Drei Jahre im Netz

Das Lied von der vergehenden Zeit wird hier nicht angestimmt, obwohl es mich schon selbst überrascht, meiner Rubrik NÄHKÄSTCHEN ein komplettes Jahr die Zuwendung verweigert zu haben. Ich denke immer zwischendrin mal an einen neuen WERKSTATTBERICHT, aus dem jedoch mit gnadenloser Folgerichtigkeit nichts wird. Wie ungeheuer prall wäre mein REISE-LOB längst, wenn es nicht die leidigen Prioritäten gäbe, die aus mir selbst kommen und also höhere Gesetzeskraft haben. Dicke Mappen liegen da mit Anregern. Dennoch habe ich wenig Grund, mir böse zu sein. Allein die THEATERGÄNGE sammeln mittlerweile 102 Kritiken, die rund 450 Buchseiten füllen würden, berechnet auf der Basis des Satzspiegels jener beiden Bücher, die seit ZWEI JAHRE IM NETZ fast heimlich auf den Markt geschlichen sind: „Meine ärgsten Freunde“ (ISBN 978-3-95618-120-7) und „Restsympathien und andere“ (ISBN 978-3-95618-123-8). Beide Titel gäbe es ohne www.eckhard-ullrich.de nicht und weil das so ist, finde ich die Idee des Verlags, meinen Namen genau so auf den Titeln zu präsentieren, immer noch pfiffig.

Wenn ich mich nicht verzählt habe, dann gibt es derzeit bei mir ohne das TAGEBUCH 448 Titel anzuklicken, 123 sind im Verlauf des dritten Netz-Jahres hinzugekommen. Das größte Neu-Kontingent stellen die THEATERGÄNGE mit 35, gefolgt von JAHRESTAGE (25) und BÜCHER, BÜCHER (20). Das größte Defizit sehe ich im MEDIEN-BLICK, weil ich dort streng genommen täglich einen längeren Text schreiben könnte, das aber würde mich mehr ablenken, als mir lieb wäre und vor allem von der Literatur wegführen, die immer das Hauptgeschäft bleibt. Seit Ende Oktober 2012 jedoch geschwiegen zu haben, also noch deutlich länger als im NÄHKÄSTCHEN, das beunruhigt mich beinahe. Wo doch die zweitdickste Anreger-Mappe, wenn ich sie nur aufschlage, sofort wilde Lüste weckt, diesen Themen ein paar Zeilen mehr zu widmen. Der (selbstironisch gedachte) Test auf der Küchenwaage ergibt 781 Gramm für die Mappe ANREGUNGEN. Für Freunde der Textaufgabe: Eine komplette Seite der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT wiegt auf der nämlichen Küchenwaage acht Gramm, einzelne einspaltige Artikel geben der Digitalanzeige keine Veranlassung, die sichtbare Null durch eine von ihr verschiedene Ziffer zu ersetzen.

Ein ziemlich frisches Anrege-Stück aus dem Wochenblatt DERFREITAG trägt die Überschrift „Warum gibt es immer mehr Alltagsdenker?“. Verfasser ist Jürgen Busche, einer jener ehemaligen Chefredakteure, die in Deutschland vor Not bewahrt werden müssen und deshalb anderen freien Autoren den Marktzugang verstopfen. Busche ist aufgefallen, dass das Wort PHILOSOPHIE fast täglich missbraucht wird, was gelernten Philosophen, mir zum Beispiel schon ewig auf den Wecker fällt, ich schrieb auch schon drüber, aber hier ist es halt ein ehemaliger Chefredakteur, der einem aktuellen Chefredakteur so sympathisch ist, dass er darum und darüber kolumnieren kann. Ein reichliches Jahr älter ist ein Kurz-Porträt des früheren Bundespostministers Christian Schwarz-Schilling, von dem es heißt: „Als 16-Jährigem gelang es ihm, aus der sowjetisch besetzten Zone nach West-Berlin zu fliehen und dort zu studieren.“ Das erinnert mich an einen meiner ersten Interview-Partner aus dem Kreis der „Heimkehrer“, der erzählte, wie er 1947 gezwungen war, durch die Werra zu schwimmen, um in die Freiheit zu gelangen.

Der Ex-Postminister hätte mich vielleicht zu einer wilden Polemik veranlasst gegen dämliche Heldengeschichten und noch dämlichere Redaktionen, die so etwas erst glauben und dann drucken, aber irgendwann versank das Blättlein unter seinen Nachfolgern. Nie schrieb ich über Volkshochschulkurse in Bamberg, nie über die wunderbare Nachricht, dass man Müller-Milch Gen-Milch nennen darf oder die noch wunderbarere, dass immer mehr und immer ältere Männer sich umbringen. Das Tröstliche an der Nachricht war nicht eigens formuliert. Es besteht darin, dass die 85-Jährigen früher schon tot waren, ehe sie sich umbringen konnten. Ich habe Zeitungsseiten aufgehoben, die acht und mehr Todesanzeigen für einen und denselben Mann versammelten, was sich besonders nett liest, wenn der Verblichene einen Adelstitel trug und nun quasi der ganz aktuelle GOTHA unten drunter steht mit all diesen herrlichen Namen. All diese Schätze blieben wohl ungehoben wegen des Shakespeares, des Schillers, des Heines, manchmal wegen Autoren, die niemand mehr kennt und die ich deshalb ans Licht meiner Mini-Öffentlichkeit zerre.

