Goethe in Arthur Eloessers Literaturgeschichte

Den Glockenschlag zwölf hat er sich versagt. Man könnte auch sagen: Er hat ihn Goethe gelassen, dem er ohnehin qua Urheberrecht gehörte. Man könnte sofort und eilfertig einen Exkurs beginnen zu allen Goetheanern, die je am Glockenschlag festhielten, wie er nun einmal das erste Buch von „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster und Zweiter Teil“ ziert. Vermutlich wäre dem rückschauenden Goethe auch ein Paukenschlag nicht unlieb gewesen, wer aber hätte zu Frankfurt am Main im Hause von Johann Kaspar und Katharina Elisabeth Goethe auf welche Pauke hauen sollen, die Geburt dieses Wunderknaben anzuzeigen? Die Geburt selbst wird schwer genug gewesen sein, riskant ohnehin: der Tod im Kindbett gehörte noch sehr viel später zu den Normalitäten der Zeit. „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen.“ So Goethe höchstselbst ein paar Druckzeilen weiter unten. Er gebrauchte, als er in seine frühesten Jahre zurückschauen wollte, mit Eifer nicht zuletzt die Nachrichten, die Bettina von Arnim ihm aus Gesprächen mit seiner Mutter, mit Frau Aja, zutrug, zu seinen Füßen sitzend, wie die Überlieferung es in poetischem Aufschwung gern sagt.

Der Theater- und Literaturkritiker Arthur Eloesser, der schon jung auch als Literaturhistoriker in Erscheinung getreten war, legte einer interessierten Leserschaft 1930 und 1931 bei Bruno Cassirer in Berlin in zwei Bänden großformatig „Die Deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ vor, gut 1300 Seiten mit Register insgesamt. „Bis zu Goethes Tod“ ist Band I überschrieben und der Gattin Margarete Eloesser gewidmet, Band II reicht „Von der Romantik bis zur Gegenwart“ und ist gewidmet „Gerhart Hauptmann zum siebzigsten Geburtstag“. Auch Band II weist im Register mehr Stellen zum Namen Goethe aus als zu irgendeinem anderen Namen. Verwunderlich wäre eher gewesen, hätte es anders ausgesehen. „Die Darstellung der beiden Bände erstreckt sich bis zur Gegenwart; ihre Einteilung bedarf kaum einer Begründung. Der Tod Goethes ist der stärkste Einschnitt in der Geschichte unserer neueren Literatur. Die Hauptschwierigkeit jeder geschichtlichen Darstellung und besonders des Geistesleben besteht darin, dass Gleichzeitiges, Ineinander-Wirkendes nur nacheinander berichtet werden kann.“ So steht eben die ältere Romantik nicht erst nach Goethe, ihrer Wirkung wegen fallen aber Hölderlin, Novalis und Kleist „in die Zeit nach seiner Weltherrschaft“. Und Goethe selbst vielfach schon in die Zeit vor seiner Geburt 1749.

Ehe Eloesser brav chronologisch dem Lebenslauf von der Geburt bis zum Welterfolg des „Werther“ folgt, hat er nicht nur diverse Goethe-Bezüge immer wieder hergestellt, er hat auch das Verhältnis von Herder und Goethe gewissermaßen vorgezogen in die Behandlung Herders, was viel Sinn macht und die fast triviale Aussage des Vorwortes ganz praktisch bestätigt: „Allein die Chronologie kann nie entscheiden.“ Genau deshalb auch stellt Eloesser vor den Nachvollzug des Lebenslaufes der ersten Jahre allgemeine Überlegungen, Formulierungen zur Periodisierung und nicht wenige Sätze zum Bild Goethes, die dann einfach schon da sind, weder wiederholt noch eingeschoben werden müssen. Das kommt nicht zuletzt der Lesbarkeit erheblich zugute. Die wird auch dadurch deutlich erhöht, dass auf alle Fußnoten verzichtet wurde, auch hinten jeder Anmerkungsapparat fehlt. Bisweilen hat die Lesbarkeit auch Nebenwirkungen: nicht immer ist ganz klar, wann der Autor nur referiert, wann er wörtlich zitiert, wann er eigene Formulierungen vorträgt. Da es zur Entstehung der beiden Bände keinerlei Überlieferungen aus Nachlässen oder Briefwechseln gibt, sind keine Aussagen möglich, wo der Verlag, wo der Autor Verantwortung trägt. Letztlich aber führt das nie zu gravierenden Unklarheiten, dafür früh zu sehr gut komprimierten Charakteristiken.

