Arthur Eloesser: Goethes "Die Natürliche Tochter"

„Der Regisseur Lothar Müthel lässt Goethes Trauerspiel im Empirekostüm spielen. Den Grund sehe ich nicht ein. „Die natürliche Tochter“ ist das Werk von Goethe, mit dem er aus einer furchtbaren Verstörtheit endlich die Sprache gegen die französische Revolution fand, nachdem er die Revolution und sich selbst in einigen Farcen ziemlich klein gemacht hatte. Die Entführung, Entrechtung, Auslöschung der Prinzessin Bourbon-Conti, aus deren eigenen Memoiren Goethe seinen Stoff bezog, war ein Verbrechen des Ancien régime, musste also im Kostüm die Zeit des späten Rokoko betonen. Spielt man das im Empire, ist die Revolution schon vorbei, deren Hereinrollen hier den Boden zittern macht.“ So lasen es die Theaterfreunde am Montag, 31. August 1931, auf der zweiten Seite ihrer „Vossischen Zeitung“ unten links. Der Theaterkritiker Arthur Eloesser hat die Neu-Inszenierung im Staatstheater gesehen, sein Missbehagen an den Kostümen ist wohlbegründet, auch wenn das heute geschmäcklerisch zu sein scheint. Wir sind gewohnt, Pistolen knallen zu hören, wenn von Degen oder Schwertern die Rede ist, wir sind gewohnt, gewichste Weltkriegsstiefel trampeln zu sehen, wenn Stulpen angesagt wären. Wir lassen auch zugehörigen Argumentenaufwand über uns ergehen: Hauptsache, man ahnt noch, was gespielt werden soll.

„Die natürliche Tochter“ freilich wurde und wird so extrem selten gespielt seit der Uraufführung in Weimar am 3. April 1803, nur wenige Tage nach der Fertigstellung des Textes, dass kein Regisseur versucht sein dürfte, mit Gewalt etwas auf die Bühne zu bringen, was noch nie einer/eine gewagt hat. Goethe-Kenner kennen auch das wiederkehrende Kurzzitat der berühmtesten unter allen Premierenbesucherinnen: der Madame der Staël. Sie sprach von „noble ennui“, was schlicht mit „edler Langeweile“ übersetzt werden darf. Und sie hat sich auch eine Begründung zurechtgelegt: „Eine solche Tragödie erscheint allerdings wie geschaffen für eine Aufführung in Odins Palast, wo die Toten ihre Lebensbeschäftigung fortsetzen; wo der Schatten des Jägers den Schatten des Hirsches verfolgt und sich Schattenbilder von Kriegern auf Wolkenfeldern herumschlagen. Es scheint, als habe Goethe seit einiger Zeit alles Interesse an Schauspielen verloren. Weil man sich für schlechte spannende Stücke interessierte, hat er alle Spannung aus den guten verbannen wollen.“ Eloesser kannte das Urteil der Französin, die schon wegen ihrer Anti-Napoleon-Haltung bei Goethe kaum langfristige Chancen hätte haben können. Was er seinen Lesern anbot, war aber zuerst der Blick aufs Äußere des Berliner Theaterabends, der wohl schon auf das Goethejahr 1932 schielte.

„Der Regisseur und sein Maler Zweigenthal haben in einer asketischen Enthaltsamkeit des Bühnenbildes geschwelgt. Der Jagdgrund des Herzogs und der Hafen, in dem sich Eugenie einschiffen soll, werden mit einigen Prospekten abgefunden und mit den Andeutungen einer Schwarzweißkunst, die etwas an die Wiener Werkstätten erinnerten. Der Herzog und seine Tochter leben in einer Konstruktion von Schiebewänden, wo der repräsentative Luxus der großen Gesellschaft des Ancien régime zu empfinden sein müsste. Von dem großartigen Trousseau, den der Herzog seiner natürlichen Tochter am Tage der Legitimierung schenkt, wurde nur das Staatskleid mit der Ordensschärpe geliefert. Der Schmuck blieb im Tresor. Das war nun nicht wie bei reichen Leuten und, um einen Lieblingsausdruck des alten Fontane zu gebrauchen, eine etwas poplige Ausstellung.“ Fontane hat, kurz bei ihm zu bleiben, offenbar nie „Die natürliche Tochter“ gesehen, unter seinen zahlreichen Kritiken zu Goethe-Inszenierungen taucht sie nicht auf, auch keine Erwähnung nebenher. Was Trousseau meint, hätte er gewusst. Mit dem Wort starb für uns auch die Sache: Aussteuer. „Sonst war die Aufführung des bisher gemiedensten Stückes von Goethe eine anständige Arbeit; sie hat ihm nicht die letzten Ehren erwiesen, sondern ihm eine Zukunft eröffnet.“

