Verkannt aus vielen Sichten
So ändern sich die Zeiten. Das Lob Rainer Maria Rilkes für Hermann Hesses zweites Buch schreckt heute eher ab, die aggressive Frage Robert Musils nach den homosexuellen Momenten bei Hesse macht eher neugierig. Und mit Hermann Hesse selbst, dessen 125. Geburtstag heute buchstäblich weltweit begangen wird, hat das alles nicht mehr und nicht weniger zu tun als die Würdigungen, die ihm zuteil werden auch von Lobrednern, denen es nur um giftige Formeln zu tun ist, weil sie das aus ihrer eigenen Politiker-Praxis nicht anders kennen.
Wer je gelesen hat, wie der milde Hesse, der „Ghandi aus Montagnola“, der zartfühlende Naturist, über das Sprengen einer Kathedrale fabuliert, wie er genüsslich die Szenerie entfaltet im „Steppenwolf“, in der vorbeifahrende Autos abgeschossen werden oder aber über den alten Gerhart Hauptmann einfach schreibt: „Dem gehört der Kopf abgeschlagen“, der hat mit Bundespräsident Johannes Raus Rekrutierung des Dichters für das Thema Ethik so seine Probleme. Doch seit Ministerpräsident Bernhard Vogel beim Schlachtfest der CDU in Neustadt im Ilm-Kreis dem Günter Grass das Romaneschreiben empfahl und zu politischer Enthaltsamkeit aufforderte, wissen wir, dass Politiker die Literaten hernehmen, wie es ihnen eben so einkommt.
Hesse war nahezu pathologisch erpicht auf Lob und er ernannte einen Heinrich Wiegand zu seinem besten Leser, weil der einfach alles, was Hesse schrieb, toll fand. Weil der die Freunde Hesses toll fand, die Lieblingsmaler Hesses, die Lieblingskomponisten Hesses, alles einfach, auch die naiven Aquarelle, die der Dichter malte. Und weil er geduldig jeder Klage mit der Teilnahme begegnete, die der offenbar heillos hypochondrische Mann aus dem Tessin oder von woher auch immer gen Leipzig sandte. Siegfried Unseld, Hesses langjähriger Verleger, hat kundgetan, dass dem Befinden Hesses kaum Befunde entsprachen und wäre er tatsächlich ständig so leidend gewesen, wie er sich schon vor seiner Lebensmitte fühlte, hätte er wohl das gesegnete Alter nicht erreicht, in dem er am 9. August 1962 starb (noch ein Jubiläum für dieses Hesse-Jahr).
Vor allem aber war Hermann Hesse ein Dichter. Keiner von den ganz großen dieses Jahrhunderts ist vielleicht öfter, absichtsvoller oder auch nur aus einfacher Unkenntnis heraus verkannt worden, keinem ist noch auf dem Höhepunkt seines ersten großen Nachruhms so böse sein Charakter aufgerechnet worden und sein Verhalten als Mensch, als wäre dies je ein Kriterium für die Güte von Literatur gewesen. Der jüngst erst in der deutschen Gegenwartsliteratur doppelt ermordete Marcel Reich-Ranicke durchforstete Briefbände Hesses, um süffisant durchblicken zu lassen, dass dieser Hesse ja aus der Schweiz nichts gegen den Faschismus getan habe, dass er hohe Auflagen auch in den Jahren 1933 bis 1945 nicht nur nicht verhinderte, sondern genoss. Hesse musste dies nicht mehr lesen, es hätte ihn vielleicht umgebracht, wenn man die Reaktionen auf viel harmlosere Urteile zum Vergleich nimmt, die ihn jede Contenance verlieren ließen.
Gelesen aber wird er und die Verlage Suhrkamp und Insel werden gerade in diesem Jahr Orte des Händereibens sein, denn die Bücher gehen über die Ladentische, dass es nur so flutscht. Wer je eines der pfiffigen Lesezeichen in die Hände bekam, die diese beiden Häuser für dieses Hesse-Jahr auflegten und sie in ein Hesse-Buch steckt, weiß, was ihnen Hesse bedeutet. Er schaut mit einem unnachahmlichen Blick heraus, man kann ihn höher schieben oder eben nur so weit herausragen lassen, dass genau diese Augen zu sehen sind. Das macht alles vergessen, was Unberufene meinten. Das sagt: Sieh mich an, ich bin noch da, wenn du nicht mehr da bist. Denn es ist in der Tat wirklich nur eine Aufgabe für übenden Psychoanalytiker, Signale im Werk Hesses zu finden, die Inzest, die Pädophilie, die Homo- oder Bisexualität belegen. Leibfeindliche pietistische Traditionen, rückwärtsgewandte Sprachideale, manische Ich-Sucht, was tut das alles dem Leser, der seinen Hesse in die Hand nimmt und mit ihm ein aussterbendes Glück empfindet, das Glück des genießend Lesenden.
Da schließen sich die knappseitigen Beschreibungen vom Bodensee, die Gedenkblätter für einen heute vollkommen vergessenen Dichter, Buchbesprechungen, die einfach nur zutreffen und die kleineren und größeren Erzählungen, die Gedichte, die Märchen nicht aus. Selbst der durchaus gnadenlose Tucholsky fand ausgerechnet im Roman „Rosshalde“, den Hesse selbst später kaum noch gelten lassen wollte, ein Lied von Männerfreundschaft. Hesse war viel weiser als manche Gelehrten und er ist viel moderner als sehr viele Moderne, das reicht noch für mehr Jubiläen.
Zuerst veröffentlicht in: FREIES WORT, 2. Juli 2002, Seite 20
Dachzeile: Vor 125 Jahren wurde Hermann Hesse geboren
Titel: Geliebt und unverstanden, Manuskriptfassung