Exakt 99 Gramm mehr als die ANREGUNGEN wiegt die Mappe SCHWEIZ, weil mir irgendwann auffiel nach einer Agentur-Nachricht über 35 Millionen (vielleicht waren es ein paar mehr oder weniger) Schweizer Franken, die von den Eidgenossen nach Deutschland gepumpt werden zum Zwecke der Tourismus-Werbung, dass also vollkommen und rein zufällig plötzlich auch in den seriösesten Blättern, gerade in denen, ganzseitige oder fast ganzseitige Artikel über die herrliche Schweiz mit ihren noch herrlicheren Regionen und Reisezielen erschienen, was mich insofern erfreute, als ich seit vielen Jahren regelmäßig in die Schweiz fahre, nächste Woche zum ersten Mal seit 1995 mit dem Bus. Mich schreibt der Schweiz-Tourismus immer direkt an, ich bekomme Newsletter und ähnliche Scherzartikel, Franken muss ich mir selbst auf der Sparkasse holen. Dafür tragen meine Beiträge nie den Verweis auf das Reise-Unternehmen, welches meine Reise freundlich unterstützte. Auch meine zwanzigste Schweizreise wird aus dem familiären Jahreseinkommen  direkt finanziert und erscheint beim Finanzamt nicht in den Kosten, obwohl sie das nach höchstrichterlichem Urteil dürfte, selbst wenn ein Teil des Urlaubs nichts als Urlaub war. Wann aber hat, wer schreibt, Urlaub und nichts als Urlaub?

Mein Theatergang zum Meininger „Hamlet“ hat mir einen Fan-Club in Eisenach beschert, wo man den Aufstand proben wollte gegen derlei inszenatorische Seltsamkeiten, in Potsdam werde ich gelesen weit über Durchschnitt und auch in Weimar scheint seit der vorjährigen Bilanz ein fast verblüffender Umschwung stattgefunden zu haben. Und zwar für alles, was Weimar betrifft. Acht THEATERGÄNGE stehen unter den 25 meistgelesenen Texten, der neunte vom Vorjahr ist auf Platz 26 immer noch ganz nah dran. Aus vier im Vorjahr sind jetzt sechs Bücher ganz vorn geworden, klarer Spitzenreiter dabei mit immer noch täglich steigenden Werten Annette Leos Strittmatter-Biographie. Die Gesamtzahl der Zugriffe liegt immer noch im sechsstelligen Bereich, was mit der Größe dieses Bereichs zu tun hat. Meine bisher 18 veröffentlichten Gedichte haben fast alle deutlich höhere Zugriffszahlen als jeder gedruckte Gedichtband normalerweise je bekommen kann, weil seine Auflage gar nicht groß genug ist. Was freilich außer der Zahl kaum aussagekräftig ist. Würde ich aktiver am Klassenkampf teilnehmen, könnte ich vielleicht zum Dorfgespräch werden, so aber reicht mir ein Klassentreffen im Jahr, den Klassenkampf überlasse ich allen parteilosen Kommunisten und ihren parteilosen Blockfreunden. Meine Camel-Jacken würden ohnehin schlecht zu Jack Wolfskin passen.

Wie im Vorjahr habe ich Ulrike zu danken, die nur ganz selten einen Fehler sieht, der gar keiner ist, aber unweigerlich all die vergessenen Buchstaben, die überflüssigen Buchstaben und was sonst so anfällt. Kürzlich hatte ich an vier aufeinander folgenden Tagen im TAGEBUCH etwas übersehen, hackte vor Ärger über mich selbst mit einem virtuellen Henkerbeil in die Tischplatte, nur weil ich nicht schon wieder an Lenin denken wollte mit seiner ewigen Ausrede. Trost kommt mit schöner Regelmäßigkeit, doch lieber würde ich auf ihn verzichten. Einmal, das war neu, datierte ich einen Text vor und war höchst erstaunt, dass er einfach nicht erscheinen wollte, als er hätte erscheinen sollen. Ich schaute nach und sah, dass sich ins Erscheinungsjahr eine zusätzliche Ziffer geschlichen hatte, mithin die Jahreszahl fünfstellig geraten war. Das hätte ein fröhliches Warten ergeben bis nach dem übernächsten Klimawandel. Die Wiederveröffentlichung eines TAGEBUCH-Eintrags vom Februar vorigen Jahres fiel niemandem auf und mir erst auf Umwegen. Nicht auszumalen, wenn mir wie einem Kollegen gleich eine ganze Buchdatei verschwinden würde. Schöner kann man das Scheitern eines Projektes kaum verschleiern als mit dieser herrlichen Ausrede.


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