Dürrenmatt: Untergang und neues Leben
Am 14. Dezember 1990 starb Friedrich Dürrenmatt, fast auf den Tag drei Wochen vor seinem 70. Geburtstag. Er hatte also das Alter eigentlich noch nicht, da man verzweifelt in den unteren Schubladen kramt, den Moloch Buchmesse pünktlich zu beliefern, wenn da auch schon eine vielbändige Werkausgabe vorlag, die Bände teilweise durchaus mager an Umfang. Dürrenmatt war nicht allzu willig in die Rolle des lebenden Klassikers der Nachkriegsmoderne gerutscht, immer diesen Max Frisch im Nacken, der, zehn Jahre älter, irgendwann fast jünger wirkte, wenngleich er dann auch nicht viel länger lebte. Von ringsum Blicke auf die „Dioskuren“, die keine sein wollten und doch letztlich solche waren. Man muss wissen, dass Diabetes den Mann unförmig machte, wohl allen, denen ihr Internist die Hauptnebenwirkung sehr vieler Diabetes-Medikamente frühzeitig ansagt: zwei Kilo pro Jahr, mehr geht immer, weniger nur mit irrer Anstrengung. Friedrich Dürrenmatt hat sein Frühwerk „Untergang und neues Leben“ tatsächlich reichlich 35 Jahre der Öffentlichkeit vorenthalten, ehe es 1980 in die Werkausgabe rutschen durfte. Es ist das Endstadium einer Text-Metamorphose aus dem Jahr 1951, Vorfassungen trugen die Titel „Der Knopf“ und auch ganz schlicht „Komödie“. Am Todestag ist „Untergang und neues Leben“ auch vom Titel her erste Wahl, der aus vierzehn Szenen bestehende Text beansprucht mindestens Aufmerksamkeit.
Liest man die nicht einmal dreißig Druckseiten in halbwegs solider Kenntnis deutschsprachiger und europäischer Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, wird man geradezu überfallen von Assoziationen zu Einflüssen, zu Parallelen, möglichen Anregungen. Menschen mit Veranlagung zum Literaturdetektiv werden allein die Aussage Dürrenmatts selbst, dass einige Expressionisten Spuren hinterlassen haben, als Fahndungsauftrag verstehen. Dürrenmatt nennt Soergels „Dichtung und Dichter der Zeit“, zwischen 1911 und 1928 in nicht weniger als zwanzig Auflagen erschienen, erfolgreichere Literaturgeschichten der Moderne gab es wohl nie. Ganz einflusslos kann also das von ihm gern schlecht geredete Germanistik-Studium in Zürich und Bern doch nicht gewesen sein und es ist für in Chemnitz lebende Freunde lokalgeschichtlicher Nebenaspekte sicher nicht ohne Interesse, dass der Kern-Sachse Wilhelm Albert Soergel (15. Juni 1880 bis 27. September 1958) den Schweizer Dürrenmatt in seinen Anfängen heftig beeindruckte. Soergel war mehr als dreißig Jahre Professor in Chemnitz und verlor seinen Lehrstuhl 1945 wegen nationalsozialistischer Aktivitäten. Es herrschte wohl eine fast berufsbedingte Affinität der Germanistik zum politischen Germanenkult, noch vierzig Jahre jüngere Großgermanisten mussten im Alter beschämt den Blick zu Boden senken, als ihnen ihre diesbezügliche Vergangenheit vorgehalten wurde. Wenn sie es denn taten.
„Untergang und neues Leben“ zeigt Dürrenmatt in einer Weise, die man nicht erwartet, wenn man nur spätere Texte von ihm kennt. Es klingt nach Beckett und nach Borchert, absurd, grotesk, endspielhaft, alle auftretenden Figuren sind namenlos bis auf einen einbeinigen Gitarrenspieler namens Rasputin und einen Lustmörder Nabelpfiff, einen Namen hat auch die auftretende Hure, nur nicht gleich im Personenverzeichnis. Hauptperson ist DER FREMDE, der so pur natürlich an Albert Camus denken lässt, er verklammert gewissermaßen die Stationen des Bilderbogens, in dem auch viel gesungen wird, hier wieder mag man an Brecht denken. Auch diesen Einfluss hat der Dramatiker selbst benannt: Er sah im Schauspielhaus Zürich während der Arbeit an der frühen Fassung „Der Knopf“ Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“. Gleich das eröffnende Bühnenbild wartet mit Makabrem auf: Man sieht einen schlafenden Soldaten ohne Arme und Beine und an einer Laterne baumelt ein nackter Mann, genauer, man sollte ihn sehen, denn gespielt wurde das ja nicht. Der Fremde will vom Soldaten Antwort auf die Frage, warum wir leben, es könnte Borcherts Beckmann von der Seite die Szene betreten und rufen: Gibt denn keiner, keiner Antwort? Die nackte Leiche aber ist nicht tot. Sie spricht auf alle Fälle und zündet sich eine Zigarette am Mond an. An einem Mond, der abnehmbar ist wie eine Laterne vom Wandhaken.
