Mulackstraße 25

Meine DDR hieß auch Mulackstraße 25. Vier Jahre lang. Und ich bin froh, dass mir ein Freund, nach meinem Wegzug aus Berlin 1980, eine kleine Serie von Schwarzweiß-Fotos schenkte, die in meinem Dreh entstanden, denn eigene Bilder aus jenen Jahren besitze ich, mangels geeigneter Kamera, nur sehr, sehr wenige. Ich bin in die Mulackstraße gekommen, weil in der Kleinen Auguststraße Nummer 6, wo das Studentische Wohnungsamt Singerstraße mir ein Zimmer zugewiesen hatte, der Vormieter, obwohl er nicht mehr an der Humboldt-Universität studierte, einfach nicht auszog. Das Amt hatte offenbar eine Art von Konfliktscheu oder der unberechtigte Bewohner hatte Beziehungen oder eine bestimmte Firma brauchte in der Gegend einen unverdächtigen inoffiziellen Mitarbeiter. Ich habe es nie erfahren und noch weniger Lust verspürt, es zu ergründen. Ich hätte einen miesen Blick zur Seite raus gehabt in der Kleinen Auguststraße, dafür aber ein fast feudales Treppenhaus, verglichen mit dem meinen dann in der Mulackstraße, das doch, nun ja, eher eng war.

Ich bezog in der Mulackstraße 25 ganz oben eine so genannte Kochstube. Das Amt berechnete mir dafür eine Monatsmiete in Höhe von 17,30 Mark der DDR. Eine Kochstube zeichnete sich dadurch aus, dass sie ein einziger Raum war, ohne fließendes Wasser in diesem Fall, ohne eigene Toilette. Das Wasser fand ich eine halbe Treppe weiter unten, die Toilette eine halbe Treppe weiter oben. Die Toilette war so gebaut, dass die Schüssel in der Diagonale ausgerichtet stand, weil sie sonst nicht hineingepasst hätte. Stand ist eine euphemistische Umschreibung ihres tatsächlichen Zustandes, denn sie wackelte in ihren Verschraubungen mit dem Holzboden wie der berühmt-berüchtigte Lämmerschwanz. Menschen, die größer waren als vierjährige Kinder, konnten diese Toilette nur benutzen, wenn sie die Tür nicht vollständig schlossen, ein Knie war immer zu viel an Deck. Immerhin gab es innen im Bretterverschlag ein separat zu betätigendes Licht, dessen Leistung freilich davon abhing, ob eine Birne eingeschraubt war. Was selten bis nie vorkam, denn Glühbirnen, die man nicht bezahlen, nur raus drehen musste, waren begehrte, offenbar sehr begehrte Objekte.

Für kleinere Geschäfte reichte das Minutenlicht des Treppenhauses und diesem Minutenlicht verdanke ich den unerwarteten Anblick eines fliehenden Studentinnen-Hinterteils von durchaus imposanter Formung. Die unter mir wohnende junge Dame hatte das Örtchen, so dann meine klärende Interpretation, zu den erwartbaren Zwecken besetzt, das Licht war ausgegangen, es einzuschalten, bedurfte es einige Stufen abwärts, bei welcher Bewegung die Dame gegen meine Kochstubentür polterte, was mich wiederum dazu brachte, selbige zu öffnen, um den Grund des heftigen vermeintlichen Einlassbegehrens zu erfahren. Da sah ich, siehe eben. Ganz unten im Haus befand sich eine weitere Toilette, was für die bei Vollauslastung des Hauses inklusive Seitenflügel inwohnenden dreizehn Mietparteien dann auch schon alles war. Im kalten Katastrophenwinter 78/79 war nicht nur das fließende Wasser im Treppenhaus eingefroren, sondern auch einer der beiden Porzellanansitze, die Entsorgungsdetails dieser Zeit erspare ich mir in Erinnerung zu rufen.

Meine Kochstube verfügte über einen kombinierten Gas-Kohle-Herd, der im Nebenjob als Ofendarsteller zu agieren hatte, was ihm bei ständigem Nachschub in wunderbarer Weise gelang. Er erkaltete jedoch beinahe noch rascher als er sich erwärmte, und ein Student, der mit 155 Mark monatlich inklusive Berlin-Zulage in Höhe von 15 Mark mit den im Berolinahaus am Alexanderplatz zu holenden Kohlenkarten für preiswerte Briketts auskommen musste, neigte im Zweifelsfalle dann doch immer eher zu Nahrung als zu Heizung. Die Kohlen konnte ich, wenn ich aus der Mulackstraße in die parallele Steinstraße marschierte, bei einem dort am hinteren Ende ansässigen Kohlenhändler in Klein- und Kleinstportionen abholen. Es gab alte Frauen, die rollten ihre Kohlen in ausrangierten Kinderwagen heimwärts, sogar in den damals allgegenwärtigen Netzen mit Lederhenkel wurden sie nach Hause getragen. Man konnte freilich auch Träger anheuern mit Stapelkästen auf dem Rücken, die pro Etage zusätzliches Trinkgeld einforderten. DDR-Omas mit Mindestrente waren dafür jedoch wie Studenten und Studentinnen nicht zahlungskräftig genug.

