Reto Flückiger auf der Wissifluh

Sagen wir es so: Wer einmal im Jahr in die Schweiz fährt, sieht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit am Abend eines Sonntags vor Ort eher einen deutschen als einen schweizerischen TATORT. Das hat eine einfache Ursache. Die Schweizer dürfen nur einen im Jahr drehen, falls sie denn noch dürfen und da bleiben 51 oder gar 52 Sonntage Rest, an denen auf keinen Fall ein schweizerischer TATORT gezeigt wird. Der Umstand, dass ich also den erst dritten Schweiz-TATORT nach der langen Pause im Entstehungsland sah, ist fortgeschrittener Zufall und gleichzeitig Grund, dass ich mich zu ihm erst äußere, nachdem ich aus dem nämlichen Staatswesen nach Hause zurückgekehrt bin. Und in der mir unangenehmen Situation, schon manches gelesen zu haben, was die Maulhelden der Fernsehkritik dazu in die Welt gesetzt haben.

Wie toll und immer wieder strotzend vor Originalität ist es doch, Schweiz mit Käse in Verbindung zu bringen. Viel toller noch ist es, den eigenen Blödsinn zum ersten TATORT mit Stefan Gubser, der eine Meinung war, nun erinnernd wie die endgültige Wahrheit zu zitieren. BILD, weltweit anerkanntes High-End-Medium der diffizilen Sichtweise, hat gar einen Mann aus der Vergessenheit seines Lebens am Rollator gezaubert, der angeblich den TATORT erfand (waren das nicht die Schweizer von der Firma RICOLA?) und der behauptet aufgeregt, dass die Schweizer nichts können und lieber aufhören sollten, es seien ihm sogar die Füße eingeschlafen, als der Luzern-Playboy aus der Seilbahn-Kabine stürzte. Ich würde zwar ferndiagnostisch eher auf Durchblutungsstörungen in den Beinen tippen, wenn das mit den Füßen stimmen sollte. Das wiederum würde gewissen Nebenvermutungen über die Kopfarterien nicht gänzlich den Boden entziehen.

Man erinnert sich: Die deutschen TATORTE aus der Erfindungsphase, das waren nicht, wie jetzt an der Schweiz diagnostiziert, Werke öffentlich-rechtlicher Bräsigkeit, damals tobten Ausbünde an Mobilität durch die Folgen, sie trugen Fliege oder Knautschmäntel, hießen Trimmel oder verkehrten pausenlos bei ihrer geschiedenen Frau und stammten aus Jesuborn in Thüringen. Es ballerte und sexelte, die Mörder kamen meist aus dem Mittelstand, die Mörderinnen sahen aus wie Ida Ehre. Die namhaftesten Darsteller drängten sich ins Krimi-Studio, während heute nur noch Anfängerinnen und Anfänger geködert werden können. Ernst beiseite: Ich vermute, dass die martialische Verriss-Orgie in Teilen des deutschen Feuilletons damit zu tun hat, dass ihre Verfasser die Angst nicht los werden, auf der nächsten Steuer-CD aus der Schweiz gespeichert zu sein. Oder sie sind bei Rot über eine Ampel gefahren im Kanton Nidwalden und mussten dafür ihr halbes Weihnachtsgeld an den eidgenössischen Fiskus überweisen?

Denn weder war dieser TATORT um die Wissifluh oberhalb von Vitznau und des Gersauer Sees so schlecht wie behauptet noch überhaupt schlecht. Es war ein ganz normaler Krimi, der ganz normale Krimi-Ereignisse vorführte, die mit dusseligen Schweiz-Witzchen nicht abzutun sind. Soll ausgerechnet die kleine Schweiz nun mit Ellen gemessen werden beim TATORT-Machen, die hierzulande nur selten oder nie zur Anwendung kommen? Dann müsste sich der genannte Erfinder angesichts von Lena Odenthal ja schon beide Beine amputieren lassen. Die Masse der Jahr für Jahr neu produzierten Folgen aus den verschiedenen beteiligten Anstalten hat im Schnitt ein klar höheres Niveau als früher. Freilich darf man weder P 18-Blutorgien mit gleichzeitiger Sex-Verklemmung aus den USA, die auf allen Privatsendern Abend für Abend in mehr oder minder dichter Folge laufen, als Maßstab nehmen noch die vielen Wallander-Klone.

