Arthur Eloesser: Ernst Zahn

Wer mit Arthur Eloessers zweibändiger Geschichte „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ umgeht, stößt mit schöner Regelmäßigkeit auf den Tatbestand, dass der Autor immer dann, wenn er auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen kann, dies auch tut. Dabei nennt er sich selbst als Quelle so wenig wie auch alle anderen Quellen. Es bekommt der Lesbarkeit, es zwingt alles spezialisierte Fachpublikum jedoch zu eigener Recherche. Im Falle des Schweizers Ernst Zahn (24. Januar 1867 – 12. Februar 1952) stoßen wir auf einen Sonderfall. Denn das, was zu ihm im zweiten Band der Literaturgeschichte steht, bleibt schon vom Umfang her weit hinter dem zurück, was Eloesser mehr als zwanzig Jahre früher in der „Vossischen Zeitung“ drucken ließ. Es ist müßig zu spekulieren, ob ihm 1931 unhaltbar erschien, was er 1907 geschrieben hatte, ob er womöglich gar seinen eigenen Text nicht mehr zur Hand hatte, als er die Passage zu Zahn zu Papier brachte, die schließlich keine halbe Buchseite füllte. In einer Literaturgeschichte haben Zusammenhänge Platz, die in einem Feuilleton nicht zwingend ausgeführt werden müssen. Eine Literaturgeschichte ist am Fixieren bleibender, mindestens fortwirkender Leistung interessiert, das Feuilleton ist letztlich für den Tag geschrieben, auch wenn manches Feuilleton manche Literaturgeschichte locker überlebt.

Im Buch findet sich Ernst Zahn zuerst im Kontext von Jeremias Gotthelf. „Diese trutzigen eisernen Mägde, diese tüchtigen Meisterinnen, diese lehrhaften oder noch belehrungsbedürftigen Wirte sind dann ein Erbgut der Schweizer Literatur geworden, das noch bis Ernst Zahn seine Zeichen getragen hat. Mit den Menschen wurde auch die Landschaft heroisiert, immer höher in die Berge verlegt, während Gotthelf in seinen tüchtigen Bauernstiefeln lieber über die fettere Erde und den bestellten Acker ging.“ Gut möglich, dass hier mehr als an der späteren Stelle die Erinnerung an eine im April 1907 behauptete entscheidende Entwicklung innerhalb des Werkes von Zahn sich geltend machte. Denn die Abkehr von den Menschen der Berge, die Hinwendung zu den Menschen in der Stadt war den Feuilleton-Lesern der Vossischen Zeitung als Hauptgrund für einen spürbaren Qualitätssprung des Erzählers glaubhaft gemacht worden. In einer autobiographischen Darstellung mit dem Titel „Das Urner Land und ich“, 1938 zuerst gedruckt in der Zeitschrift „Die Alpen“, erinnert sich Zahn, inzwischen 61 Jahre alt, des Eindrucks der Urner Männer „von jener Mächtigkeit, wie man sich in seinem romantischen Bubensinn etwa den Tell oder den Spieße umklammernden Winkelried vorgestellt hatte.“ 1880 war er nach Göschenen gekommen am Nordeingang des Gotthardtunnels.

Arthur Eloesser wiederum hat ganz offensichtlich auf eigenen Augenschein zurückgreifen können, als er sein Feuilleton „Ernst Zahn“ niederschrieb. Das beginnt so: „Wer sich von Göschenen in die Finsternis des Gotthard-Tunnels begibt, um eine Viertelstunde später dem ersten Hauch des italienischen Frühlings die Fenster zu öffnen, kann von dem deutschen Sprachgebiet mit einer stolzen Genugtuung Abschied nehmen. Es ist ein deutscher Dichter, der in der Göschener Bahnhofswirtschaft mit scharfen blauen Augen die langen Tafeln überwacht, der sich dafür verantwortlich fühlt, dass die eiligen Reisenden zwischen zwei Zügen schnell und doch ohne Hast gespeist werden. Wer sich darüber nicht wundert, dass ein Gastwirt Dichter wird, nimmt vielleicht Anstoß daran, dass der Dichter Gastwirt bleibt.“ Der Gotthardtunnel wurde zwischen 1872 und 1882 erbaut, der Bau forderte Opfer unter den Arbeitern, was deshalb erwähnt werden muss, weil Ernst Zahn mit einem Gedicht für diese Opfer erstmals überhaupt öffentlich auftrat. Es war der Eisenbahntunnel natürlich, der Straßentunnel folgte erst sehr viel später. Nach jetziger Kenntnis ist aus der Zeit vor der Niederschrift für Arthur Eloesser nur eine Fahrt durch den Tunnel belegbar, sie gehörte zur Reise nach Ravenna im Juni 1906, Daten weiteren Passagen sind jederzeit willkommen.

