Heinrich von Kleist in der Schweiz

Man könnte inzwischen schon wieder ein Buch darüber füllen, was in Büchern zu Kleist über dessen Aufenthalte in der Schweiz geschrieben wurde. Es ließen sich auch, vom miserabel dokumentierten Lebenslauf her, diverse Facetten des Bekannten neu gruppieren. Immerhin hat in dieser Schweiz Kleist seinen Freund beobachtet, wie der nackt in den Thuner See stieg, und Kleist hat dabei mädchenhafte Gefühle empfunden. Behauptete er jedenfalls in jenem Brief, der immer gern zitiert wird, mal, um es zu beweisen, mal, um es als nicht beweisbar vorzuführen. Letztlich ist es, aufs Ganze der Literaturgeschichte bezogen, ja ohnehin bestenfalls eine weitere Fallstudie zum Thema: War er oder war er nicht? Was es bedeuten könnte, wenn er war, ist schon wieder eine andere Frage, die nur noch für Gender-Fachblätter von Interesse wäre.

Von dieser Schweiz aus hat sich Kleist endgültig aus dem Leben von Wilhelmine von Zenge gemogelt. Die hat später Krug geheiratet und ihren Ex-Verlobten im Haus Krug zu Königsberg sogar mit Tee und Keksen bewirtet, vielleicht auch mit Eierlikör und Königsberger Klopsen, wir wissen es nicht und es hätte für die Deutung der „Penthesilea“ auch wirklich nur eingeschränkte Bedeutung, ob Eierlikör zu Klopsen passe. Wilhelm Amann, einer von den vielen, die zum Kleistjahr marktwirtschaftliche Morgenluft witterten, schrieb, dass Krug, also Wilhelm Traugott Krug, „ausgerechnet“ Nachfolger von Kant wurde in Königsberg. Wessen Nachfolge hätte denn näher gelegen, Herr Amann? Oder hätte der Kant-Lehrstuhl nie wieder besetzt werden sollen wie später die Rückennummer von Michel Platini in der Equipe Tricolore? Womit nicht gesagt sein soll, dass Heinrich von Kleist noch immer höchst aktuelle Problemlagen ins Bewusstsein rufe.

Dann wäre da noch die Wahrheit. Kleist soll im Rahmen der so genannten Kant-Krise, Kant war ausgerechnet Vorgänger von Krug, und er soll seinen Senf selbst bereitet haben, was nicht verhindert hat, dass andere den ihren immer dazu gaben und es noch heute tun, also im Rahmen jener Krise soll Kleist an der Wahrheit vollständig und total verzweifelt sein. Er verwarf gleich alles, was sich bei der Gelegenheit im Nebeneffekt mit verwerfen ließ. Das führte dazu, dass er brieflich behauptete, das Schreckhorn bestiegen zu haben, während eine bestimmte junge Dame schweizerischen Geblüts den Gottesdienst besuchte. Es macht Vergnügen, alle Sätze in den oben genannten Kleistbüchern zu lesen, die mit dem nötigen Bierernst, den man in diesem Fall ausnahmsweise Müsliernst nennen möchte, darauf aufmerksam machen, dass derartige Eilbesteigungen im Falle Schreckhorn schlechterdings und guterbums nicht möglich seien.

Ob Heinrich von Kleist, der fuchtelnd auf seiner Aareinsel sich ergangen haben soll, die Verse seines „Robert Guiskard“ deklamierend, die er noch nicht aufgeschrieben hatte, überhaupt irgendeinen Berg bestieg, wie es Freund Goethe tat, dem sich Kleist später auf den Knien seines Herzens krauchend näherte, ist mehr als zweifelhaft. Unzweifelhaft aber ist Kleists Verhältnis zum genannten W-Wort. Was er in Briefen so alles an Blauem vom Himmel fabulierte in seinem kurzen Leben, müsste ausreichen, den himmlischen Blauvorrat auf immer defizitär zu gestalten. Für die so genannte Kleistforschung, die in wesentlichen Punkten ja Kaffeesatzlese darstellt mangels auswertbaren Dokumenten, ist gerade das ein gefundenes Fressen. War er nun in Würzburg im Kampf gegen eine Vorhautverengung oder um die weiland berühmte Würzburger Spionageschule Schlapp & Huth zu besuchen, deren Hausarchiv vom Militärischen Abschirmdienst Oberbayerns vermutlich vollständig vernichtet wurde?

