Fritz Ernst: Gottfried Kellers Ruhm
Von Gottfried Kellers Ruhm schreiben, wenn eben, da ich damit beginne, von allen großen deutschen Feuilletons noch nicht eines einen nennenswerten Beitrag zu seinem 200. Geburtstag vorgelegt hat – sechs Tage vor dem vermeintlichen Jubeltag - , könnte der Akte „Thema verfehlt“ zuzuschlagen sein. Zumal ich gar nicht selbst über diesen Ruhm schreiben mag, sondern lediglich Fritz Ernst folge, der es vor 65 Jahren tat, als mir Literatur beliebiger Art noch ziemlich gleichgültig war. Auf Fritz Ernst aber stieß ich, weil mir Ilmenauer sein Buch über Peter im Baumgarten natürlich irgendwann begegnete, das Buch über jenen Schweizer Jungen, der eines Tages vor Goethes Gartenhaus in Weimar stand mit Pfeife im Mund und Spitz an der Leine und von diesem später nach Ilmenau expediert wurde, wo ihm Erziehung angedeihen sollte. Fritz Ernst (14. Juni 1889 – 26. März 1958) war dreißig Jahre Geschichtslehrer am Zürcher Mädchengymnasium, eher er für Deutsche Literaturgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft an die Eidgenössische Technische Hochschule und an die Universität Zürich berufen wurde. Seine Dissertation aus dem Jahr 1915 galt dem Thema „Die romantische Ironie“, das Buch über Peter im Baumgarten erschien zuerst 1941 und wurde 1955 als Band 30 auch in die „Bibliothek Suhrkamp“ aufgenommen.
Ein Feuilleton hat natürlich dieses Jubiläum im Themenplan: die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. Mit gutem Grund gab sie gerade Adolf Muschg den Auftrag, vierzig Jahre nach seinem sogar noch in der DDR in Lizenz erschienenen Keller-Buch wieder einmal über Gottfried Keller zu schreiben. Auch die beiden Schweizer Alex Capus und Thomas Hürlimann kamen zu Wort schon in diesem Frühjahr und so wird es Zeit, mit Fritz Ernst ein wenig Ordnung ins Verfahren zu bringen. Er begann seinen Vortrag so: „Die Aufgabe, die ich mir gestellt, nämlich über Gottfried Kellers Ruhm zu sprechen, veranlasst mich, eingangs der beiden andern zu gedenken, die sich um uns ähnlich verdient machten und mit dem Dichter zusammen unser geschichtliches Dreigestirn darstellen.“ Die Namen, die dann folgen, sind Schweizern sicher auch heute noch sofort geläufig, bei uns in Deutschland könnte es schon schwieriger sein: Ulrich Zwingli und Heinrich Pestalozzi. Die Erhebung dieser drei Männer zum geschichtlichen Dreigestirn ist nur insofern bemerkenswert, weil sie einen Dichter neben einen Reformator und einen Pädagogen stellt, nicht etwa neben andere Dichter oder Künstler. Und Fritz Ernst macht eine resümierende Vorgabe, die zusätzlich akzentuiert: „des Reformators Asche zerstreute der Wind, der Erzieher starb in Armut fern seiner Vaterstadt, der Dichter ward von seinen Mitbürgern begraben wie ein Fürst.“ Wir haben nur einen Dichter-Fürsten.
Als Fritz Ernst seine Rede hielt, Erstdruck 1954 im 22. Jahresbericht der Gottfried-Keller-Gesellschaft, war in der DDR gerade frisch das Gottfried Keller gewidmete „Lesebuch für unsere Zeit“ im Thüringer Volksverlag Weimar erschienen, der später in den Aufbau-Verlag eingegliedert wurde, Herausgeber Lothar Berthold und Gerhard Weise. Herausgeber der gesamten Lesebuch-Reihe war Walther Victor. Fritz Ernst erwähnt die Zusendung des Buches aus Weimar, enthält sich aber jeder wertenden Bemerkung. Vom zweifelsfrei bedeutendsten Beitrag der DDR-Literaturwissenschaft zu Keller hat er keine Kenntnis mehr erlangt. Hans Richters „Gottfried Kellers frühe Novellen“ erschien erst 1960, zwei Jahre nach Ernsts Tod, erlebte 1966 eine zweite Auflage, was für ein Buch in der Reihe „Germanistische Studien“ ein durchaus bemerkenswerter Umstand war. Fritz Ernst aber wollte ganz unkompliziert nur darauf hinweisen, dass auch im „Ostblock“, wie er das nannte, Kellers Fähnlein hochgehalten wurde. Mit dem Band 8 der DDR-Keller-Ausgabe „Sämtliche Schriften in acht Bänden“ lagen 1958 auch schon die „Kleinen Schriften“ vor, da aber war „Gottfried Kellers Ruhm“ längst gedruckt und erfuhr einen Nachdruck erst 1963 wieder in einem schmalen Bändchen mit dem Titel „Bild und Gestalt. Aufsätze zur Literatur“, mit dem Herausgeber Heinz Weder und Vorwort-Autor Werner Weber Fritz Ernst ehrten.
