Von Opa Reinhold, dem Großvater in Mühlberg

Von Opa Otto kann ich nichts erzählen, denn ich sah ihn nur einmal in meinem Leben, 1954. Das war für mich ein schönes Jahr, ich lernte laufen, meine ersten Worte zeichneten sich nicht vor den ersten Worten anderer Kleinstmenschen aus, nur eines soll ihnen eigen gewesen sein: ich hängte ihnen, zurück zu Hause, schwäbische Endungen an: ich sagte Eimerle und Schaufele, wenn ich mit Eimer und Schaufel zu hausnahen Grabungen unter mütterlicher Aufsicht auszog. Opa Otto lebte in Ulm, wohin es ihn verschlagen hatte auf dem Umweg über Sylt aus seinem Deutsch Krone. Opa Reinhold aber, das war der greifbare Opa, der Opa, der immer hustete. Der Vater meines Vaters, der Bruder unfassbar zahlreicher Brüder, die alle, soweit sie nicht in einem Krieg fielen, sehr alt wurden. Es war einer dabei, der trug noch mit weit über neunzig einen Kaiser-Wilhelm-Bart und ich neige zur Behauptung, dass ich ihn mit einem Bier vor sich und Karten in der Hand in der Schenke sitzen sah, als er schon über neunzig war. Ein Bruder meines Großvaters hieß natürlich auch Otto, hatte sein kleines niedriges Häuschen unmittelbar neben dem meines Großvaters und wenn ich an ihn denke, denke ich an einen mit eher führerartigem Schnurrbart, der aus dem Fenster schaute, die Unterarme aufs Fensterbrett gestützt und nie das Wort an mich richtete.

Mein Opa Reinhold war einmal ein Bürgermeister, wie seltsamerweise auch der Opa meiner Frau einmal Bürgermeister war. Der eine wurde nach dem Krieg abgesetzt, weil er vor dem Krieg Bürgermeister war, der andere wurde nach dem Krieg eingesetzt, weil er vor dem Krieg einmal Sozialdemokrat gewesen war. Nach dem Krieg wollte er nicht mehr und nie mehr Sozialdemokrat sein. Mit dem Mist fangen wir gar nicht erst wieder an, soll er gesagt haben, Zeugen für diesen Ausspruch leben wohl keine mehr. Er gründete im Dorf mit noch einem und seinem Sohn die Ortsgruppe der KPD, sein Sohn war diesen falls mein späterer Vater, denn sein ältester Sohn kam aus der russischen Gefangenschaft nicht zurück, wo er erfror oder verhungerte oder beides, sein zweitältester Sohn war ein Bäcker, den es später nach Schwabhausen verschlug und schließlich nach Finsterbergen. Zur Familiengeschichte gehört das Bild des anderen Großvaters, des Urgroßvaters, der auch unfassbar zahlreiche Brüder hatte, der mit dem Pferdewagen die Brote und Brötchen meines Bäcker-Onkels nach Röhrensee brachte. Röhrensee war, als ich winzig war und dann klein, ein anderer Kontinent. Der Urgroßvater starb 1945, seine Frau starb 1945 und auch die Frau meines Opas Reinhold starb 1945, meine Oma. Dann war was mit den Russen und er durfte kein Bürgermeister mehr sein und sein Sohn, sein Kämmerer im Rathaus, ging auch andere Wege.

Mit den Russen war immer was, und wenn es nur der Lärm vom Truppenübungsplatz Ohrdruf war oder die Erschütterung, wenn die Panzer der Russen am Haus meines Opas vorbei rasselten. Man brauchte in diesem Fall seinen Kaffee nicht umrühren, hieß es, das besorgten die Vibrationen, die von den Panzerketten ausgingen. Der Straße schadete das nicht, weil: dieser Straße konnte nichts schaden. Sie war in einem so jämmerlichen Zustand, dass die Panzerfahrer wohl glaubten, sie seien bei sich zu Hause. Meinen Kaffee störten die Russen nicht, denn ich trank keinen. Einmal hörte ich von Mpi-Garben reden, zu denen mein Großvater tanzen sollte. Vielleicht war das antisowjetische Propaganda, also das, was der Klassenfeind Wahrheit nennt. Mein Opa Reinhold hustete. Bisweilen waren die Anfälle so heftig, dass alle Angst hatten. Selbst wenn er in seinem Sessel saß, ging es urplötzlich los. Ich lernte, dass Husten mit Spucken verbunden ist. Ich hörte das Wort Herzasthma und Erzählungen von einem, der Marmor drechselte und Staub einatmete. Auch Holz drechselte er, es gibt noch Teller von ihm und ein seltsames Gefäß für Wollknäuel zum Stricken. Ob er einen Kittel trug wie mein Schwiegervater fast immer, wenn er die Wohnung Richtung Hof oder Garten verließ, weiß ich nicht. Ich sehe nur eine sehr weite Hose, gehalten von Hosenträgern.