In der Schweiz jedenfalls lernte Kleist Menschen kennen, mit denen er sich befreundete. Einen kannte er schon aus Frankfurt an der Oder, den in Magdeburg geborenen Zschokke, von dem vor allem „Hans Dampf in allen Gassen“ stammt und mehr. Einer hieß Ludwig Wieland und war der Sohn des alten Wieland, der wiederum schon der alte Wieland hieß, als er noch der ziemlich junge Wieland war. Neben der übergroßen Menge an zu verheiratenden Töchtern hatte er auch diesen Sohn Ludwig, der gern Schriftsteller geworden wäre, was Vater Christoph Martin nicht so toll fand, denn er vermutete wohl nicht grundlos, sein in Europa zeitweise Goethe klar überflügelnder guter Ruf könnte durch einen schreibschwachen Sohn geschädigt werden. Jung-Wieland wiederum kannte Jung-Gessner, Heinrich mit Vornamen und Sohn von Salomon, den alle gern den Idyllendichter nennen. Und da soll es dann zum Dichterwettstreit gekommen sein. Auch diese Geschichte ist so oft erzählt worden anhand der sehr viel späteren Erinnerungen Zschokkes, dass ein Textvergleich der Nacherzählungen sicher mindestens einen Bachelor abwerfen würde.

Immerhin ist nicht zu leugnen, dass es DER ZERBROCHNE KRUG sowohl von Kleist als auch von Zschokke gibt, Wieland-Junior muss seine Fassung bald in den Papierkorb geworfen haben, jedenfalls fand ich bis dato keinen Hinweis oder gar Nachdruck des Wettbewerbsbeitrages. Ich habe allerdings noch nicht sämtliche Festschriften durchgrast, die eventuell in Fußnote 614 einen Hinweis auf eine nicht mehr auffindbare Quelle enthalten könnten. Der Freundeskreis soll sich auch an der FAMILIE SCHROFFENSTEIN so sehr erheitert haben, dass Kleist nicht bis zur Mordszenerie kam, weil er selbst am meisten lachte. Daraus haben allerhand lustige Interpreten die Folgerung gezogen, Kleist hätte mit seinen Freunden übereinstimmend sein eigenes Erstlingswerk nicht so ernst genommen, dass auch sie, die Interpreten, es etwaig ernst nehmen müssten. In Wirklichkeit haben sich die Lacher natürlich vor allem an der Szene erheitert, wie sich die beiden jungen Protagonisten nackig machen müssen beim listigen Kleidertausch, der die Voraussetzung für die finale Mordszene ist. Nackig auf einer Bühne um 1800, also das war in der Tat eine lustige Vorstellung. Noch hundert Jahre später erregte ein nur verbal gerutschter Schlüpfer bei Sternheim einen handfesten Theaterskandal. Das Stück hieß bezeichnenderweise keineswegs DER SCHLÜPFER sondern DIE HOSE.

An dieser Stelle soll das Geheimnis gelüftet werden, das den Anlass dieses Beitrages noch umgibt. Es heißt „Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden“ und hat den Untertitel, der mir die obrige Überschrift liefert. Es handelt sich um eine Ausstellungsdokumentation, herausgegeben von Philipp Burkard und Anett Lütteken, erschienen im Wallstein-Verlag. Weil ich die Ausstellung nicht sehen konnte, die ich gern gesehen hätte, griff ich freudig zum Katalog. Thun und Aare-Insel mit dem Denkmal am Ufer, welches in der Stadt Berlin nicht genommen worden war, kannte ich bereits. Ich hatte mich sehr belustigt an den zum Teil kuriosen Beschreibungen der Insel in diversen Publikationen, die alle offenbar nie tatsächliche Ortskenntnis zur Grundlage hatten. Ich kannte natürlich die wunderbaren Texte von Robert Walser, die Kleist betreffen. Dann aber stieß ich auf Seite 62 auf einen so unverzeihlichen Fehler, dass mir die ganze Publikation fragwürdig wurde.

