wichtig der erste, die ersten Sätze eines Romans sind. Winzige Gedächtnisstütze: „Der Kellner des Gasthofes „Zum Elephanten“ in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis. Nicht, dass etwas Unnatürliches an dem Vorfall gewesen wäre; und doch kann man sagen, dass Mager eine Weile zu träumen glaubte.“ Der Name Mager ist kursiv gesetzt, aber nur beim ersten Mal. „Mit der ordinären Post von Gotha“, heißt es dann und es hat diesen Thomas-Mann-Sound, den man zu hören glaubt. Er hat einen von niemandem dokumentierten, nirgends so oder anders beschriebenen profanen Moment verzaubert. Der genannte Tag ist der 22. September 1816 und drei Tage später, am 25. September 1816, vor 200 Jahren also, begab sich jenes berühmte Treffen im Haus am Frauenplan, das Thomas Mann zu seinem Roman inspirierte. In Goethe-Biographien werden, wenn überhaupt, selten mehr als ein paar Zeilen daraus, durchweg variierende Formulierungen des gleichen recht profanen Inhalts.

So liest es sich bei Carl Otto Conrady: „Ein ungewöhnlicher Besuch im Herbst des Jahres 1816 versprach ein bewegendes Wiedersehen und blieb doch im Förmlichen, in pflichtschuldiger Gastlichkeit stecken.Charlotte Buff, seit langem verwitwete Frau Kestner, die Wetzlarer Lotte, hielt sich mehrere Wochen bei Schwester und Schwager Ridel in Weimar auf. Am 25. September war sie mit Tochter und Verwandten zum Essen ins Goethehaus eingeladen, aber die einstige Vertrautheit aus der frühen Wertherzeit stellte sich nicht mehr ein; der Hausherr schirmte sich dagegen ab.“ Bei Richard Friedenthal geht es knapper zu: „Sie wird sogar einmal als alte Dame einen etwas missglückten Besuch in Weimar machen, den Thomas Mann in seiner „Lotte in Weimar“ mit Ironie und tieferer Bedeutung geschildert hat.“ Man könnte sich fragen, wer sich und warum ein bewegendes Wiedersehen versprach, wer annahm, einstige Vertrautheit ließe sich nach so vielen Jahren wieder herstellen. Auch missglückt will das alles nicht zwingend erscheinen. Denn, bei aller Wertschätzung Goethes, Charlottes Besuch in Weimar galt ihrer Schwester und ihrem Schwager, allein seine Dauer bis zum 30. Oktober zeigt klar die Verteilung der Gewichte an.

Nur ist für die Nachwelt natürlich jenes Zusammentreffen an der Tafel des Witwers von ganz anderer Bedeutung als das Familienereignis. Und schon die Nachforschung, wer denn dieser Ridel eigentlich war, ergibt zwar sehr rasch die Hauptauskunft, dass er nach Weimar berufen wurde unter tätiger Mithilfe Goethes, um den Prinzen Carl Friedrich von Sachsen-Weimar und Eisenach zu erziehen. Doch darüber hinaus sind die Angaben deutlich rarer. Am 12. Juli 1786 schrieb Goethe an Ridel: „Sie erwarten wohl werthester Herr Docktor nicht diesen Brief von mir, der Ihnen eröffnen soll daß man in Weimar Absichten auf Sie hat und Sie hierher zu ziehen wünscht. Es ist die frage ob Sie Sich unserm Erbprinzen wiedmen wollen, der gegenwärtig im vierten Jahre steht. Man würde Sie auch ausserdem so zu placiren suchen, daß Sie in einen Geschäfftsgang kämen und in eine Carriere einträten, wo Sie dem Staate nützlich werden, und wegen Ihres Schicksals auf alle Fälle beruhigt bleiben könnten. Weiteres zu sagen würde gegenwärtig überflüssig seyn, bis man weis inwiefern Sie Neigung zu einem solchen Anerbieten haben und ob Sie anderwärts nicht schon zu fest gebunden sind.“ Goethe erbat sich die schriftliche Antwort nach Karlsbad.