Die Erinnerungen Zahns an 1880 und die schließlich folgenden 37 Urner Jahre haben auch faktische Werte: die Fahrt von Zürich bis Göschenen dauerte sieben Stunden, in Flüelen gab es einen Nothafen für den Fall von Föhnwinden, die die normale Hafeneinfahrt verhinderten. Es fuhren dreigeteilte Kutschen, deren mittlerer Teil Interieur hieß. Zahn gedenkt eines Mannes, der bei der Rettung zweier Menschen aus einer Gletscherspalte selbst ums Leben kam und für dessen Familie er Spenden sammelte unter seinen Lesern, „es gehört zu den schönsten Belohnungen meines Schaffens“, dass damals viel zusammenkam. Und Zahn gedenkt einer Hebamme, die noch mit 80 Jahren die drei Stunden Weges zur Göscheneralp auf sich nahm, um ihre Pflicht zu tun, von ihr überliefert er sogar den Namen: sie hieß Veronika Imhof. Er hätte, schreibt er 1938, gern in einer Monographie alles aufgeschrieben. „Alle, Menschen und Täler von Uri, sind eingezogen in meine Bücher.“ Das wären Beobachtungen der Wolken geworden, des Mondes, auch des Postboten, der Arbeit im Gemeindepräsidium. „Ich grüße sie in diesen Zeilen wieder. Und wenn die Monographie, zu der sie Stoff wohl böten, nicht im Druck erscheint, geschrieben ist sie längst – in einem Herzen!“ Für Arthur Eloessers Literaturgeschichte blieb schließlich nur ein einziger Buchtitel, den er nannte.

„Der Züricher Ernst Zahn ist der Sohn eines Gastwirts und selbst Gastwirt gewesen; aber seine ersten Erzählungen machten von der Lebenskenntnis keinen Gebrauch, die er sich im eigenen Lande und in europäischen Lehrjahren erworben hatte; er betrieb da eine konventionelle Romantik mit monumentalen Bauernfiguren, die sich ebenso gewaltig aufrichten mussten wie die Schweizer Berge, des Herrgotts ewige Kirchen in der schönen Gotteswelt. Zahn bewies das angeborene Talent, als er in die Stadt Zürich herunterstieg, unter die „Helden des Alltags“, wie sein bester Novellenband heißt, um als guter Psychologe und sorgfältiger Stilist bürgerliche Menschen, Männer und Frauen, zu zeichnen, die nicht gleich, wenn sie sich aufrichten, die Zimmerdecke durchstoßen. Nach dieser sehr respektablen Leistung ist er allerdings wieder zu den Gotteskirchen des Hochgebirges hinaufgestiegen, die ihm auch das lautere Echo eines schnellen, volkstümlichen Erfolges einbrachten. Die Schweizer Volksschriftsteller gingen immer zwischen Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller.“ Das ist schon die gesamte Passage zu Ernst Zahn in der Literaturgeschichte. Vorher fiel der Blick auf den acht Jahre jüngeren Jakob Schaffner, nachher auf den ein Jahr älteren Heinrich Federer. 1907 war „Volksschriftsteller“ noch nicht das letzte Wort Eloessers gewesen.

Da war noch Platz für biographische Details: „Der junge Zahn, der im Beruf seines Vaters bleiben sollte, erhielt erst im Zürcher Gymnasium, dann in dem berühmten Solothurner Erziehungsinstitut Breidenstein eine abgeschlossene Schulbildung. Ihr folgten die akademischen Lehr- und Wanderjahre der Gastwirtschaft, die er als Kellner in der französischen Schweiz, in Italien und England absolvierte. Nach dieser Vorbereitung übernahm er vom Vater das Göschener Bahnhofsrestaurant, dem jeder bessergestellte Europäer durchschnittlich zweimal zwanzig Minuten im Jahre zu schenken hat.“ Die Kellner-Stationen hießen Genf, Hastings und Genua. „Ernst Zahn hat sich also die Welt angesehen, bevor er sich mit seinen Mannesjahren zu einer, wie mir scheint, fruchtbringenden, munteren und in vielen Beziehungen beneidenswerten Tätigkeit niederließ. Die internationale Lehrzeit hat den Menschen und Dichter auch nicht mit einem Fleckchen angefärbt, wie die Schweizer überhaupt, … Die ruhige Erscheinung eines nicht zu großen, schlanken Mannes mit kurzem blonden Bart und hellen blauen Augen verkündet in ihrer bescheiden vornehmen, fast nüchternen Bürgerlichkeit die ungebeugte wurzelhafte Schweizerart, auch wenn ihr Inhaber von dem schweren oberdeutschen Dialekt keinen zu anspruchsvollen Gebrauch macht.“

