Reto Flückiger, Rückennummer 7

In seinem vierzehnten Fall trägt Reto Flückiger (Stefan Gubser) auf einem blauen Trikot mit seinem Namen die Rückennummer 7. Denn er war mit dem Sohn seiner Freundin zum Fußball. Das tut man eben, auch wenn die Lieblingsmannschaft nicht direkt zur Weltspitze oder auch nur zur Schweizer Spitze gehört. Am Abend der Erstausstrahlung dieser „Tatort“-Folge klang die Freude über den Heimsieg des FC Luzern gegen den FC Lugano am Vortag noch nach, eine Woche später gab es, wieder zu Hause, eine Heimniederlage gegen den souveränen Tabellenführer Young Boys Bern und so steht man halt auf dem vorletzten Platz in der aktuellen Tabelle. Für den Film ist das natürlich ohne jede Bedeutung, das Outfit des Kommissars dafür aber nicht. Denn die Ermittlungen führen ihn mitten in ein laufendes Benefiz-Konzert, für das man saftige 10.000 Franken auf den Tisch zu legen hatte, wenn man es live erleben wollte im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Drin ist bereits Kollegin Liz Richard (Delia Meyer), sehr passend im orangefarbenen und schulterfreien Abendkleid, sehr unpassend, als der Fall selbst seinen Lauf nimmt, denn sie hat, warum auch immer, ihren Dienstausweis nicht dabei. Ob sie 10.000 Franken zahlte, erfährt der Zuschauer nicht.

Das Besondere dieses Schweizer Tatorts: er ist einer der wenigen, dem die ARD-Oberen es erlaubten, experimentell zu sein. Mehr als zwei im Jahr sollen es möglichst nicht werden, verlautete angelegentlich und ich meine, das ist eine gute Vorgabe. Eine seit fast 50 Jahren laufende Filmreihe, man muss es heute ja ein laufendes Format nennen, verträgt einfach Experimente nicht oder nicht so, wie es andere Formate leichter ertragen. Es gab Tatorte, die ohne diese Dachmarke gute bis sehr gute Filme gewesen wären, die unter diesem Dach aber nicht nur deplatziert wirkten, sondern auch Zuschauer vergraulten. Wenn sich Münster als Spaß-Tatort etabliert hat, dann ist das in Ordnung, irgendwann aber verselbständigte sich das so sehr, dass die Notbremse betätigt werden musste. Auch Weimar wird über kurz oder lang in sich gehen müssen, das Prinzip lutscht sich aus. Und ein Zombie-Tatort passt an jeden Sende-Abend, nur eben nicht auf den Heiligen Tatort-Sonntag, mit Verlaub. Nur weil es mal etwas anderes wäre, kommt ja auch in der Kirche niemand auf die Idee, die Oblate gleich am Tor durch ein als Teufelchen verkleidetes Messdienerchen verteilen zu lassen, ehe der Gottesdienst begonnen hat oder gleich die Kollekte zu nehmen und dann „Tschö“ zu sagen.

Also Dani Levy, den alle wegen seiner Filme loben, die keine Tatorte waren, dessen erster Tatort 2013 aus meiner Sicht vollkommen zu Unrecht von TV Spielfilm als „Tipp des Tages“ gehandelt wurde, hat sich dafür entschieden, das „Wagnis“ einzugehen, einen Krimi ohne Schnitt zu drehen. Den Vorteil des Verfahrens – für kryptosexistische Zuschauer männlichen Geschlechts – will ich gleich nennen: die attraktive Rückfront von Delia Meyer sah man nie so oft und so ausgiebig wie in „Die Musik stirbt zuletzt“. Ach, Liz Richard. Ein abendfüllender Fernsehfilm ohne jeden Schnitt, One-Take-Film darf man ihn nennen, produziert neben der genreeigenen Spannung noch eine technische: Wie kriegen die das hin? Eine auch in 90 Minuten schon heftig zur Überstrapazierung tendierende Verfahrensweise: die Kamera folgt den Agierenden, man sieht sie zwangsweise ständig von hinten. Dani Levy hat sich, als müssten die Tricks des epischen Theaters 100 oder 70 Jahre nach ihrer Ersterprobung mal wieder auf ihre Lebenskraft getestet werden, zusätzlich dafür entschieden, eine seiner Figuren als verfremdenden Kommentator agieren zu lassen. Das gibt ihm die Möglichkeit, den Krimi als solchen, den Fernsehkrimi speziell, ironisch in Frage zu stellen.