Auf der genannten Seite wird allen Ernstes anlässlich des UFA-Films von 1937, in dem Emil Jannings den Dorfrichter Adam spielt, behauptet, Goebbels habe den Film als „photographiertes Theater“ kritisiert, weil ihm klar war, dass der klumpfüßige Adam an den Reichsjägermeister Goering erinnere. Sollte sich tatsächlich nicht bis in die Schweiz herumgesprochen haben, dass der Klumpfuß Goebbels selbst war, man sieht ihn in allen filmischen Dokumenten mehr oder minder deutlich hinken? Der dicke Goering hatte damit rein gar nichts zu tun, weder real noch assoziativ. Wenn denn die jungen Herausgeber das schon übersahen, wie geht das bei einem deutschen Verlag in Zeiten, die mit Guido-Knopp-Dokumentationen geradezu überschwemmt waren? Einmal gewarnt, fallen mir sofort auch andere Seltsamkeiten auf. Robert Walsers „Kleist in Thun“ wird im Literaturverzeichnis doppelt ausgewiesen, einmal an der Originalstelle in der SCHAUBÜHNE und dann ein zweites Mal in der nun wahrlich nach den Regeln wissenschaftlicher Publikationen nicht zitierwürdigen Sammelbandstelle der Walser-Auswahl DICHTETEN DIESE DICHTER RICHTIG?, die überdies auch die anderen Walser-Texte zu Kleist enthält.

Durchgängig steht, was in der Dokumentation steht, nicht auf dem aktuellsten Stand der Diskussion in der Kleist-Philologie. Fast jede substantielle Behauptung könnte mit wenigstens einem kleinen Fragezeichen versehen werden angesichts dessen, was auch die leichter zugängliche Fachliteratur bereits bot vor dieser Dokumentation. Das ist nicht immer ärgerlich, denn solche Kataloge werden nicht für spitzfindige Experten entworfen. Dennoch ist es nie ratsam, das Fachpublikum einfach zu ignorieren. So behauptet etwa die Zeittafel, dass Kleist nach der endgültigen Abreise aus der Schweiz erst einmal bei Ludwig Wieland in Oßmannstedt gewohnt habe. Tatsächlich aber ist Kleist, weil der Freund ihn schon in Erfurt verließ, zunächst überhaupt nicht nach Oßmannstedt gereist, sondern erst später, als er schon eine Weile unter vollkommen unbekannten Umständen an unbekanntem Ort in Weimar gewohnt hatte. Zumindest wird das in der Literatur wie selbstverständlich so dargestellt.

Auf Seite 66 geht es um Karl Walser, den Bruder Robert Walsers. Dessen Bildfolge zum „Käthchen von Heilbronn“ passe mit seinen Rokoko-Reminiszenzen sehr gut zum Stück. Das genau wäre zu erläutern, denn Rokoko und Ritterschauspiel haben auf den ersten und auch noch den zweiten Blick nicht sonderlich viel miteinander zu tun. Heutiger, auf keinen Fall jedenfalls historischer, Sicht der Herausgeber verdankt sich die mehr als seltsame Aussage „Heinrich von Kleist hat mit seinem Aufenthalt auf der oberen Aare-Insel ein Zeichen gesetzt, nicht allein für sich selbst, sondern auch für andere. Seine Abkehr vom bürgerlichen Dasein markierte er damit ebenso wie seinen kompromisslos-radikalen Aufbruch in ein Leben als Schriftsteller.“ Der letztgenannte Aufbruch war tatsächlich weder kompromisslos noch radikal, schon gar nicht im Zusammenhang mit dem Schweiz-Aufenthalt. Vom bürgerlichen Dasein wandte er sich ebenfalls eher nicht ab, der Angehörige der alten Familie von Kleist hatte andere Daseinsformen zum Abwenden. Und schließlich, was sollte es für eine Zeichensetzung sein, von der niemand je Kenntnis erhielt außer einigen wenigen Briefadressaten und noch weniger aktiven Mitwissern? Wirksame Zeichensetzung ist an ihr massenwirksames Kommuniziertwerden gebunden. Alles andere ist modische Phrase.