TATORT enthält mehr Realität als die meisten Normal-Kinofilme, mehr interessante und im Gesamtensemble eben auch hinreichend Abwechslung bietende Charaktere und Charakter-Kombinationen als all der hochgejubelte Serien-Müll, der Tag für Tag auf uns per Kabel und Satellit abgefeuert wird. Delia Mayer, um auf diese Nummer 3 zurückzukommen, hat schweres Fracksausen in der Kabine aufwärts. Man sieht es ihr an, sie muss weder wortreich labern noch hyperaktive-US-Mimik vorführen, um zu zeigen, dass es so ist. Manche von den Überkritikern haben ja nicht einmal bemerkt, dass keineswegs DEN Kriminalisten der Bauer Arnold sofort verdächtig ist, sondern eben ganz bestimmten. Warum soll für die Schweiz plötzlich nachteilig sein, dass erst drei verdächtig gemacht werden, die es sicher nicht waren, ehe der vierte dann ins Spiel kommt, der es war. In Deutschland wissen wir mit 97-prozentiger Sicherheit schon anhand der Besetzungsliste, dass der jeweils namhafteste Darsteller, der nicht Kommissar ist, am Ende als Täter überführt wird (Damen dito). In der Schweiz kennen wir die Mimen nicht so, was uns vielleicht verunsichert. Wo wäre dabei das Problem?

Buchautor Felix Benesch, es gibt Kritiker, die haben den auf ihn bezogenen Passus direkt von der ARD übernommen (und dennoch sicher nicht die bezüglichen Honoraranteile für ihre Produkte der Kinder-Nothilfe oder dem Naturschutz Vierwaldstätter See überwiesen), hat eine anständige Kriminalgeschichte anständig erzählt. Vielleicht hat er zweimal zuviel daran gedacht, schweizerische Selbstironie vorführen zu müssen, als gäbe es in den anderen TATORTEN ostwestfälische, kölnische oder Kieler Selbstironie, wir reden gar nicht von Bayern. Regisseurin Sabine Boss hat sowohl traumhafte Rigi-Nachbarschaft als auch superurbanes Luzern bei Nacht ins Bild setzen lassen (Kamera Roland Schmid). Wenn es um Millionen geht, sitzt die Straftat lockerer. Dennoch greift der feinere Krimi gern auf die Mäßigüberraschung zurück, dass am Ende doch „nur“ eine ganz altes Urmotiv entscheidend war. Hier nicht. Das ist deutlich mehr als nichts im Quervergleich. Die Zuseher, die BILD antworteten, wiesen das KÄSE-Prädikat für „Hanglage mit Aussicht“ übrigens offenbar fast einstimmig zurück. Das Sprachrohr des Volkes war es also wieder einmal nicht.

Weil ich eben aus einem Schweizer Hotel in Höhenlage komme, in dem nur Deutsche uns bedienten, aus Hamburg, aus Augsburg, aus Sachsen-Anhalt, bin ich nachträglich froh, dass nicht der deutsche Student aus der Hotelfachschule, der die Wissifluhtochter liebt, der Täter war. Es war der kleine Bankmann und alles andere wäre blöd gewesen, denn nicht einmal der Spekulant schreitet im Fall der Fälle in der Wirklichkeit selbst zur Tat. Dafür kann ein Kommissar in der schweizerischen Raumplanung bei Entfaltung hinreichenden Charmes Auskünfte erhalten, die sonst erst umständliche Bürokratie-Umwege nötig gemacht hätten. Und Liz Ritschard, also Delia Mayer, lässt sich die Pistole abnehmen. Nette Züge, Axel Prahl in Münster würde das mit der Raumplanung nie schaffen. Als Alibi hatte der verdächtige Eifersüchtige seinen Einsatz als Koch im Verkehrshaus in Luzern vorzubringen. Ein gutes Alibi. Es gibt für das gefährdete Objekt auf der Wissifluh, welches die spekulativen Begehrlichkeiten im Krimi weckte, am Ende gute Aussichten, denn der Regierungsrat kann natürlich nicht nur kungeln, er kann auch Fördertöpfe anzapfen.

Möge sich die Programmdirektion der ARD nicht von den Pferdeflüsterern der Medienkritik bequasseln lassen, ich kenne andere öffentlich-rechtliche Sendungen, die eher in ihrem Lebensrecht zu bezweifeln wären als ausgerechnet der TATORT aus der Schweiz.


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