Was hier in klug-sparsamer Dosierung gesagt wird, ist natürlich vor allem selbstironisch zu sehen. Ernster gemeint, müsste man Regie und Drehbuch fragen, warum sie sich überhaupt an einen Tatort machten, wenn sie das „Format“ nicht akzeptieren können. „Die Musik stirbt zuletzt“ ist weniger an Luzern gebunden als fast alle Vorgänger der neuen Schweiz-Tatorte. Dafür ist sie an jüngere Schweizer Geschichte gebunden, wie sie den Eidgenossen wohl noch heute eher schwer als leicht im Magen liegt. Man braucht nur an den berühmten Film „Das Boot ist voll“ zu erinnern (Schweiz 1980, Regie und Drehbuch Markus Imhoof, nach einem Buch von Alfred Adolf Häsler). Oder an das Skandalbuch der Schweizer Literatur der 60er Jahre: „Die Hinterlassenschaft“ von Walther Matthias Diggelmann. In den dunklen Jahren der Naziherrschaft in Deutschland hat die Schweiz vor allem gegenüber bedrohten Juden, aber auch gegenüber solchen Exil- und Asylsuchenden, die nicht reich oder gar arm waren, mehr als nur fragwürdige Praktiken an den Tag gelegt, es vorsichtig zu formulieren. Und weil Geschichte nie anonym ist, immer von Personen getragen wird, führt dieser Tatort einen Milliardär vor, der aus dem Juden-Retten ein sehr seltsames Geschäftsmodell machte.

Der Film beginnt mit dem Sohn des Milliardärs Walter Loving, gespielt von Andri Schenardi, von dem man zunächst glauben will, er gönne sich einen Spaß mit dem Stören eines hochoffiziösen Kultur-Events vor laufender Kamera. Der Milliardär (eindrucksvoll facettenreich Hans Hollmann) ergeht sich in seniler Eitelkeit, findet kein Ende mit seiner Selbstdarstellung und überrascht alle Anwesenden noch mit einem Heiratsantrag. Man lässt ihn, wenn auch widerwillig, gewähren, denn er ist der Mäzen, er ist der Finanzier des Jüdischen Orchesters, das an diesem Abend Werke spielen wird von solchen jüdischen Komponisten, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Das Orchester ist demokratisch verfasst und demokratisch ist der Beschluss zustande gekommen, ans Ende des Programms ein Gedicht zu setzen, das eine schwere Beschuldigung des Milliardärs Loving enthält. Mal abgesehen davon, dass man eine sehr weite Auffassung davon haben muss, was ein Gedicht ist, die Idee ist mutig, weil sie ein sehr hohes Risiko in Kauf nimmt für ihre Realisierung. Man schafft es, wissen Kinder des Medienzeitalters, mit einer solchen Aktion vielleicht in die Hauptnachrichten, danach aber könnte die finanzielle Grundlage für ein ganzes Orchester platzen: Existenzgefährdung.

Eine schnittlose Film-Realisierung muss zu Notlösungen greifen, wenn sie dem Zuschauer vermitteln will, was für Nachrichten auf einem Handy eingehen, Levy entschied sich für eine Art von Comic-Sprechblasen. Eine schnittlose Film-Realisierung muss auf jegliche Rückblende verzichten. Braucht der Film dennoch einen Blick in die Vergangenheit, weil hier die Sprechblase bildschirmfüllend und so schnell nicht lesbar geworden wäre, ist ein Trick hilfreich: Es gibt mitten im KKL eine Stahltür, die bei eigentlich verbotener Öffnung in einen südamerikanischen Urwald führt, in dem die Kamera nach Schwenk auf eine weibliche Leiche mit Schusswunde gerichtet wird. Diese Tote ist, wie sich erschließt, die Mutter von Miriam Goldstein (Teresa Harder) und Vincent Goldstein (Patrick Elias). Sie starb 1978 und es gab eine Verbindung zu Walter Loving. Zunächst aber gibt es eine Drohung und fast unmittelbar danach einen Mordversuch mit Kontaktgift. Ich gestehe, das mich allein das Wort „Kontaktgift“ in meine frühe Fernsehjugend versetzte, ein DDR-Mehrteiler mit Jürgen Frohriep, später Polizeiruf 110, enthielt einen Kontaktgift-Mord, meine biochemische Neugier war damals geweckt. Opfer ist in Luzern der Klarinettist Vincent Goldstein.

Der aber überlebt dank eines mir unangenehm direkt gezeigten Luftröhrenschnittes, später gibt es drei weitere Opfer des Kontaktgiftes, die nicht überleben. Der Milliardär stellt sich seiner Schuld, er beschönigt nichts. Solche Sätze fallen: „Filme mit Polizisten sollten verboten sein.“ „Es ist eine erbärmliche Geschichte, so was gibt es nur im Fernsehen.“ „Hundert Tote im Fernsehen pro Woche können nicht irren.“ Flückiger sagt gegen Ende: „Ich werde langsam zu alt für diesen Scheißjob.“ Vom Fernsehgebot, „dass man sterbenden Menschen nicht zusehen darf“ ist die Rede und davon, dass Scheitern und Erfolg Geschwister seien. Der Milliardär Loving, der gegen hohe Zahlungen wohlhabender Juden diesen das Entkommen aus Deutschland ermöglichen wollte, hat nicht nur schnöde profitiert, schnöde unterschlagen, sich bereichert. Er hat auch tatsächlich geholfen, er hat tatsächlich das jüdische Orchester mehr als nur unterstützt, er liebt tatsächlich diese Musik innig. Vielleicht war das das Beste am guten Schweizer Tatort Nummer 14, dass er die Schuld neben die Zweifel an der Schuld nicht nur stellte, sondern stehen ließ. Ein tödlicher Kuss beendet zwei Leben. Man darf das einen großen Einfall nennen. Dennoch freue ich mich nun auf Tatorte mit Schnitten.


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