„Dem Jahrhundert Voltaires, das mit noch tieferem Recht das von Leibniz genannt werden kann, folgt das Jahrhundert Goethes“, hebt Eloesser an. Möchte aber eigentlich statt Jahrhundert lieber Zeitalter sagen, weil ein Zeitalter eben anders als ein Jahrhundert nicht mit einer Jahreszahl zu Ende kommt, stattdessen sogar als bis in die Gegenwart reichend gesehen werden darf. Gemeint ist damit zwar die Gegenwart Eloessers, der 1938 im Alter von 68 Jahren starb, wir dürfen jedoch, ohne ihn überzustrapazieren, unsere Gegenwart dazu rechnen. „Es ist unwichtig, wieviel im einzelnen von seinen Werken veraltet, die er selbst als Bruchstücke einer großen Konfession preisgegeben hat; er sagt auch, dass er nie populär werden würde, weil er immer zu den einzelnen gesprochen habe, die in ähnlichen Richtungen wie er begriffen seien und im Aufbau der Persönlichkeit die inneren Bildungsstufen zurückzulegen hätten.“ Die Folgerung daraus hieße: „Demnach bliebe er, nur mit einem Teil seines Werkes der Menge erreichbar, ein Führer der Führer, und man kann sich einen Kultus vorstellen, der diese in einer gemeinsam europäischen und menschheitlichen Gesinnung sich verstehen und verbinden lässt.“ Was für eine im doppelten Sinne traumhafte Vorstellung: die Führer der Welt, der Menschheit, verbinden und verbünden sich im Geiste und im Namen Goethes!

Statt einer Lehre habe Goethe, so Eloesser, ein Beispiel gesetzt: „Sein oberstes Lebensgefühl war Ehrfurcht, seine unablässige Andacht galt der Ehre jeder Individualität, sein Lieblingswort war Bildung, wie sehr es nach ihm verflacht und missverstanden worden ist.“ Auch diese kritische Sicht steht nicht allein. „Goethe hat immer gearbeitet und nie gearbeitet, wenigstens nicht in unserem Sinn, der die Aufgabe zur Tyrannin macht und ihren Inhalt der Persönlichkeit entzieht.“ Ohne daraus einen eigenen theoretischen Ansatz zu gewinnen, nutzt Eloesser sofort jenen Begriff, der den der Arbeit überschreitet: Tätigkeit. Noch die marxistische Theorie der Arbeit hätte Enge vermeiden können, wenn sie mit Tätigkeit als Arbeit einschließende Kategorie operiert hätte. „Alle seine Tätigkeiten waren Passion, waren Liebhabereien im hohen Sinn, hielten sich im geistig-sinnlichen Gleichgewicht, waren einander nicht feindlich und vermochten immer mehr nebeneinander zu bestehen, ob er antike Münzen sammelte oder den Kadaver ein Feldmaus anatomisch prüfte.“ Man kann von hier aus zwanglos zu nicht-entfremdeter Arbeit übergehen und auch dem speziell Goetheschen Verständnis von Dilettantismus das Irritierende nehmen. Allgemein nimmt solche Sicht allen Gedanken den Wind aus den Segeln, Goethe habe, nicht dichtend, stets Zeit vergeudet.

Dennoch gibt es natürlich auch eine Aussage von Goethe aus späten Zeiten, die scheinbar das Gegenteil bekundet, Arthur Eloesser kennt und zitiert sie natürlich: „Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein, wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen Wirken und Treiben zurückgehalten, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben.“ Nachlesbar ist das, Eloesser nennt diese wie andere Quellen nicht, in den Gesprächen Goethes mit Eckermann unter dem 27. Januar 1824, also vor 200 Jahren gesprochen. Und er kommentiert: „Goethe war ganz Dichter nur in der Frühzeit und in der Spätzeit seines Lebens; sein Dämonium riet ihm, nach Weimar zu gehen, eine Bindung einzugehen, die ihm die Möglichkeit versprach, in der größten ihm erreichbaren Welt auf jede Art zu leben, alle seine Organe in angemessener Tätigkeit zu erhalten.“ Nur voller Ironie kann Eloesser auf Versuche eingehen, dem Dichter eine andere, eine rein dichterische Biographie zu entwerfen, er hält dagegen: „Der junge Goethe, den sein Dichterruhm gar nicht schwindlig machte, wurde von dem Vorgefühl bestimmt, dass er nicht nur zum Günstling eines jungen Fürsten, sondern zum Beherrscher von Herrschenden berufen sei.“