Spätestens jetzt, das Wort vom gemiedensten Stück im Ohr, gilt es, eine Besonderheit dieser Theaterkritik von Arthur Eloesser zu erwähnen. Sie liefert nicht, wie manch andere Kritik der langen Jahre von 1900 bis 1928, Stoff und oft wörtliche Formulierungen für beide Bände seiner umfangreichen Literaturgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. Es ist umgekehrt der erste Band, „Bis zu Goethes Tod“ (1930 bei Bruno Cassirer Berlin), aus dem der Kritiker sich bedient, was natürlich legitim ist. Wir dürfen davon ausgehen, dass Eloesser bei sich selbst nachlas, eher er sich auf den Weg ins Staatstheater machte, wo Lothar Müthel (18. Februar 1896 – 4. September 1964) „Die natürliche Tochter“ präsentieren wollte. NSDAP-Mitglied, Mitglied des Präsidialrats der Reichstheaterkammer, Mitglied des Reichskultursenats, wurde Müthel nur wenige Jahre später, Direktor des Burgtheaters Wien dann 1939. Ende August 1931 aber spielte er auch selbst mit: „Der Regisseur Müthel schien dem Schauspieler Müthel einen König von geringerem sprachlichen Gefühl nachzusehen.“ Goethe hat dem König selbst weniger zugestanden als etwa dem Herzog und dessen „natürlicher Tochter“ Eugenie. Die spielte die Österreicherin Maria Schanda, die 1930/31 ihr erstes Theaterengagement noch im Mährisch-Ostrau erlebt hatte und dann zum Staatstheater kam.

„Goethe schrieb das Trauerspiel als Rekonvaleszent nach einer „ungeheuren Krankheit“; als er zu sterben glaubte, machte er sich Sorgen um das Schicksal seines natürlichen Sohnes August. Vatersorge und Vaterschmerz übertrugen sich auf die dichterische Figur des Mädchens; es gibt in der Weltliteratur kaum Ergreifenderes als die Wehklage des Vaters, wenn ihm der Tod der entführten Tochter vorgespiegelt wird. Was sind alle Entdeckungen der Gelehrten gegen die Dichter! Das Verhältnis dieses Vaters zur Tochter verrät sich als erotisch in sublimierter Selbstliebe, als inzestartiger Rauschgenuss am eigenen Blut. Es ist ein Bedürfnis der Selbstbespiegelung, oder um mit Sigmund Freud zu sprechen, eine Handlung des Narzissmus, wenn er das Mädchen, zur großen Weltdame, zur kühlen Jägerin, zur Herrin über alle ritterlichen Künste erzog.“ Hier findet sich der Rückgriff auf eigene Formulierungen bis ins Detail. „Das Verhältnis des Vaters zur Tochter verrät sich als erotisch in sublimierter Selbstliebe, als inzestartiger Rauschgenuss am eigenen Blut. Es ist ein Bedürfnis der Selbstbespiegelung, eine Handlung des Narzissmus, wie man heute sagt, wenn er das Mädchen als sein Mädchen zur Weltdame, zur kühnen Jägerin, zur Herrin über alle ritterlichen Künste erzog.“ So hieß es in der Literaturgeschichte, die auch das hohe Lob der Vater-Klage sang.

„Die Totenklage des Vaters um seine Tochter gehört zu seinen größten künstlerischen Leistungen, ist voll Geheimnis und voll Offenbarung aus dem Tiefsten seelischen Urbestandes, obgleich der Herzog keinen Augenblick aufhört, sie als ein Fürst, als ein Mächtiger und Reicher zu betrauern.“ Vollkommen unabhängig von der Bühnenwirkung der Tragödie, die, wie bekannt, eine Trilogie hätte werden sollen, fixiert Arthur Eloesser hier den Stellenwert eines ihrer Bestandteile innerhalb der Goethe-Werkes: „in der Weltliteratur kaum Ergreifenderes“; „gehört zu seinen größten künstlerischen Leistungen“. Das ist aus überblickender Sicht auf das Werk gesagt, nicht aus dem Willen, Sonder-Superlative zu finden, mit dem auch dem „gemiedensten“ Werk noch auf die Beine geholfen werden soll. Gesagt ist auch: „Aber Goethe hat die Masse von seinem Stück ferngehalten, und die fürchterlichen Zeichen der Zeit scheinen nur als atmosphärische Störungen vorhanden, die man auch in einem geschlossenen Raum am Barometer ablesen kann. Man muss sich auf die Zeichen verstehen. Das Stück war bisher Privateigentum der Kenner, der Reifen und Erfahrenen. Nach unserer Aufführung, die ohne besondere Kunst, aber auch ohne Künstelei diese ungeheuer beziehungsreichen Verse ordentlich sprechen und auseinander legen ließ, scheint mir auch das Publikum zur Kennerschaft zugelassen.“

Gerade die hochgelobte Totenklage wurde im Staatstheater „unbillig gekürzt“, den den Herzog spielenden Theodor Loos (18. Mai 1883 – 27. Juni 1954) konnte sich Eloesser „noch erschütternder“ denken. „Aber das Gefühl war warm, die Haltung hatte das unerlässlich Fürstliche, und wenn Loos immer sehr schön, manchmal zu schön gesprochen hat, so ist seine Rede jetzt auch plastisch geworden. Das war getriebene Arbeit und blieb immer noch Musik.“ So ließ der Kritiker seinen Beitrag ausklingen. Der vorher auch noch dies enthielt: „Der legitime Sohn des Herzogs, der die unwillkommene Schwester und Miterbin in Verschollenheit stößt, tritt nicht selbst auf; er wird durch subalterne Helfershelfer vertreten und durch ein unheimliches Stück Papier, das ihm die Macht über ihr Leben gibt. Dass ihm diese Macht vom König verliehen wird, der wiederum den Vater zu fürchten hat, bleibt in der Andeutung. Aber das Unentrinnbare dieser Machination wurde gefühlsmäßig verstanden, die Furchtbarkeit eines verderbten und verbrecherischen Regimes. Ein Gretchen, eine Liebende und Verführte, die nicht weiß, wo sie ihr Kind lassen soll, wird leichter Mitleid erhalten als eine Prinzessin, die nur um ihre Höherstellung in der Hierarchie der Gesellschaft kämpft.“ Der Kritiker weiß um Theaterwirkungen, die dem Dichter kaum etwas galten.

„Aber das Schicksal Eugeniens bis zu der nach allen Theaterbegriffen untragischen Auskunft einer bürgerlichen Ehe mit dem Gerichtsrat, behauptete sich wie ein unheimlich fesselnder, dumpf aufregender Roman.“ Nur ist es eben kein Roman, sondern ein Werk für Bühne, die gerade in Weimar ständig frisches Material brauchte und nie genug fand, um jederzeit höchsten Ansprüchen zu genügen. „Es ist eine Lust für den reifen Leser, sich diese reiche Verfädelung auseinanderzulegen, es ist schwer für den Zuschauer, sie sich sinnlich und gefühlsmäßig gegenwärtig zu machen.“ Schrieb Eloesser in seiner Literaturgeschichte. Was auch hieß: die Lust der reifen Leser kann für lebendige Bühnen kein Maßstab sein, selbst wenn der Intendant Goethe hieß. Neben Theodor Loos und Maria Schanda sah der Kritiker auf der Berliner Bühne noch Maria Koppenhöfer, Hansjoachim Büttner, Paul Bildt und Wolfgang Heinz, der später Intendant des Deutschen Theaters in Berlin wurde und bis heute als einer der größten Nathan-Darsteller der deutschen Bühnengeschichte gilt. Den bürgerlichen Gatten der Prinzessin Eugenie, den Gerichtsrat, gab Günther Hadank, der seit 1920 an Berliner Bühnen engagiert war, dort auch Regie führte. Goethe hat seine Rolle weit vom Vorbild in den Memoiren entfernt, die ihm den Stoff lieferten.

Sie glatt als Fälschung zu bezeichnen, wie es Rüdiger Safranski in seiner Goethe-Biografie getan, noch dazu ohne Beleg dafür den Anschein erweckend, als sei das den Zeitgenossen natürlich bekannt gewesen, ist kaum hilfreich in der Sache. Die Memoiren lieferten Stoff, lieferten bis zu einer bestimmten Grenze auch die Dramaturgie und erlauben dem Interessierten, sich den möglichen weiteren Verlauf der geplanten Trilogie vorzustellen mit oder ohne Hilfe der Notizen, die Goethe selbst als „Schema“ hinterließ. „Noch im Jahre 1823 dachte er an eine Fortsetzung der Tragödie, die ursprünglich eine Trilogie werden sollte, bedauerte er durch eine verfrühte Veröffentlichung ein weiteres stilles Wachstum abgeschnitten zu haben. Goethe verglich sich in dieser Erfahrung mit der Heldin selbst, die in der Tragödie ihr Schicksal herbeiführt, wenn sie zum Empfang bei Hofe prunkvoll eingekleidet und mit den Insignien ihres Ranges versehen, das der Hofmeisterin entrissene Geheimdokument ihrer Abstammung entsiegelt.“ Herder, alles, nur kein Bühnen-Experte, war des Lobes voll, auch Gattin Karoline, auch Schiller, von dem Eloesser freilich sicher war, dass er sich eine Begegnung der Prinzessin Eugenie mit ihrem intriganten Bruder auf der Bühne nie hätte entgehen lassen. Goethe verweigert dem Bruder generell den eigenen Auftritt.

„Goethe hat auf den Zusammenstoß zwischen Bruder und Schwester verzichtet; die Macht des Bruders, seine Einwirkung auf den König beweist sich nicht recht oder nicht fühlbar genug in ihrer Auswirkung von oben nach unten bis zu den Figuren des Sekretärs und des Weltgeistlichen“. Aber: „Jedes echte Drama ist ringförmig, es muss auf die einmal gesetzten Bedingungen zurückkommen. Die Technik dieses Schauspiels, wenn es die Heldin den abwechselnden Bewegungen aussetzt, ist die des Romans. Der Gouverneur, die Äbtissin, der Mönch zeigen sich machtlos und hilflos … es sind symbolische Vertretungen ihrer weltlichen und geistlichen Gemeinschaften, die nach Gebrauch wieder ausgelöscht werden. Eugenie ruft auch das Volk auf der Straße an, und es ist bezeichnend, dass der so klassische gewordene Dichter des Egmont diese Szene hinter die Bühne verlegt hat.“ Roman statt Drama, das ist Vorwurf und auch schlichte Feststellung. „Die Versgebung unterstützt diese Bewusstheit und Gemessenheit, der Jambus springt selten, wie im Tasso, von einer Zeile zur anderen in spontaner Leidenschaftlichkeit oder melodischer Bewegtheit, er scheint sich nach dem regelmäßigen und trockenen Taktschlag eines Perpendikels zu verhalten.“ Ein anderer Premieren-Kritiker, Fritz Engel, fürs Berliner Tageblatt im Parkett: der „Klassiker ist hier schon Klassizist.“

Am Ende wird man sagen dürfen, dass der Plan einer Trilogie, selbst wenn er nur dem Ehrgeiz entsprang, es diesem „Wallenstein“-Schiller gleichzutun, auch Goethes Pandora-Entwurf lag auf dieser Linie, die Konzeption des ersten Teiles natürlich mehr als nur peripher beeinflusst. Es lässt sich, kulinarisch, vom Frühstück im Hotel mit Vollpension kaum zuverlässig auf die Gangfolge zu Mittag und Abend schließen. Goethe hat, im Bild zu bleiben, während des Diktats der Speisekarte das Haus in ein Hotel Garni verwandelt. „Die Scheinehe zwischen einem Entsagenden und einer Verzichtenden gibt dem vorhandenen Schauspiel nur den vorläufigen Schlusspunkt einer sachlichen, keiner gefühlsmäßigen Aufnahme anvertrauten Erledigung.“ „Die hohe, einsame Dichtung, die auf dem Theater kein Echo erweckte, der nur Erfahrung und Altersreife gebührend antworten kann, wuchs aus einer ungeheuren Erregtheit und Empfindsamkeit“. Zusammenfassend ist sich Arthur Eloesser sich: „Goethe hatte der Natürlichen Tochter eine Haltung gegeben, die der modern realistische Stoff nicht vertrug. Ein Problem der Zeitgeschichte, auf einer Idealbühne mit geistigem, gedachten Hintergrund, verlor alles Elementarische und Dynamische, schloss sich Hörer und Zeugen fast abwehrend in einer großartigen Einsamkeit ab.“ Das ist nicht erst heute zu wenig.


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