Eine Erklärung für Ernst Zahns guten Ruf in Deutschland, der den in seiner Heimat wenigstens über längere Zeiträume übertroffen haben soll, wie anderen Quellen zu entnehmen ist, hat Arthur Eloesser bei der Hand: „Aber seit mehreren Jahren unter die Mitarbeiter der Deutschen Rundschau ehrenvoll eingereiht, die so große Vorgänger wie Keller und Meyer zu einem deutschen Ruhme führte, hat er unser größeres Schrifttum um so wertvollen Besitz vermehrt, dass ihm unter den Besten und Sichersten ein ansehnlicher Platz eingeräumt werden muss.“ Eloesser schrieb selbst für die Deutsche Rundschau, las sie aber deutlich früher, ehe er ihr Autor wurde (drei Arbeiten von ihm sind mir derzeit bekannt). Ernst Zahn konnte, als die Vossische Zeitung ihm das auffallend lange Feuilleton widmete (es erstreckte sich über drei Seiten) immerhin schon auf drei Beiträge in der 1874 von Julius Rodenberg begründeten Zeitschrift verweisen, sieben weitere folgten zwischen 1907 und 1914. Wenn die Erzählung „Keine Brücke“, im Band 129 der Deutschen Rundschau (Oktober – Dezember 1906) zuerst gedruckt, von Eloesser auffällig extensiv behandelt wird bis zu detaillierten inhaltlichen Details, dann muss das mit eben diesem Druckort zu tun haben, denn auch die ebenfalls breit betrachtete „Verena Stadler“ fand sich bereits im 122. Band (März – Juni 1905).

Charles Linsmayer nennt für Ernst Zahn 28 Romane und 30 Erzählbände. Arthur Eloesser hat an Romantiteln lediglich „Albin Indergand“ und „Die Clari-Marie“, von den Erzählungen und Novellen erwähnt er neben Einzeltiteln vor allem die Bände „Helden des Alltags“ und „Firnwind“, wobei ihm „Keine Brücke“ dann auch als kleiner Roman erscheint, er „ist ein edles Stück deutscher Prosa, ein reifes Produkt deutscher Kultur, die heute mit soviel Geschrei gesucht und gejagt wird. Zahn hat nun die Wichtigkeit der großen kleinen Dinge begriffen … Jetzt zum ersten Male verstummt die Frage, die ich gegen seine frühere Produktion erheben musste: was sagt er über mich? Der Stoff entscheidet nicht.“ Eloesser vergleicht „Keine Brücke“ mit „Zwei Straßen“, um den Unterschied zu verdeutlichen. In „Verena Stadler“ sieht er den Übergang zur neuen Qualität innerhalb der Erzählung, verteilt auf die Personen: Verena noch aus der alten, ihr Vetter, der blonde Bäcker, schon aus der neuen Erzählwelt. Für den Roman „Die Clari-Marie“ macht er geltend, dass die Wahl einer weiblichen Hauptfigur weiterführend war: „Schließt man mit diesem Roman die erste Periode von Zahns Tätigkeit ab, so verdient er den Namen eines tüchtigen Volksschriftstellers … Einen literarischen Standpunkt könnte man kaum auf sein bisheriges Schaffen anwenden.“

„Nach der Eröffnung der Schleuse beginnt die Produktion nun unaufhaltsam zu fluten, … kriecht bald eine lange Schlange von Bänden hervor. Zahn selbst hätte das Untier gern um die ersten vier bis fünf Ringe gekürzt, und ich würde in dieser Operation noch weiter gehen.“ Hier liegt vermutlich der Grund, warum in der Literaturgeschichte 1931 allein „Helden des Alltags“ Erwähnung findet, alles andere nicht. Vermerkt sei auch, dass jene Titel, die Charles Linsmayer als unter der langen Reihe von Bestsellern verschüttet nennt, bei Eloesser gar keine Aufmerksamkeit fanden. Das erklärt sich aus ihren Erscheinungsdaten für 1907, in der Geschichte aber hätten sie zeitlich durchaus ihre Chance gehabt. Linsmayer nennt „Nacht“ von 1917, „Die tausendjährige Straße“ von 1939 und „Blancheflur“ von 1923. Vier Millionen verkaufte Bücher, eine große Zahl von ihnen gedruckt in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, waren ein Zeichen für einen Autor, den schon nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kaum jemand noch kennen wollte. Der Roman „Albin Indergand“ ist 1981 noch einmal neu veröffentlicht worden. In ihm finden sich laut Arthur Eloesser „zum ersten Male gerahmte Bilder, die sich einprägen“. Dass Zahn nun für sich schreibt, ein Wiederanfänger ist, war Eloesser 1907 Garant, dass es von nun an nur noch vorwärts und aufwärts gehen wird mit ihm.


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