Eloesser zitiert aus einem Brief Goethes an Johann Kaspar Lavater (15. November 1741 – 2. Januar 1801) aus dem Jahr 1780, das WorldWideWeb führt es sogar unter seinen Aphorismen: „Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und lässt kein augenblickliches Vergessen zu.“ Es geht um die Pflicht, die ihm täglich teurer wird, wie er verrät, und wie immer bei solchen Behauptungen ergäbe sich wie von selbst ein eigenständiges Thema, denn natürlich gibt es auch Aussagen von Goethe, die keineswegs wie Paraphrasen von Kants Pflichtethik klingen. Hier aber führt das Briefzitat zu einem Kernsatz des Literaturhistorikers über seinen Gegenstand, vier Seiten bevor er schließlich und unvermeidlich beim Tag der Geburt angelangt ist: „Wir schätzen sein Leben als sein größtes Werk; es ist uns wichtiger als das von irgendeinem Schöpfer.“ Und dieses Leben folgte eben nicht einer fiktiven Ideallinie: „In Goethes Leben, namentlich in der Mitte der Mannesjahre sind Stockungen und Versteifungen, wie er auch physisch Fett angesetzt hat“. Deshalb: „Man tut Goethe Unrecht, wenn man ihn als den großen Vollendeten rühmt“. Gegen die oft kolportierte Szene des Sterbenden, der nach „Mehr Licht!“ verlangte, setzt er eine eigene Vision.

„Viel schöner ist die Vorstellung, dass er als Sterbender geheimnisvolle Zeichen in die Luft schrieb, dass er überhaupt nicht aufhören konnte zu schreiben oder mitzuteilen, wie er es lieber nannte.“ Es sei ausdrücklich unterstrichen, dass hier ein Literaturhistoriker der Schönheit einer Vorstellung den Vorzug gibt vor der vermeintlich überlieferten „Wahrheit“. „Goethe war nicht immer gleich groß als Dichter. Seine Dichtung gleicht einem Strom, der an den Quellen mit einem ungeheuren Sturz hervorbrach, der in der Mitte des Lebens allzu streng reguliert, manchmal auch verflacht oder versandet scheint, der dann vor der Mündung eine neue ungeheure Tiefe gewinnt, eine Ruhe und eine Breite, die noch alle uns erreichbaren Erlebnisse, erwerbbaren Gedankengüter zu tragen fähig ist. Seine Existenz war durch Zeiten und Umstände begrenzt, die er weise gebrauchte, indem er sich ihnen fügte als einer Wirklichkeit, der sich nicht entgehen lässt. Er war kein tragischer und kein heroischer Mensch, schon weil er ewig werdend in keinem Prinzip fest werden konnte, wohl aber tiefen Leidens fähig, von einer Empfindlichkeit und Zerbrechlichkeit, die sich keinen anderen Heilkräften als denen der Natur anvertrauen konnte.“ Man sollte verharren bei dieser Summa eines Lebens: ich setze mein Ausrufezeichen hinter den weisen Gebrauch von Umständen und Zeit.

Man wird bei Betrachtung der lautesten Goethe-Kritiker, der entschiedensten, der selbstsichersten, wohl auf dem Umstand kommen, dass sie der Reihe nach in einem Prinzip fest geworden sind. Gegenbelege werden gern und dankend entgegen genommen. „Es gibt keinen Begriff, der Goethes Leben einfasst, obgleich wir von seinem Daseinsgebrauch eine vollständigere Kenntnis haben als von dem irgendeines Menschen, der je gelebt hat.“ Aber: „Es gibt eine Goetheforschung, die wohl einmal an der Grenze der möglichen und wichtigen Kenntnisse anlangen wird; was darunter bleibt, werden wir, wie er selbst sich verhielt, als ein Unerforschliches verehren müssen. Man kann von ihm wissen, aber muss an ihn glauben.“ Ganz ausdrücklich distanziert sich Eloesser von jener Kunstbetrachtung, die Goethe (und jedes andere Genie) aus Raum und Zeit herausnimmt. „Goethe nahm sich historisch, in seinen Ursprüngen wie in seiner Zukunft; er hat auch sein Nachleben der werdenden Geschichte anvertraut, wir können nicht anders als ihm folgen, dem alles Individuelle ehrwürdig, dem alles Vergängliche Gleichnis war.“ Von hier wird der knappe Satz verständlicher, der da lautet: „Goethe hinterließ nicht eine Lehre, sondern eine Forderung.“ Viele Seiten über Goethe folgen noch bei Arthur Eloesser, ihr hier vorgestelltes Fundament sichert ihnen Festigkeit.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround