Nur Ilmenau kommt zu kurz

Meine Lieblingsseiten in diesem Buch sind die Seiten 126 und 127. Querhin ist ein Familienpanorama des alten Goethe zu sehen, welches so viele Geschichten vereint, dass man stundenlang darüber erzählen möchte. Im Lehnstuhl sitzt Goethe im Hausmantel, den Kopf entnervt aufgestützt. An seiner Stirn klebt ein Pfeil, den einer der beiden Enkel auf ihn abgeschossen hat, der andere Enkel hält diabolisch grienend einen Fuchsschwanz in der Hand, am Stuhlbein zu sägen, um den Opa zu Fall zu bringen. Vor Goethe auf dem Fußboden Sohn August, eine Flasche in der Hand, zwei leere Flaschen rollen zu seinen Füßen, neben ihm steht Ottilie, die Hände empört in die Hüften gestützt. Im Hintergrund im Bett mit heraushängender Zunge Christiane, soeben verröchelt, ein Pastor an ihrer Seite. Und ganz rechts, ganz rot gewandet, wie es sich gehört: Mephisto.
 
Genau dieser Mephisto ist es, den sich Christian Moser, Jahrgang 1966, erkoren hat als Erzähler seines „Goethe. Die ganze Wahrheit“ (ISBN 978-3-551-78647-0). Die Idee ist einfach und auch deswegen gut: der Teufel verrät, was Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ und auch sonst so über sich nie erzählt hätte und hat. Mephisto ist ein minderer Teufel, der große Chef gibt sich auch mit Über-Größen wie Goethe nicht selbst ab. Mephisto aber, der, mit dem der Pakt geschlossen wird, wir erinnern uns, hat Goethe schon von klein auf beobachtet. Seine Vorstellung des langen Goethe-Lebens zwischen 1749 und 1832 ist eigentlich weniger eine Erzählung aus der Übersicht, als eine Art Live-Kommentar von Szenen und Bildern. Vor allem lässt Mephisto keinen Zweifel daran, wie wichtig seine eigene Rolle bei allem war.
 
Um das Ende vorweg zu nehmen: Natürlich hat Goethe nicht „Mehr Licht“ gesagt an jenem Märztag 1832, er hat auch kein W in die Luft gemalt, sondern ein M. Es sah halt aus verkehrter Sicht wie ein W (= Wolfgang) aus, was in Wahrheit ein M (=Mephisto) war. Mephisto hat mehr oder weniger erfolgreich versucht, Goethe von Frauen fernzuhalten, nur in Rom hat er kräftig nachgeholfen, um Faustina zu lancieren, mit der auf Seite 87 herrlich drastisch gezeigten Konsequenz. Mephisto war es, der dem ertrinkenen Mädchen zu Weimar ein Exemplar der „Leiden des jungen Werther“ in die Tasche schob, um bei Goethe Schuldkomplexe auszulösen. Den Bestseller selbst hatte er ihm auch schon im Detail zu schreiben angeraten.
 
Christian Moser räumt in einer Nachbemerkung ein, sich in der 1999er ersten Fassung des Buches zu eng an Goethes „Dichtung und Wahrheit“ gehalten zu haben. Er nennt die daraus folgenden größten Defizite. Napoleon entfiel, Goethes Mutter kam sträflich kurz. Die neue Fassung, die hier vorgestellt wird, ist noch immer stark geprägt von dieser materialen Ausgangsbasis. Man könnte gleich im Dutzend Stellen nennen, wo es ärgerliche Unschärfen, auch reine Fehler oder forterzählte Falschdeutungen gibt. Genau das aber wäre der falsche Maßstab für dieses rundum hübsche und empfehlenswerte Buch, das überdies seitens des Carlsen-Verlags Hamburg für Leser von 12 Jahren an empfohlen wird, also noch Kinderbuch genannt werden könnte. Es vermittelt ein munter-flapsiges Gesamtbild von Goethes Leben und glänzt mehr als mit seinem Text mit seinen knallbunten Illustrationen, die bisweilen seitenweise Comic sind.
 
Ilmenauer Lesern sei Seite 73 ans Herz gelegt, dort sieht man jenen Peter im Baumgarten mit Pfeife im Mund und Spitz an der Seite vor Goethes Gartenhaus, dem sich auch die Dauerausstellung im Amtshaus am Markt zugewandt hat, weil ein Teil der Lebensgeschichte des Schweizer Knaben eben in Ilmenau spielt. Herrlich der Dr. Clauer, irrer Mitbewohner, dem Goethe diktiert und der auch Zeuge der Goetheschen Puppenspiele ist neben Schwester Cornelia, die verklärten Blickes an ihrem Wolfgang hängt. Wollen wir wirklich großzügig über manch seltsame Deutung hinweg sehen, die Moser durch den Mund seines Mephisto liefert? Wir wollen. Goethe im Comic an Schillers Sterbebett ist einfach köstlich, die Texte in den Sprechblasen perfekt gewählt. Wen kümmert da noch, das Goethe natürlich nicht einmal in der Nähe des Sterbenden war? Noch die eigene Frau ließ er schreiend allein sterben im eigenen Haus.
 
Und Ilmenau? Kommt Ilmenau denn auch vor in diesem farbigen Buch? Es kommt, freilich nur an einer Stelle. Es kommt zu kurz, viel zu kurz. Wo, sei nicht verraten.
 Zuerst veröffentlich in: der NEUE Geheimrat, Ausgabe 42, 2012 S. 30


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