Ich transportierte meine Kohlen im Zentnerbündel mit Stahlband umschlossen auf einer gewöhnlichen Sackkarre bis an meine unterste Treppenstufe. Die Sackkarre stellte der Kohlenhändler unentgeltlich leihweise zur Verfügung, auch einen einhakbaren Henkel für das Stahlband dazu, so dass ich nun nur noch bis oben keuchen musste, was meine Konstitution nahe an den Kollaps brachte. Die Kohlen landeten unter meinem Aufwaschtisch, so dass ich die beiden Spül-Schüsseln trotzdem noch nach vorn ziehen konnte. Ohne Holz ließen sich die großen Briketts nur mittels Kohlenanzünder anfeuern. Die sozialistische Kohlenanzünderwirtschaft, zentral geleitet, hatte für solche Zwecke zwei Sorten in petto, eine aus Holzhäcksel und Verbundmasse, die wirkte wie die so genannten Sauerkrautplatten des Bauwesens, aber einen bohnerwachsartigen Geruch verbreiteten. Eine solide dicke schwarze Kohle einfach so aus dem Stand in Glut zu setzen, gelang diesen Exemplaren bei mir selten bis nie.

Die wie zufällig deutlich teurere schneeweiße Variante des Kohlenanzünders aus mir unbekannten Chemikalien war ihren Aufgaben dagegen sehr gut gewachsen, schon kleine Brösel davon erfüllten ihren Zweck. Das Gas für die beiden Kochstellen hatte in der Mulackstraße phasenweise einen Druck, dass ich meinen Teewasserkessel beruhigt aufsetzen konnte, um zur Vorlesung zu gehen. Wenn ich heimkehrte, summte das Wasser leise. Was mich im Ganzen aber nur ein einziges Mal wirklich ärgerte, denn danach wusste ich, dass man mit dem Wasser aus der Mulackstraßen-Wasserleitung keinen Tee kochen konnte. Er sah eklig aus, bedeckt wie mit einem Ölfilm und schmeckte einem verwöhnten Teetrinker geradezu entsetzlich. Kaffee dagegen entwickelte so viel Eigengeschmack, dass das Wasser nicht mehr merklich ins Gewicht fiel. Also stellte ich auf türkischen Kaffee um und erzeugte das heiße Wasser dazu mit einem Tauchsieder.

Für mein Selbstbewusstsein war die Art und Weise, wie ich den Zuschlag für die Mulackstraße 25 erhielt, von kaum zu unterschätzender Langzeitwirkung. Vom Augenblick an, da ich beschlossen hatte, das Studentensilo „Victor Jara“ in Biesdorf mit seinen vom Flur aus zu beheizenden Kachelöfen zu verlassen, eilte ich mit Regelmäßigkeit ins studentische Wohnungsamt Singerstraße. Dienstag und Freitag waren dort meine Sprechzeiten, ich kam, ich saß und ich erhielt eine Absage. Manchmal waren die Absagen sogar mit rhetorischem Beiwerk oder argumentativem Schmuck versehen. Das häufigste Argument, das sich hörte, war: Warum ziehen Sie denn nicht mit zwei oder drei Kommilitonen zusammen, da haben wir sehr viel eher etwas im Angebot? Ich wiederholte meine von kleinbürgerlichem Individualismus durchtränkte Aussage: dann hätte ich ja gleich in Biesdorf bleiben können.

Dann, eines Freitags, öffnete ich die Tür zum Wartezimmer, es saß keine Studentenseele drinnen und an der Tür, hinter der die kleinen Glücksportionen verabreicht wurden, hing eine Papptafel: Keine Wohnungen, Nachfragen zwecklos. Ich öffnete die Tür, zwei Kinnladen klappten nach unten und wenig später hatte ich die Zuweisung zu meiner Kochstube Mulackstraße 25. Die Kinnladen erläuterten mir die Grusligkeit ihres eigenen Angebots, nicht einmal richtig dicht seien die Fenster und ungestrichen ohnehin wie die Tür auch, sie jedenfalls würden, wenn sie ehrlich seien, diese Bude nicht nehmen. Um Mobiliar müsse ich mich selbst kümmern und alles andere auch. Heute führe ich bisweilen Verwandte ersten bis dritten Grades und auch Familienfremde an die Stelle auf der anderen Straßenseite, lege den Hals in den Nacken und zeige nach oben: Da oben waren meine beiden Fenster.


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