Reto Flückiger und der Brückenspringer

Wer hie und da, wie ich, einen alten oder gar uralten Tatort anschaut, weiß, dass früher bisweilen unfassbar öde Folgen gedreht und gesendet wurden, es gab anfangs furchtbar viele Kommissare, die in offenen langen Mänteln mit Hüten auf dem Kopf unterwegs waren, als hätten ihre Erfinder zu viele Chandler-Verfilmungen gesehen, was sie natürlich auch hatten. Oder zu viel Peter Falk, der sich über Jahre bis in die winzigsten Details von Folge zu Folge selbst kopierte, das Grundschema wurde nie wirklich abgewandelt, nur dieser Columbo wurde älter und älter, die Verdächtigen sahen immer wie Lackaffen aus, die Frauen hatten unverrutschbare Betonfrisuren, die Männer trugen die Hosen so weit oben, dass man kaum hinschauen konnte. Und heute, ausgerechnet heute, wo im allgemeinen noch der ödeste Tatort versucht, dem wirklichen Leben nahe zu sein, wo die Themen schneller in die Abendunterhaltung als aus den öffentlich-rechtlichen Fernsehberichten heraus geraten, sind die Meckerer vom Dienst wie die Gesellschaft insgesamt: sie glauben, die Basis alles intelligenten Lebens sei die Besserwisserei. Bringt ein Tatort nur noch Späße auf Kosten der Fälle, ist es nicht gut, haben die Kriminalisten beiderlei Geschlechts nur noch mit sich selbst zu tun, ist es nicht gut, ebenso wie das jeweilige Gegenteil. Früher ging Hansjörg Felmy immer zu seiner geschiedenen Frau und fand dort Trost, heute soll Delia Meyer möglichst vom Asia Shop lassen.

Der Schweizer Tatort steht von Beginn unter schärfster Beobachtung wie ein neu in eine Dorfklasse gekommener Schüler, der noch dann der Neue bleibt, wenn er alles mindesten so macht wie alle anderen auch. Krimi ist Konvention, einem gefilmten Vertreter von Konvention vorzuwerfen, er sei konventionell oder, besonders hübsch, „eher“ konventionell, was die Frage offen lässt, was er dann später ist, ist albern. Wir reden nicht von Neunmalklugen, die, wie für SPIEGEL ONLINE einer, nicht einmal mitbekommen, wer Regisseur der zwölften Folge ist und auch nicht bis drei zählen können, wenn es um tatsächliche oder vermeintliche Selbstmörder geht, die diesem Busfahrer, der früher Lokführer war, vor Lok und Bus springen. Da sieht jemand den Aufwärtstrend, dort jemand das Ende des Aufwärtstrends. Ist es wirklich wichtiger, aufzuzählen, was in einem Tatort alles nicht vorkommt, als was vorkommt? Wäre ein Film für die Rubrik „Spielfilm der Woche“ ein besserer Tatort geworden? Noch mehr Traumatisierung des Busfahrers hätte ich nicht sehen müssen, meine Phantasie reicht hin, mir schon einen solchen Suizid als Alptraum für den unschuldig Betroffenen vorzustellen. Delia Meyers Kuss mit der Asia-Dame deutet hinreichend hin, wohin es deuten soll. Ich ahne Schlimmstes: wenn es nun schon schwule und lesbische Kriminalisten gibt, wann rücken die ersten an, die jede Geschlechtsidentität ableugnen und alle Trenntoiletten boykottieren?

Natürlich ist es nach dem starken Anfangsakzent, als der Busfahrer Beni Gisler (Michael Neuenschwander) die Leiche unter seinem Bus hervorzerrt und wild gegen sie tritt, ruhiger zugegangen. Dergleichen nennt man Dramaturgie. Dramaturgie ist nicht, wenn es wild beginnt und dann über anderthalb Stunden immer wilder wird, dann müsste man den Erfinder der Story vermutlich beobachten lassen, ob er nicht vielleicht doch an den Folgen eines Sturzes vom Wickeltisch in seiner Kindheit mehr leidet, als bisher anzunehmen war. Bei Columbo waren neunzehn von dreizehn Mördern solche, die seine Frau schon immer bewunderte und von denen er gern ein Autogramm für Frau, Neffe oder Nichte mitgenommen hätte, ehe er den Mann, die Frau den Handschellen oder dem freiwilligen Mitgang überantwortete. Die Wiederholung hat, davon leben Serien und Reihen, Wiedererkennungseffekte zu kultivieren. Was wäre aus Schimanski geworden ohne sein Dauerkeuchen und Dauerhecheln, „Atemlos“ hätte Helene Fischer schon kurz nach ihrer Geburt singen müssen. Also Reto Flückiger und Liz Ritschard haben es mit einer Leiche zu tun, die gar kein Selbstmörder ist. Der traumatisierte Busfahrer muss hinreichend lange keine detaillierte Erinnerung haben, bis er die Mörderin, vorerst als zweite Person auf der Brücke, vor dem inneren Auge hat. Die Leiche war auf dem Papier schon etliche Jahre tot: Tsunami-Opfer.