Carl Friedrich (2. Februar 1783 – 8. Juli 1853) war ganze drei Jahre alt, als die Personalie am Hofe abgewickelt wurde. Seinen Brief an Ridel legte Goethe natürlich erst dem Herzog vor, ehe er ihn abschickte. Vom 21. Juli 1786 datiert ein Goethe-Brief an Johann Christian Kestner, mit Grüßen an Lotte übrigens, in dem die Absendung des Briefes an Ridel vermeldet wird. Am 2. September leitet Goethe den Brief Ridels, er schreibt ihn ausdauernd mit „ie“, an den Herzog weiter: „Hier schick ich Riedels Brief, wenn es Ihnen um ihn Ernst ist; so lassen Sie etwa durch Schmidten mit ihm handeln. Das beste wäre, dünckt mich, da er ohnedies den Grafen verlassen will, Sie ließen ihn kommen, bezahlten ihm die Reise, ließen ihn ein wenig prüfen, durch Herdern und sonst, und sähen wie Sie alsdann mit ihm einig würden.“ Als Ridel 1787 seinen Dienst im Rang eines Kammerrates in Weimar antrat, war Goethe längst in Italien. Eine kuriose Lesart des Geschehens findet man auf einer Internet-Seite „freimaurer-wiki.de“: „Als Ridel durch Weimar wanderte, fand Karl August so viel Gefallen an ihm, dass er ihn aufforderte, die Leitung der Erziehung des 4jährigen Erbprinzen zu übernehmen und ihn zugleich zum Landkammerrath machte, mit Sitz und Stimme in der Kammer.“

Bis 1799 war Ridel (25. Mai 1759 – 16. Januar 1821) Erzieher, 1808 wurde er der Wiedererwecker der Weimarer Freimaurer-Loge Amalia, deren Meister vom Suhl er neun Jahre blieb. Die Autographensammlung Kestner der Universitätsbibliothek Leipzig weist 17 Handschriften an Ridel, 12 von ihm aus, die Korrespondenten sind neben dem Herzog und Goethe auch Herder, Kotzebue, Fernow und Falk, die Adressaten der eigenen Briefe der Herzog, Böttiger, Charlotte Buff, Amalie Ridel und auch Friedrich Schiller. Auf der Suche nach Ridels Rolle in Schillers Leben wird man in beiden umfangreichen Schiller-Handbüchern milde erstaunt vergeblich suchen. Weder Helmut Koopmann noch Matthias Luserke-Jaqui fanden den Mann erwähnenswert. Schiller aber nennt den fast Gleichaltrigen in einem Brief aus Volkstedt vom 7. Juli 1788 immerhin „liebster Freund“ und fordert ihn auf, ihm möglichst viel von Goethe zu schreiben, der aus Italien zurück ist. Reinhard Buchwald kennt in seiner umfangreichen Schiller-Biographie auch noch den Gegengruß Goethes, dem dann nach einer Weile auch das erste Zusammentreffen in Rudolstadt folgt. Bei Rüdiger Safranski kommt Ridel in der Schiller-Biographie gar nicht vor, in der Goethe-Biographie einmal.

Dort ist Ridel zum Aussehen des Italien-Rückkehrers Goethe zitiert: „Er ist magerer geworden und war zudem sehr von der Sonne gebrannt – ich kannt' ihn also nicht einmal gleich.“ In Safranskis Darstellung der Freundschaft von Goethe und Schiller wird an zwei getrennten Stellen der genannte Brief Schillers an Ridel zitiert, weitere Informationen gibt es nicht. Der Graf, von dem Goethe in seinem Brief schrieb, war ein Graf von Taube, wie ich einem Beitrag von Detlef Jena in seiner TLZ-Serie „Marginalien zur Zeitgeschichte“ vom Mai 2011 entnehme, warum Jena allerdings aus Amalie Charlotte Angelica Buff, der jüngsten Schwester von Charlotte Buff, eine Anna macht, hat sich mir nicht erschlossen. Er war auch, als er als Begleiter des genannten Grafen durch Weimar kam, noch keinesfalls mit Amalie verheiratet, denn die Hochzeit fand erst 1791 statt, da war Ridel bereits vier Jahre in Weimar. Das Paar wohnte an der Esplanade und nahm dort auch Charlotte, die zweitälteste der acht Buff-Schwestern, beim Besuch 1816 auf. Vom Besuch bei Goethe wissen wir von Goethe selbst fast nichts. Es gibt genau drei Tagebucheintragungen dazu, vom 25. September, vom 14. und vom 19. Oktober sowie die knappe Notiz in den „Tag- und Jahresheften“.

