Carl Spitteler, geräuscharm gefeiert

„Der hundertjährige, der fünfzigjährige, vielleicht auch der fünfundzwanzigste Todestag. Warum nicht der achtundneunzigste oder der neunundvierzigste? Ich begreife, es geht nach dem Dezimalsystem. Wenn die Erde sich so und so vielmal um die Sonne geschwungen hat, dann geschieht plötzlich ein allgemeines Hallo über einen Verschollenen.“ So beginnt ein kleiner Text mit der Überschrift „Datumsjubiläen“, der in einem 1897 zuerst veröffentlichten Buch „Lachende Wahrheiten“ zu finden war, das bis 1920 immerhin fünf Auflagen erlebte. Den Namen des Verfassers kombiniere ich, seit ich Vorträge über deutschsprachige Literatur-Nobelpreisträger halte, immer mit einer kleinen Kunstpause, um zu schauen, ob unter meinen Zuhörern jemand den Eindruck erweckt, diesen Namen schon einmal irgendwo und irgendwie gehört zu haben.

Den Namen Carl Spitteler hat bisher noch nie jemand gekannt, es besteht aber die von Null verschiedene Wahrscheinlichkeit, dass nach meiner Rede der eine oder die andere wissbegierig in einer Enzyklopädie blättert, die im weltweiten Netz herummäandert. Und heute nun, Überraschung, hat nämlicher Carl Spitteler, der bisher einzige echte Schweizer Literatur-Nobelpreisträger, wenn man den Wahlschweizer Hermann Hesse einmal tapfer ausklammert, was in der Schweiz selbst sicher nur mäßig tolerant gesehen wird, aber dennoch eine gewisse Berechtigung in sich trägt, Geburtstag. Es ist, und damit haben wir mit überschaubarer Listigkeit den Bogen zum Eingangszitat geschlagen, Carl Spittelers 167. Geburtstag. Grund genug, seiner zu gedenken, weder Gunnar Decker noch Rüdiger Safranski haben aus diesem Anlass eine neue, alle bisherigen nicht nur in den Schatten, sondern in die vollkommene Dunkelheit stellende Biographie Spittelers vorgelegt.

Spitteler ist in Liestal geboren, 1845, und ich war zwar schon sehr oft in der Schweiz, aber noch nie  in Liestal. Es wäre schwer widerlegbar, wenn ich jetzt behauptete, wegen Spitteler dort gewesen zu sein. Aber leider war es nicht so. Von Erschwil aus, wo wir zuletzt wohnten, um Basel und Umgebung zu erkunden, suchten wir den Weg zu ihm nicht. Zu Hause freilich stieß ich auf Briefe des genannten Wahlschweizers an Justus Hermann Wetzel und der wiederum hat im Francke Verlag Bern und München vor knapp vierzig Jahren ein Buch erscheinen lassen mit dem schlichten Titel „Carl Spitteler. Ein Lebens- und Schaffensbericht“. Wetzel, Jahrgang 1879, zwei Jahre jünger als Hesse also, hat Spitteler noch persönlich gekannt, was seinen Bericht zusätzlich interessant macht. Zu Ostern 1961 schrieb Hesse an Wetzel: „Spitteler als Dichter ist mir nie sehr nahe gekommen, eine gewisse Preziosität ließ mich nicht warm werden. Dennoch gibt es zwei Sachen von ihm, die ich mit großer Liebe und mehrmals gelesen habe: Die Mädchenfeinde und Imago. ... Spitteler als Denker und Essayist war mir stets sehr genießbar und sympathisch, da gab es keine Widerstände. Ich glaube, daß seine Weltanschauung und die meine sich recht gut miteinander vertragen. Nur daß seine Gleichniswelt mehr vom Griechischen und Romanischen her befruchtet war, meine mehr von China und Indien.“

Spitteler hielt für sich und seine Leser fest: „Denn was da gelogen wird, an den hundertjährigen Weißwaschereien! gelogen! gelogen! ... Hernach, wenn das Jubiläum vorbei ist, kräht kein Hahn mehr nach dem geräuschvoll Gefeierten.“ Vielleicht weckt es einige Hähne auf ihrem Mist, wenn hier auf den wunderbaren Text „Von der Entrüstungsliteratur und ihrer Mache“ verwiesen wird, 1890 zuerst in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG erschienen und von einer Aktualität, die mehr als verblüfft. Die von Spitteler vor allem an Angelsachsen beobachtete Entrüstungsliteratur kennen wir alle: „Sie verhält sich zu den großen humanen, auf dauernde Verbesserung des Loses unglücklicher Menschenklassen hinzielenden Schriftwerken wie das Rührstück oder der Sensationsroman zum klassischen Gedicht.“ Weiter: „Solch eine Entrüstung kommt wie eine Windsbraut und verrauscht wie eine Mode, unabhängig von dem praktischen Ergebnis. ... Übertreibungen gehören noch zu den gelindesten Kunstgriffen. ... Charakteristisch für die Entrüstungsliteratur ist ihre Willkürlichkeit, Launenhaftigkeit und Zufälligkeit in Hinsicht auf den Gegenstand der Entrüstung.“

Wir sind in Deutschland 120 Jahre später auf alle Fälle mindestens zwei Schritte weiter. Der gewöhnlichen  Entrüstung haben wir zwei Spezialentrüstungen ausgekoppelt, die Sätzen über das Hitlerreich und über die Juden folgen. Eine eigene schnelle Eingreiftruppe rast sofort aus den Bereitstellungsräumen, um den Gegenstand der Entrüstung einerseits unangespitzt in den Boden zu rammen und seinen Verlegern oder Gesprächspartnern andererseits eine tolle Auflage und eine hohe Quote zu sichern, meist beides zugleich. Es ist denkbar, dass Spitteler sich heute bei den Angelsachsen entschuldigen würde oder ihnen vielleicht eine Art Klassizität des Entrüstens bescheinigen, die in der Folgezeit bis aufs Bodenblech verkam. In der von Emil Staiger vor langen Jahren herausgegebenen Reihe „Klassiker der Kritik“, die aus erklärlichen Gründen bei mir so etwas wie Handbibliothek ist, ist Carl Spitteler einer in einer exklusiven Runde von guten Köpfen.

Auch in Luzern, wo Spitteler im Garten der Villa Wilhelmina einen botanischen Garten anlegte, das war seit 1892 seine Heimatstadt, kann man Spuren folgen. Im Rhyn-Haus findet sich das Spitteler-Archiv, freundliche Schweizer nennen den Nobelpreisträger des Jahres 1919 schon mal den „Schweizer Olympier“. Weil er am 14. Dezember 1914 in Zürich vor der „Neuen Helvetischen Gesellschaft (NHG) seine Rede „Unser Schweizer Standpunkt“ hielt, der auf Neutralität beharrte und die kriegführenden Staaten teils sehr heftig kritisierte, bekam er seinen Preis nicht schon 1915, wie vorgeschlagen, sondern erst 1920 rückwirkend für das Jahr 1919. Oft ist so etwas in der Preisgeschichte nicht vorgekommen. Romain Rolland hat sich für Spitteler stark gemacht, sein Name galt etwas unter denen, die in Weltkriegen weder Stahlgewitter noch Badekuren sahen.

Für den leider viel zu früh verstorbenen Schweizer Kritiker Dieter Fringeli, der am 17. Juli erst siebzig Jahre alt werden würde, war Spitteler „nach Keller und Meyer ein klassischer Sonderfall.“ Runder soll dieser Beitrag zum unrunden Geburtstag nicht werden.


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