Wirklich ärgerlich war für mich, weil ich es überwunden glaubte, die Zeichnung des Vorgesetzten Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der zurückfallen musste in seine Anfänge, wo er die unübertroffene Fehlbesetzung eines Chefs war, die man aus unendlich vielen Krimis einfach satt hat. Solche begriffsstutzigen, von der Arbeit ihrer Untergebenen weniger als nichts verstehenden Chefs bei „Leib und Leben“ oder wie immer die Mordkommission heißen möge, sind so arg klischiert, dass jeder Ploterfinder zuerst denken sollte: auf keinen Fall noch so einen Trottel, Zausel, Netzwerker, Pressepaniker, Innenminister-Devoten, die Reihe ist längst zu lang, eine Endlosschlange der Einfallslosigkeit. Als hätte es nicht schon Chefs gegeben, die allein im Büro eine Beatles-Platte auflegten, nicht zu reden von Chefs auf der Flucht vor ihrer Gattin. Dann lieber Staatsanwältinnen, die erst dann einen Haftbefehl ausstellen, wenn mehr als vierzig Augenzeugen den Mörder als Mörder identifiziert haben. Diese Rechtsstaats-Ikonen sind wenigstens immer noch so hübsch, dass man gern in ihr Büro geht, um sich die Dürftigkeit der eigenen Indizien um die Ohren hauen zu lassen. Mattmann war der Volldepp in Folge 12 aus Luzern, man sollte ihn in Pension schicken oder sich eine Wandlung ausdenken, die glaubwürdig sein müsste natürlich, denn wenn die Welt der Polizei solche Chefs en masse hätte, müsste man fortan der Selbstjustiz den Vorzug geben.

Gelernt habe ich, was für eine wuchtige Institution ein Konkursamt ist, es sieht aus wie im Archiv der Stasi, das freilich auch nur ausgesehen hat wie ein Archiv. Es stehen graue Kästen da, aus denen Liz Ritschard mal eben ein Blatt maust, damit die Grenzen des Erlaubten aufs Attraktivste überschreitend. Gegen den Trend zu Horrorbildern hat der Schweizer Tatort „Zwei Leben“ das Gesicht ohne untere Hälfte nicht gezeigt, während sonst ja der Einsatz von Miniaturkameras auf dem Rücken der Zersetzungsmaden in der Pathologie unmittelbar bevorsteht: wir werden sie schmatzen hören, während der Sektionsassistent in sein Butter-Croissant beißt, nicht ihn. Auch hier sind die Hauptverdächtigen nicht die Täter und es gibt am Ende sogar eine echte Umarmung, die Trost spendet für die Täterin. Der Mann, der am Unfallort wohl den gegen die Leiche tretenden Busfahrer filmt, dann aber nie wieder in Erscheinung tritt, dafür aber seinen Film offenbar zu Denunziationszwecken dem Busunternehmen zuleitet, gehört in die Rubrik Schwächen des Films. Auch Businsassen, die halbwegs vorn saßen, hätten durchaus eine Zeugenrolle spielen dürfen. Immerhin, es gibt einen Moment im Film, da der Regierungsrat sich dort zu einem „Gute Arbeit!“ herablässt, was die guten Arbeiter prompt mit vielsagenden Blicken quittieren. Wer die Urkunden an der Wand bei Dr. Sonja Roth (Stephanie Japp) ernst nahm, ahnte vor dem Finale schon fast alles.

Die Psychologin nämlich ist die Tochter eines Mannes, der im Rollstuhl sitzt nach einem Suizid-Versuch, der ihm beide Beine kostete. Dieser Mann war einst eines der Opfer des rücksichtslosen Unternehmers, der seinen Tod im Tsunami vortäuschte, um einem Konkursverfahren zu entgehen und die Gläubiger zu prellen. Seine Familie, Frau, Sohn, Schwester hüten das Geheimnis, bis schließlich die gar nicht so demente Schwester das Geheimnis preisgibt. Auch die Psychologin ist traumatisiert, auf ihre Weise, und sie hat die Chance, sich zu rächen, genutzt. Die Rache des Busfahrers an ihr findet schließlich nicht statt, dafür nimmt er sie in die Arme: ein Opfer mit dem denkbar tiefsten Verständnis für eine Mörderin. Das ist keine völlig neue Konstellation, aber eine, die noch zu berühren vermag. Vielleicht sollte in einem der nächsten Folgen aus der Schweiz einmal getestet werden, ob die Nachricht von einem neuen Fall den oder die Kriminalisten einmal ausnahmsweise nicht in einem denkbar ungünstigen Augenblick erreichen könnte. Flücki Flückiger hätte wenigstens kurz etwas vom Leben haben können mit dem Glas in der Hand am romantischen Wasser. Und dem Regierungsrat Mattmann könnte das Drehbuch, hier verantworteten es Felix Benesch und Mats Frey, ja mal zwei Enkel ins Büro jagen, die den Opa vor Zeugen in höchste Verlegenheit bringen. Im wirklichen Leben haben solche Opas tatsächlich bisweilen echte Enkel.


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