Der Hof war von außen nicht einsehbar, eine Mauer und das Tor mit Tür waren zu hoch. Im Hof in der Ecke der Mist, über dem Mist die Kästen, in denen die Hühner ihre Eier legten, falls sie nicht Lust hatten, sie anderswo zu legen. Wer die Eier aus dem Stroh klauben wollte, musste auf den Mist steigen. Es gab auch Eier aus Keramik, die nur aussahen wie Eier, was mich wohl wunderte, aber nicht fragen ließ, welche Bewandtnis es damit habe. Meine scheinbar unterentwickelte Neugier war gar nicht unterentwickelt, denn es gab viel interessantere Dinge in diesem Hof. Beispielsweise kolossale Kreuzspinnen in kolossalen Netzen, die ein perfekter Luftgewehrschütze wie mein Vater Oswald aus der Mitte schießen konnte, ohne dass dem Netz ein Schaden geschah. Am Mist das Häuschen, dessen Plumpsloch mit einem sehr abgegriffenen Deckel verschlossen wurde, der Blick in die Tiefe zeigte ebenfalls Spinnennetze, jede Sitzung ein Grusel bei dem Gedanken an sie. Einige Kaninchenställe an der Wand, ich durfte unter tätigem Wohlwollen von Opa Reinhold mächtige Langohren auf den Arm nehmen, was sie wunderruhig duldeten. Wenn aber Aufkauf war, dann wandelte sich dieser Hof in einen Tierpark für den sprachlos begeisterten Enkel. Alle aus dem Dorf lieferten Kleintiere ab, die ich in ihren Käfigen bestaunte, berührte, beroch: Enten, Gänse, Hühner, Kaninchen, die Welt außerhalb dieses Hofes war streng genommen vollkommen überflüssig.

Doch nur an diesen Tagen, von denen ich nicht weiß, wie oft es sie gab. Ich weiß nur, dass bares Geld in eine Metallkasse wanderte und aus ihr heraus. Sonst aber war die Welt außerhalb des Hofes natürlich überhaupt nicht überflüssig. Auf der anderen Straßenseite plätscherte ein Brunnen. Er ersetzte dem Haus des Großvaters die Wasserleitung, die es nicht gab. Alles Wasser, das benötigt wurde zum Waschen, zum Kochen, zum Saubermachen, zum Baden, musste in Eimern von dort geholt werden. Im Brunnen schwammen große schwarze Wasserkäfer, denen ich stundenlang zuschauen konnte, ich fing gelegentlich einen mit der Hand und ließ ihn in einem Glas schwimmen. Sie waren flink, diese Käfer und sie glänzten leicht grünlich. Vom Brunnen floss das Wasser in einem Überlauf in eine schmale Rinne. Die jedoch breit genug war, dass Enten in ihr schwimmen konnten, als es im zweiten Hof auf der anderen Seite noch Enten gab. Dieser zweite Hof war vom Geflügel völlig kahlgefressen, es stand dort ein Hackklotz, auf dem Holz gehackt wurde für die Heizung. Auf diesem Hackklotz verloren auch die Hühner unterm Beil ihre Köpfe, ehe sie zur Basis der herrlichsten Hühnersuppen wurden, die ich in meinem Leben kennenlernte. Grete fabrizierte sie, die zweite Frau meines Großvaters, die aus dem Rheinland nach Thüringen gekommen war.