Die Geschichte von Gottfried Kellers Ruhm beginnt mit seiner durchschlagenden Erfolglosigkeit, um die sich Fritz Ernst natürlich nicht herumdrückt. Ich zitiere den Passus komplett: „Die Leute von Seldwyla waren 1856, laut Vertrag, in 1000 Exemplaren gedruckt worden. Siebzehn Jahre später, bei der erweiterten Ausgabe von 1873, war die erste Auflage noch nicht vergriffen. Der Grüne Heinrich war 1855/1856, laut brieflicher Erklärung des Verlegers, gleichfalls in 1000 Exemplaren gedruckt worden. Nach sechsundzwanzig Jahren, bei der Umarbeitung von 1879, heizte der Dichter mit den Restbeständen seinen Stubenofen“. Man achte auf die dezenten Einschränkungen: laut Vertrag, laut brieflicher Erklärung. Es scheint Gründe gegeben zu haben, an den entsprechenden Angaben zu zweifeln: Wenn denn weniger als 1000 Exemplare tatsächlich gedruckt wurden, wäre alles noch schlimmer. Wenn mehr gedruckt wurden, heimlich, dann wäre das Betrug am Autor Keller gewesen, beide Phänomene kennt noch die heutige Verlagslandschaft zur Genüge, immerhin weiß ich von einem Autor, dessen Erstauflage in der genannten Höhe nach einem halben Jahr tatsächlich vergriffen war und dennoch nie eine Nachauflage erlebte, so ist das Leben, niemand ist gezwungen, das seine mit dem Verfassen von Büchern zuzubringen.
„Aber es war ein später Ruhm, wenn wir auch seine Vorstadien nicht gering anschlagen wollen: mit fünfzig Jahren erhielt der Dichter den Ehrendoktor der Zürcher Universität, mit beinahe sechzig Jahren das Bürgerrecht der Stadt, mit siebzig Jahren den Glückwunsch des Bundesrates, vom Bundeskanzler eigens auf den Seelisberg getragen.“ Auf den war Keller, des Feierkults abhold, geflüchtet, aber so waren Schweizer Bundeskanzler halt damals. „Wer unter den Nächststehenden ahnte denn das unter einer rauhen Schale eingeschlossene lautre Gold? Es ist merkwürdig, wie wenig Gottfried Keller sich seiner unmittelbaren Umgebung zu erkennen gab.“ Fritz Ernst ist hier keineswegs nur auf Kellers Spur. Wer ahnt schon, dass der Kerl, der auf dem Nebenbalkon sein großes Dusch-Handtuch zum Trocknen aufhängt und die Weinkartons flach macht, ehe er sie in den Papiermüll packt, dass der Gedichte schreibt und vielleicht sogar richtig gute Texte? Keller war mit dem Altersgefährten Jacob Burckhardt (25. Mai 1818 – 8. August 1897) befreundet, trank Rotwein mit ihm in Zürich. Burckhardt schätzte Jeremias Gotthelf, den auch Keller schätzte. „Wenn so hochstehende Freunde in Zürich unberührt von der Größe des Schöpfers des grünen Heinrich und der Leute von Seldwyla bleiben, so mögen auch die Zürcher selber, die nicht alle auf dieser Geisteshöhe standen, annähernd entschuldigt sein.“ War da was mit Propheten im eigenen Lande?
Fritz Ernst verweist auch auf die hübsche Aussage von Carl Spitteler, die ich in meinem Beitrag zu dessen Keller-Rede absichtlich nicht zitierte, nennt nur das falsche Jahr 1864 dafür: „Als ich im Jahre 1865 als Student nach Zürich zog, stritten sich meine Mitstudenten darüber, welcher von den beiden der wahre Keller wäre, der Augustin oder der Gottfried.“ Augustin Keller (10. November 1805 – 8. Januar 1883) war ein Politiker aus dem Kanton Aargau, Mitbegründer der christkatholischen Kirche und, laut WIKIPEDIA, hauptverantwortlich für die Auflösung aller Aargauer Klöster im Jahr 1841. Ernst erzählt die Anekdote vom namentlich nicht genannten Sprecher des Moskauer Schweizervereins, der sich bei Keller 1883 eine Schweizer Nationalhymne erbat und auch gleich die Melodie dazu vorschlug. „Aber unter der seltsamen Spezifikation dieses Anliegens verbarg sich die historische Tatsache, dass es deutsche Stimmen waren, die Gottfried Kellers Namen durch die Welt trugen“. Der erste Name, der dann zum Beleg dafür fällt, ist Varnhagen. Karl August Varnhagen von Ense (21. Februar 1785 – 10. Oktober 1858) lobte Keller erst brieflich für dessen Gedichte (Briefdatum 19. August 1864), dann im Tagebuch für die erste Fassung des „Grünen Heinrich“, was freilich keinerlei Weltwirkung hatte und haben konnte.
Den „Grünen Heinrich“ besprach Varnhagen auch öffentlich. Ob aber die Publikation im 1858 gedruckten „Album des literarischen Vereins in Bern, herausgegeben zu Gunsten der Blinden- und Mädchentaubstummenanstalt in Bern“ weltweit wirkte, darf ebenfalls heftig bezweifelt werden. Wie auch immer, der nächste von Fritz Ernst ins Feld geführte deutsche Name ist der von Heinrich von Treitschke. Treitschke (15. September 1834 – 28. April 1896) wird wegen eines 1879 gedruckten antisemitischen Aufsatzes und dessen politischer Konsequenzen nur noch mit sehr spitzen Fingern und Handschuhen angefasst, sein Satz „Die Juden sind unser Unglück“ führt ganz direkt bis zum Holocaust. Dennoch schrieb er auch einen keineswegs blödsinnigen Essay über Gottfried Keller, nachzulesen im Treitschke-Buch „Deutsche Lebensbilder“ des Leipziger Verlags H. Fikentscher. Andere Lebensbilder sind dort von Lessing, von Kleist, Hebbel und Otto Ludwig gezeichnet. Es folgen die Namen Friedrich Theodor Vischer (30. Juni 1807 – 14. September 1887), der mit Keller befreundet war und für ein unabhängiges Urteil eher nicht stehen kann, und Paul Heyse. Der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1910 (15. März 1830 – 2. April 1914) nannte Keller 1877 den „Shakespeare der Novelle“, Richard Wagner mochte Keller sehr, ebenso Friedrich Nietzsche, dem an der Seite seiner Schwester Elisabeth sogar ein Besuch bei Keller gelang: im zweiten Anlauf.
Nietzsche nannte Kellers „Sinngedicht“ die „süßeste Kammermusik deutscher Sprache“, seine Schwester hat den genannten Besuch beschrieben, nachlesbar unter anderem in dem von Paul Rilla herausgegebenen Band „Über Gottfried Keller“ (Diogenes Verlag Zürich). „Nicht vergessen sei in diesem Zusammenhang das Verhalten der deutschen Verleger gegenüber diesem Giganten des Zauderns“, schreibt Fritz Ernst und nennt namentlich Eduard Vieweg und Wilhelm Hertz. Gerhart Hauptmann sah 1888 Keller nur von fern, besuchte ihn aber nicht, dafür jedoch das Grab von Georg Büchner. Thomas Mann hielt sich zunächst eher an Franzosen. Beide, das betont Ernst wiederum ausdrücklich, würdigten aber am 19. Juli 1919 den großen Schweizer anlässlich des 100. Geburtstages: Thomas Mann in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, Hauptmann in der FRANKFURTER ZEITUNG. Rudolf Binding erscheint in der Galerie derer, die Kellers Ruhm verbreiteten, Benno Reifenberg, vorher schon Hugo von Hofmannsthal. Allein die Nennung der Namen macht jedoch eins unabweislich klar: Ruhm heißt hier durchweg Ruhm bei den Kollegen. Dichter, die von Lesern geschätzt werden, bringen den Verlegern Auflage, Dichter, die von Dichtern gefeiert werden, landen in der Literaturgeschichte. Gottfried Kellers Ruhm führt immer zu Vergleichen, die sterbliche Leser allein lassen, mit Goethes „Wilhelm Meister“ beispielsweise.
Eine Ahnengalerie der Ruhmredner lässt dem Kundigen mannigfaltige Privatvergnügungen, weil er eben weiß, wer Hermann Hettner war, in welchem Verhältnis er zu Keller stand. Weil er weiß, wer Henrik Ibsen war, der sich laut Fritz Ernst Hettners „Das neue Drama“ kaufte, gespickt mit Thesen, die im Dialog mit Keller zustande gekommen waren. Ibsen „wurde so der erste uns bekannte ausländische Leser Gottfried Kellers von Rang.“ Nach England trug den Ruhm Kellers ein Deutscher: der emigrierte Dichter Ferdinand Freiligrath, auch persönlich mit Keller befreundet. Während Keller sich bei Freiligrath bedankte, auch für den Vergleich mit Berthold Auerbach, missfiel ihm eine Würdigung durch Helene Zimmern (25. März 1846 – 11. Januar 1934) in „Frazers Magazine“ so sehr, dass er im Ärger darüber sogar bestritt, dass es überhaupt eine schweizerische Nationalliteratur gebe. „Der erste uns bekannte französische Kritiker des Zürcher Dichters war der Professor Philaréte Chasles (6. Oktober 1798 – 18. Juli 1873, morgen jährt sich sein Todestag also), er schrieb über „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Auch Heine-Freundin Camille Selden trug sich in die Liste ein, der Name ist ein Pseudonym von Elise Krinitz (22. März 1825 – 7. August 1896). Fritz Ernst resümiert: „... es ist ganz augenscheinlich, dass unsere westlichen Nachbarn, bei sonst oft erwiesener Empfänglichkeit, unsern großen Erzähler nicht in ihr geistiges Bürgerrecht aufgenommen haben.“ In Italien erschien 1868 eine erste Übersetzung, doch wenig erfolgreich.
„Gottfried Keller, von den einen gefeiert, von den anderen kaum beachtet, überlebte zwei Weltkriege und ungezählte Revolutionen, ja den uns bedrohenden Umbruch der Zeiten.“ Klingt besser, als es ist, allein die Zahl der Revolutionen ist fragwürdig. Doch Ernst will zu einem anderen Gedanken hinleiten: „Über die übliche Vorstellung hinaus maßgebend ist für alle Entwicklung die Tradition, sind für alle Literatur die Bücher. Nicht der Unbegabte liest besonders viel, sondern nach Maßgabe seines weitausschauenden Geistes der Begabte. Es fehlt nicht viel zur Regel, dass, je größer der Autor, desto umfassender seine Lektüre ist.“ Das ist vor allem auf Keller bezogen und kann seinem Ruhm zugerechnet werden, falls man mutig genug ist anzunehmen, Kellers private Lektüre sei auch nur irgendwem einigermaßen vertraut, der nicht ausgesprochener Experte ist. Die wenigen Kritiken, die Keller veröffentlichte, haben keinerlei Beweiskraft. Sie präsentieren Lesarten zu bestimmten Autoren und Büchern, repräsentieren aber keineswegs Kellers Lektüre-Spektrum. „Gottfried Keller ward also aufgenommen in das vielmaschige Netz der Weltliteratur, woran bald mit Geschick und bald mit Missgeschick die Generationen sich betätigen.“ Die Schweizer lieben vor allen „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, die Deutschen „Der Grüne Heinrich“ und das Ausland, so Ernst, „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. „Martin Salander“ liebt niemand lauthals.
Fritz Ernst schlug 1954 abschließend vor, dem Zürcher Gottfried-Keller Archiv eine internationale Sektion anzugliedern. Für das Keller selbst eine Basis geliefert habe: „... dieser schlichte Große war nicht ohne ein Bewusstsein seiner Sendung. Bleiben wir nicht dauernd hinter ihm zurück. Unsre beschränkte Einsicht hat verhindert, dass wir zu Lebzeiten so viel für ihn taten, wie wir heute getan zu haben wünschten. Erweisen wir dem Toten, was wir ihm einzig noch erweisen können.“ 65 Jahre später scheint es schwierig zu behaupten, dieser Aufruf habe gefruchtet. Wie es um das Archiv steht, weiß ich nicht. Fritz Ernst selbst ist längst vergessen. Das Büchlein, auf das hier zurückgegriffen wurde, beginnt mit „Die Bibliotheca Bodmeriana“, es folgt „Goethes Schweizerlektüre“, dann, nach dem Keller, noch „Ein Grab in Avignon“ und „Entdeckung Azorins“. Azorin ist der Künstlername für José Augusto Trinidad Martinez Ruiz (8. Juni 1873 – 2. März 1967), der müsste in der Tat entdeckt werden, ich gestehe gern, von ihm nie gehört zu haben. Das Grab in Avignon ist das einer Dorothea, die Goethe kannte wie auch ihren Vater. Der Grabstein trägt eine lateinische Inschrift. Gottfried Kellers Grab auf dem Friedhof Sihlfeld trägt nur die Lebensdaten in lateinischen Zahlen: 19. Juli MDCCCXIX und 15. Juli MDCCCXC, oben seine Totenmaske. Noch zwei Tage trennen uns von seinem 200. Geburtstag.