Jan Knopf, einst in Arnstadt gebürtiger Verfasser des noch 1987 in der späten DDR nachgedruckten Buches „Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt“, hielt seine Hilflosigkeit dem Frühwerk gegenüber mit dem Satz fest: „Es fällt schwer, den Erstling konkreter zu beschreiben, dessen weitgehend expressionistische Sprache die Dunkelheiten noch verstärkt.“ Er glich es aus durch Verweise auf geistige Einflussgrößen, wobei ihm (oder dem DDR-Verlag, der als Lizenznehmer vielleicht keinen Korrektor mehr ans Manuskript ließ) dumme Fehler unterliefen. Hans Sedlmayr, der österreichische Kunsthistoriker, der 1948 mit seinem Buch „Verlust der Mitte“ einiges Aufsehen erregte, verwandelte sich unversehens in Walter Sedlmayr, den dreißig Jahre jüngeren Volksschauspieler, der als Mordopfer im Schwulenmilieu zwar ebenfalls für Aufsehen sorgte, aber halt in ganz anderen Zusammenhängen. Hans Sedlmayr lebte vom 18. Januar 1896 bis 9. Juli 1984 und war früh NSDAP-Mitglied (1930, und das in Österreich!). Man müsste fast die Frage stellen, ob es denn Dürrenmatt damals völlig gleichgültig war, wer seine Gewährsmänner waren, wenn sie es denn waren. Andererseits sollte auch nicht die Art, wie Max Frisch im Gegensatz zu ihm mit deutscher Realität umging, einfach zum Maßstab genommen werden. Beider Wirklichkeitsverhältnis ist ein eigenes Thema und keineswegs Neuland in der Darstellung ihrer Biographien.
Die Hure spricht den Fremden an und will von ihm als Lohn für ihre Dienstleistung getötet werden, der Fremde tut es tatsächlich. Der einbeinige Rasputin singt das Lied vom Erbarmen mit den Ratten. Und in der sechsten Szene erscheint ein General. Ihn fragt der Fremde: „Was machst du nun unter deinen Spinnweben?“ Und der General antwortet: „Was die Generäle immer machen, wenn sie vergessen sind: Ich mache beim Sekt Erfindungen.“ Er will nicht nur die Maschine erfunden haben, die die gesamte Welt vernichten kann, sondern auch das Gähnen. Ihm kommt es, wie er sagt, auf eine Welt mehr oder weniger nicht an. Rasputin singt etwas, was auch eine Assoziation auslöst: „Dein Generalissimus ist der Tod, // Ein sehr vortrefflicher Meister.“ Aus Deutschland, fehlt da nur noch, war das nicht dieses berühmte, dieses über alles berühmte Gedicht vom Tod als Meister aus Deutschland? Dann steht Rasputin mit Gitarre auf einer Mauer und diese Mauer konnte gar nicht gemeint sein 1951 und wird dennoch mit gemeint, weil eben ein Clown auch auf der Mauer Gitarre spielte in einem Lied eines Biermann. 1980 und später liest man das mit und man weiß dabei, dass Anachronismen Kunstmittel sind. In Szene 11 aber wird es makaber: Ein Henker und sein Sohn braten Eier auf dem elektrischen Stuhl, auf dem der General hingerichtet werden soll. Der Henker spricht: „Geehrter Herr General! Sie treten jetzt einen neuen, wichtigen Abschnitt Ihres Lebens an: Sie sterben.“
Für die Werkausgabe schrieb Friedrich Dürrenmatt zur Entstehungsgeschichte: „Die Handlung ließ ich, auch viele Szenen; neu ist eigentlich nur die Szene mit dem General, der in der ersten Fassung Valden hieß, der Name des Fremden war Adam, der der Maschine Yggdrasilus. Auch das Schlussgedicht schrieb ich 1951.“ Man sieht, das war sehr ambitioniert, denn es versuchte, Bezüge anzudeuten, die sich aus dem Text ohne Anmerkungsapparat kaum ergeben können. Dass der Fremde dem Betrunkenen, der sagt, es gebe keine Schuld, entgegenhält: „Sie ist das einzige, was ist.“, überfordert die Szenenfolge dann doch deutlich. Aus einem nicht gedruckten Vorwort Dürrenmatts zitierte Jan Knopf: „Wie die Zeit geworden ist, müssen wir sie ertragen. Im Ertragenkönnen liegt die Gnade. Aber Pflicht ist, Raum zu schaffen durch den Geist: Dass im Wort wieder alles eins sei, das Wort Fleisch werde.“ So viel Christlichkeit verblüfft an Dürrenmatt nur, wer die Aussagen von Max Frisch zu ihm nicht kennt, von dem nicht bekannt ist, ob er die Szenen schon vor deren Erstdruck las. Dürrenmatt wollte auch, so steht es in diesem Vorwort, dem Werk keine Breitenwirkung erhoffen: „Meine Komödie gehört nur in wenige Hände. Sie ist den Menschen bestimmt, die wissen, und es sind wenige.“ So exklusiv wollte er später nicht mehr sein und das ist nichts, was zu bedauern wäre.