Im Hof lagen unter Dach auch Eierkohlen, einmal flatterte ein bereits enthauptetes Huhn auf die höchste Höhe dieses Kohlenhaufens und taumelte dort seltsam umher. Ich ließ mich nicht überreden, es herunter zu holen, die Mühe musste sich Opa Reinhold selbst machen. Hinter dem zweiten Hof begann ein Obstgarten, der sich bis zum Ochsengraben hinzog, hier war der Boden nicht kahl gefressen, hier standen Beerensträucher und natürlich Obstbäume, Kirschen vor allem, wenn mich das Gedächtnis nicht trügt. Der Weg zum Schloss führte durch den Ochsengraben, unser Weg. Auf der erhöhten Mitte standen Obstbäume, am Ende ein schmaler Wasserlauf, der auf großen Steinen gut, aber nicht ganz ungefährlich zu überqueren war. Die Steine waren teilweise bemoost und glitschig und ich will glauben, dass ich manchmal länger auf ihnen balancierte, um den Stichlingen zuzuschauen, die dort im flachen Wasser hin und her flitzten. Für mich Kind war der Weg zum Schloss weit und anstrengend, es ging nur bergauf und irgendwann lag die Mühlburg links oben und zu unserem großen Garten, zu unserem Riesengarten, mussten wir geradeaus. Nichts hat mir deutlicher beigebracht, wie extrem kindliche Größenerinnerungen täuschen. So wie die Fahrt mit der Bahn nach Haarhausen oder Sülzenbrücken eine lange war, so gigantisch der Garten.

Eine Zeit war Opa Reinhold noch gesund genug, den Weg nach oben zu gehen, sogar mit Handwagen oder Tragkorb, später ging das nicht mehr. Ich soll einmal abwärts die Gewalt über den Handwagen verloren haben, den ich mehr rollen ließ als zog und das Ergebnis war so, dass mein Opa mir richtig böse war, das einzige mal in seinem Leben, wie mir immer wieder versichert wurde. Der Handwagen kippte um und die Äpfel, der heraus kollerten, verwandelten sich durch den Sturz in Fallobst, das einen deutlich niedrigeren Preis hatte. Was für herrliche Bäume standen in diesem Garten, anfangs auch noch Unmengen von Beerensträuchern aller Art, für die sich aber nach und nach niemand mehr fand, sie kahl zu ernten. Ich sehe gigantische Pflaumen vor mir, Apfelsorten mit rauer Schale, die in ihren Stiegen ewig frisch und schmackhaft blieben, Birnen diverser Größen und Saftigkeit, gleich vorn links ein Baum, der nur von einem Kletterer geleert werden konnte, weil keine Leiter bis zu den guten Ästen reichte. Ich erfuhr, das Opa Reinhold ein begnadeter Veredler war, und ahnte nicht, was das sei. Nie im Leben habe ich mehr Knorpelkirschen gleich auf dem Baum gegessen, als in diesen Jahren. Und mit aktiver Erlaubnis des Opas war ich schon ein Westfernseher, Jahre bevor wir zu Hause in Gehren überhaupt ein Gerät hatten.

Ich habe in fester Erinnerung den Früh-Schoppen mit Werner Höfer, den ich immer sah, ohne vermutlich sonderlich viel zu verstehen, worum es ging. Die wahren Radsportfreunden älteren Semesters noch sehr geläufige Amateur-Weltmeisterschaft auf dem Sachsenring 1960, als Täve Schur erst den acht Jahre jüngeren Belgier Willy Vanden Berghen niederrang und dann Bernd Eckstein den Titel überließ, obwohl er selbst seinen dritten WM-Titel in Folge hätte gewinnen können, ist ein frühes Erinnerungsstück geblieben wie auch der Onkel Otto des hessischen Werbefernsehens. Dass Opa Reinhold während der „Aktion Ochsenkopf“ die Demontage der West-Antenne verweigerte und auch keinen Fremden auf sein Dach ließ, kenne ich aus den Familien-Erzählungen. Als er dann eines Tages im Krankenhaus in Gotha lag, krank auf den Tod, durfte ich ihn einmal in Begleitung besuchen. Ich habe kein Bild mehr davon im Kopf, aber das sichere Gefühl eines tiefen, eines unendlich tiefen Verstörtseins. Das war nicht mein Opa, sagte mir mein Gefühl. Am 7. Juni 1966 ist er gestorben, heute vor 50 Jahren. Sein Grab gibt es nicht mehr. Auf der Platte stand: Reinhold Ullrich, dazu die Daten 20. 9. 1892 und 7. 6. 1966. Mit meinen eben 13 Jahren verpasste ich die Abfahrt zur Trauerfeier. Ohne Vorsatz, aber, deute ich es heute, in tiefem inneren Einverständnis mit mir selbst. Es wäre mir zu nahe gegangen. Ich liebte meinen Großvater.


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