Sachlich ärgerlich ist auch die Behauptung, Goethe habe eigenmächtig in den Text von DER ZERBROCHNE KRUG eingegriffen für seine Weimarer Aufführung. Wenn er das getan hätte, wäre es vielleicht besser ausgegangen, als es ausging. Gerade weil er nicht eingriff, eine Pause einbaute und außerdem vorher noch einen musikalischen Einakter spielen ließ, geriet der Abend aus den Fugen. Das sollte man nun wirklich überall auf der Welt, wo man zu Kleist Ausstellungen gestaltet, wissen und berücksichtigen und nicht einfach unhaltbare Behauptungen aufstellen. Fragwürdig ist ebenso die knapp vorgestellte These, die Reaktionen auf die anonym erschienene FAMILIE SCHROFFENSTEIN bewiesen, dass Kleist nicht immer und überall verkannt wurde. Der inflationäre Gebrauch der Worte „Genie“ und „genial“ ragte noch aus den „Genie-Zeit“ des Sturm und Drang in die Kritikspalten hinein, belegt also keineswegs die Hellsicht seiner Nutzer, eher ihre Gedankenlosigkeit beim Vergeben von Superlativen.

Dass Heinrich von Kleists lebenstüchtige Schwester Ulrike ganz allein in die Schweiz reiste, als sie von der angeblich schweren Erkrankung ihres Bruders hörte und wie ungeheuer clever sie sich zu ihm durchschlug, ist der Dokumentation nicht einmal einen Zungenschlag wert. Ob sie tatsächlich einen wieder genesenen Bruder oder aber einen durchgängig gesund gewesenen Trickser antraf, das diskutiert wohl bisweilen die Literatur, die Herausgeber aber haben davon scheinbar keinerlei Kenntnis, sie stellen nicht einmal die Frage. Auch hier muss allerdings eingeräumt werden, dass das möglicherweise nicht die Aufgabe einer solchen Ausstellung mit schmaler Dokumentation ist. Die jedoch immerhin einen heutigen Photographen beauftragte, Aufnahmen von Schauplätzen zu machen. Der Thuner Fotograf Christian Helmle durfte auf der Privatinsel fotografieren, wo das Kleist-Haus schon längst nicht mehr steht und es sind ansehnliche Fotos geworden. Freilich haben sie eher Schauwert als Informationswert. Auch die Abbildung des Kleistdenkmals von Urban Thiersch (S.  41), hat eher das Streben des Fotografen Jürg Kobel nach origineller Sicht als die Information des Betrachters, wie denn das Denkmal nun aussieht, zum Anliegen.

Auf Seite 37 haben die Herausgeber die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass Kleist für völlig unterschiedliche Panoramen (Thun und Bern) fast wortlautidentische Beschreibungen lieferte. Genau dies kommt auch bezüglich deutscher Landschaften bei ihm vor. Darauf hätte hingewiesen werden können, weil es einmal über sein „Ideen-Magazin“, zum anderen über sein Verhältnis zu tatsächlicher Landschaft Aufschlussreiches aussagt. Des Mäkelns sei damit ein Ende. Denn nutzlos oder überflüssig ist die Dokumentation deswegen durchaus nicht. Sie verschafft auf alle Fälle eine durchweg anschauliche Vorstellung dessen, was 2011 in Thun zu sehen war. Sie hält das Thema behandlungswürdig, auch wenn das Bauern-Leben letztlich hauptsächlich im Titel vorkommt, weil es leider keinerlei fassliches Material gibt, mit dem sich arbeiten ließe. Eingereist in die Schweiz ist Kleist übrigens seinerzeit offenbar bei Koblenz im Kanton Aargau. Spuren hat das dort selbstredend keine hinterlassen. Mir sind jedenfalls keine aufgefallen.


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