Reto Flückiger duzt Kaspar Vogt

Entweder wandert religiöser Fanatismus tatsächlich in die Augen oder aber Regisseure empfinden den filmischen Basedow für solche Fälle übereinstimmend als beste optische Umsetzung für ihre Charakterpräsentation. Dass die Schweiz nicht nur das Land der weiblichen Doppelnamen, des Matterhorns und des Bircher-Müsli ist, sondern auch den einen oder anderen Löffelbieger hervorbrachte, hat sich herumgesprochen. Sekten mit, nun ja, etwas eigenen Vorstellungen, haben dort immer einen frischen Boden gefunden, selbst die Reformation neigte im Eidgenössischen zu brachialerer Bilder- und Menschenstürmerei als andernorts. Hier nennt sich die Gemeinschaft „Kreis der Gnade“, nicht wenige ihrer Mitglieder arbeiten in einem Sägewerk. Sie bekreuzigen sich nicht nur, sondern zeichnen sich zusätzlich einen Kreis übers Brustbein.

Der Ermittler Reto Flückiger hat eine ziemlich ausgeprägte Antipathie gegen Gebaren und Gehabe  solcher Christen, was seine Kollegin Liz Ritschard ein wenig an der Objektivität seines Herangehens zweifeln lässt. Doch auch sie bekennt bald, vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen als „Problemkind“ an den aktuellen Fall heranzugehen. Bei dem handelt es sich um die Aufklärung der Umstände, unter denen ein 14 Jahre altes Mädchen zu Tode kam, es wurde ziemlich brutal erschlagen und dann ins Unterholz geschleift. Das gehört zum Meggerwald, der  wiederum im Gebiet zwischen Luzern, Adligenswil und Küssnacht liegt und wenn er nicht gerade den Tatort im TATORT zu spielen hat, mit einem Bodenlehrpfad aufwartet, für betreutes Wohnen wirbt oder für vermutlich gar nicht spottbillige Eigentumswohnungen mit Rigi-Blick. Und natürlich kann man gut wandern da auf zwei Rädern oder zwei Füßen.

Das 14 Jahre alte Mädchen Amina hat noch eine kleine Schwester Julia und eine Mutter Ursula. Die war früher drogensüchtig, dann im Metadon-Programm und dann wurde sie aus dem Milieu gerettet. Der Retter ist der Mann an der Spitze des Gnadenkreises, der Mann mit den auffälligen Augen. Er sieht, was er tut, als das Gute schlechthin an, er beschützt die Mutter und deren beide Töchter, er versucht, nicht nur den Kontakt zum leiblichen Vater zu verhindern, sondern auch das Gedenken an ihn nach und nach aus den Köpfen seiner Schützlinge zu vertreiben. Die neue Schweizer TATORT-Folge heißt „Geburtstagskind“, weil der vierzehnte Geburtstag von Amina die Katastrophe auslöst. Der Zuseher sieht sofort, dass das Kind nicht glücklich ist, er sieht eingangs einen verdächtigen Motorradhelm und dann einen unrasierten Mann.

Der unrasierte Mann ist der leibliche Vater, der in dem, was in Deutschland Bundeszentralregister heißt, kein unbeschriebenes Blatt darstellt, er hat Ursula ins Drogenmilieu gezogen, erfährt man, und irgendwann kam es zur Trennung. Er hat keinerlei Umgangsrecht und muss sich, als er ein Geburtstagsgeschenk überbringen will, vom neuen Vater rauswerfen lassen. Er wirft seinerseits mit einem Stein ein Fenster ein, Amina aber will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Und dann liegt sie nicht nur tot im Wald, sondern es erweist sich, dass sie im dritten Monat schwanger war. Damit ist, was den gelernten Krimizuschauer wenig überrascht, ein ganzes Spektrum möglicher Motive angedeutet und auch schon ein Päckchen Verdachtsmomente geschnürt. Der wie üblich nervende und wie noch üblicher ahnungslose Vorgesetzte Mattmann hätte am liebsten den leiblichen Vater als Täter, der es natürlich nicht war. Ein bis dahin Unbekannter bricht in den Wohnwagen ein, in dem dieser Kaspar Vogt lebt und es dauert nicht übertrieben lange, bis er sich auch für den Mordfall hinreichend verdächtig gemacht hat. Er flüchtet vor der Polizei und schließlich ergibt der DNA-Test auch noch, dass weder der leibliche noch der Ersatzvater als Erzeuger des Kindes in Frage kommen, sehr wohl aber dieser Neunzehnjährige, der Fabian heißt.

Und der war es auch nicht. Der leibliche Vater wird von drei vermummten Jugendlichen zusammengeschlagen, entführt anschließend seine kleinere Tochter Julia und fordert auch die Mutter Ursula auf, es noch einmal mit ihm zu versuchen. In kleinen Gesten deutet die, eindrücklich gespielt von Sarah Spale Bühlmann, an, dass da noch nicht alles vergessen ist. Marcus Signer als Ex-Junkie und Vater zeigt vor allem den maßlos mit sich selbst und seinem verpfuschten Leben Hadernden, dem nicht sehr viel einfällt, seine Liebe zu zeigen, das wenige dafür aber um so überzeugender. Dagegen ist die Oberfläche bei Stiefvater Beat (Oliver Bürgin) tatsächlich nur Oberfläche. Der „Kreis der Gnade“ ist im Kern ein Kreis der Gnadenlosigkeit. Die äußert sich in Selbstgerechtigkeit, in Selbstüberhebung, die bis zur alles andere als christlichen Anmaßung reicht, Herr über Leben und Tod sein zu dürfen.

„Ich bin so unendlich gnädig gewesen“, sagt der Mörder von sich. Erklärt Amina, weil sie abtreiben wollte, zur Mörderin: „Ich konnte nur noch ihre Seele retten.“ Stefan Gubser spielt seinen Reto Flückiger mit hochgezogenem Reißverschluss oder mit sehr dickem Schal, Delia Mayer ist die, die sich hineinversetzen kann und deshalb eher Antworten bekommt. Das Duo hat nun das Profil für weitere Folgen erworben, es ist angenehm zurückgenommen in der in anderen Tatorten langsam aber sicher immer stärker überbordenden Alltagspsychopathologie ihrer Ermittler. Auch Regisseur Tobias Ineichen hat nur wenige Touristenbilder zugelassen in Zwischenschnitten, die Kapellbrücke muss natürlich einmal pro Folge sein, schon das Sägewerk aber, das hätte auch irgendwo stehen können an einem ganz anderen Seeufer.

Meine vierzehntägig erscheinende Fernsehzeitschrift, die Mutter aller vierzehntägig erscheinenden Fernsehzeitschriften, die vorerst noch nicht von der Funke-Gruppe erworben wurde, hat einen roten Daumen nach oben für gut befunden und noch einmal den vorigen Luzern-TATORT gelobt. Das klingt alles ein wenig nach Abbitte und ich sehe es mit mittlerer, freilich völlig unreligiöser Selbstgerechtigkeit. Ich habe, hier leicht nachzulesen, von Anfang an gegen die organisierte Miesmacherei in Sachen Schweizer TATORT angeschrieben. Dass ich irgendjemanden von irgendetwas dabei überzeugt habe, so weit reicht meine Selbstgerechtigkeit freilich wieder nicht. Die Augen hatte übrigens schon ein Mörder, den eine ganze Stadt jagte, sein Darsteller hieß Peter Lorré. Wenn Irre und Fanatiker sich in diesem Punkt gleichen, sollte uns das zu denken geben.


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