Die Tagebuch-Eintragungen seien hier komplett wiedergegeben: „Gedicht zur Feier des Dienst-Jubiläums (d. 27. Sptbr. 1816) des Herrn Staatsministers von Voigt Excellenz. Allerley expedirt und besorgt. Schauspieler Haide, wegen den Jägern. Geologie von Baden. Mittag Riedels und Mad. Kästner von Hannover. Ankunft des Erbgroßherzogs und Gemahlin. Abends Fidelio. Nelsons Briefe an William Locker.“ (25. September) „Italiänische Reise. Caspar Friedrich Wolff. Theoria generationis. Manuscript über vergleichende Knochenlehre. Mittag allein. Neapolitanische Reise. Spazieren gefahren. Abends bey Canzler von Müller: Egloffsteins, Kästners, Riedels.“ (14. Oktober) „Rochusfest corrigirt. Ankunft des 1. Bandes der Italiänischen Reise. Mittag für mich. Aufführung des Epimenides. Frau Hofrath Kästner und Coudray in der Loge.“ (19. Oktober). Alles, was wir sonst wissen, worauf sich alle stützen müssen, die sich dem Gegenstand widmen, entstammt einem längeren Brief von Klara Kestner, einer Tochter Charlottes, an ihren Bruder August vom 29. September 1816, einem Brief Charlottes an ihren Sohn August vom 4. Oktober 1816, sowie zwei weiteren Briefen von Klara an August vom 14. und vom 25. Oktober 1816.

Aus einem Brief von Charlotte vom Stein an Knebel vom 9. Oktober 1816 wissen wir, dass Lotte mehrfach bei ihr zu Gast war. Auch von Charlotte Schiller gibt es unter diesem Datum eine Charakteristik Lottes: „Ich habe das Original der Lotte gesehen, die jetzt hier ist und Goethe nach zweiundvierzig Jahren zum ersten Mal sah! … eine Hofrätin Kestner aus Hannover, eine sehr hübsche Frau, wohl weit in Sechzigen. Bedeutende Augen und schöne Gestalt hat sie sich erhalten und ein schönes Profil, aber leider wackelt der Kopf, und man sieht, wie vergänglich die Dinge der Erde sind. Sie hat Goethe auch sehr anders gefunden. Sie ist geistreich, gebildet und nimmt großes Interesse an den Weltbegebenheiten. Sie hat acht Kinder, die alle schon in der Welt wirken und leben. Ihr Mann ist tot. Die Geheime Kammerrätin Ridel, die im „Werther“ als naseweise Blondine bezeichnet ist, saß auch ganz gesetzt und ruhig neben uns.“ Im Egon-Günther-Film „Lotte in Weimar“ spielte Annemone Haase die Amalie Ridel, Walter Lendrich den Kammerrat und Lottes Tochter Klara war Monika Lennartz. Doris Maurer wollte 2003 anlässlich des 250. Geburtstages von Charlotte Buff in diesen Sätzen „eifersüchtige Sottisen“ erkennen.

Das ließe sich mit etwas Mühe vielleicht auf den gern zitierten Satz der Charlotte von Stein beziehen, die ihrem Sohn Fritz schrieb: „Sie ist von angenehmer Unterhaltung, aber freilich würde sich kein Werther mehr um sie schießen.“ Charlotte von Schiller Eifersucht auf Charlotte Buff anzudichten, ist freilich albern. Doris Maurer erfand im Jubiläums-Beitrag für die ZEIT übrigens auch hübsch und sehr frei zugleich, dass Napoleon beim Treffen mit Goethe 1808 ein völlig zerlesenes Exemplar des „Werther“ aus der Tasche zog. Man kann dies angestrengt wohlwollend als phantasievolle Interpretation der auch vollkommen unbestätigten Behauptung, Napoleon habe den „Werther“ siebenmal gelesen, sehen, muss aber nicht. „Ihre spektakulärste Unternehmung bleibt – für die Nachwelt – natürlich ihr Besuch im September/Oktober 1816 bei ihrer Schwester Amalie, die in Weimar verheiratet ist.“ So Maurer und weiter: „Clara Kestner jedenfalls ist enttäuscht von dem steifen Geheimrat und seine phrasenhaften Maximen und Reflexionen, die alle Welt für Lebensweisheit hält. Charlotte hat nicht so hohe Erwartungen, ist deshalb ganz zufrieden.“ Von phrasenhaften Reflexionen ist bei Clara Kestner allerdings nirgends die Rede.

In ihrem Brief heißt es dafür: „Leider aber waren alle Gespräche, die er führte, so gewöhnlich, so oberflächlich, dass es eine Anmaßung für mich sein würde, zu sagen, ich hörte ihn sprechen oder ich sprach ihn; denn aus seinem Innern oder auch nur aus seinem Geiste kam nichts von dem, was er sagte. Beständig höflich war sein Betragen gegen Mutter und gegen uns alle, wie das eines Kammerherrn.“ Die beiden späteren Briefe bringen kaum neue Züge bei, nur beobachtet Clara sehr aufmerksam, dass Goethe sich bei Müllers liebenswürdiger als zu Hause gibt. Charlotte aber, die Goethes Loge im Theater nutzen darf und geradezu genötigt wird, das auch zu tun, resümiert an ihren 1777 geborenen Lieblingssohn August, der Jahre später für das Begräbnis von Goethes Sohn August in Rom sorgen wird: „Nur soviel: ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Mann gemacht, welcher, wenn ich nicht wüsste, dass er Goethe wäre, und auch dennoch, hat er keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht.“ Womit streng genommen der Stoff erschöpft ist. Bleibt für die Goethe-Biographik die wenig dankbare Aufgabe, Goethes Sosein rechtfertigend zu erklären. Da stehen ganz vorn der Verlust der Gattin Christiane im Juni, aber auch Marianne von Willemer.

Auch Christa Bürger hat in ihrem erfolgreichen Buch „Goethes Eros“ eher spekuliert: „Die Hofrätin Kestner wird wohl vergebens bei diesem Wiedersehen, dass Er nicht gewünscht hatte, in den Zügen des Geheimrats von Goethe eine Antwort gesucht haben auf die Frage, mit der sie gekommen war: Wer bin ich?“ Rüdiger Safranski zitiert in seiner Goethe-Biographie natürlich ebenfalls die einzig vorhandenen Briefzeugnisse, erinnert dann aber an Goethes aktuelle Arbeit an „Dichtung und Wahrheit“: „Ihm war also jene längst versunkene Welt wieder nahe gerückt. Vielleicht scheute er gerade deshalb die Begegnung mit dem, was davon übrig geblieben war. Wenn Charlotte enttäuscht von ihm war, so er auch von ihr. Ihre Gegenwart wirkte stumpf gegen das Erinnerungsbild.“ Das so zu sehen, setzt voraus, dass Goethes Erinnerungsbild tatsächlich Bild war und nicht Wunschbild. Hatte er aber nicht schon dreißig Jahre früher den „Ur-Werther“ revidiert und vor allem immer wieder Zeugnisse seiner jungen Jahre in seinen „Auto-Dafés“ vernichtet? Am 30. Oktober 1816 ist Charlotte Kestner wieder abgereist aus Weimar und sie hat noch fast zwölf Jahre mit Kindern und Enkeln ohne jedes Goethe-Trauma gelebt, ehe sie am 16. Januar 1828 in Hannover starb.


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