Fünf Stunden Konzentrationslager
Da ist ein beschrankter Parkplatz, welcher die ersten vier Stunden kostenlos benutzt werden darf. Vier Stunden ist viel. Ein Mann mit freiem Oberkörper, putinartig, steht an seinem Rand auf einem Hügel in gleichmäßiger Bräune und sieht sehr zufrieden mit sich aus. Nach ihm könnte ein Heldendenkmal modelliert werden, freilich nur eines der weniger angenehmen Sorte. Helden passen hier nicht. Man sieht auf eine Mauer und auf Türme. Mit Stacheldraht. Burgartig, festungsartig der Anblick. Was mag das früher gewesen sein? Es war nichts, es ist eigens zu dem Zweck erbaut worden, dem wirtschaftlichen Unternehmungsgeist der SS im gerade ans Reich angeschlossenen Österreich eine billige Ausbeutungsstätte zu schaffen. Hier war ein Steinbruch, der Wiener Ring bezog in seiner Bauzeit Granit von da. Der Führer, der vor der Geschichte verkündet hatte, seine Heimat in die Ostmark verwandelt zu haben, wollte aus Linz etwas wie das Germania des deutschen Südens machen. Das schuf Granitbedarf. Und die Todesstiege. Und die Fallschirmspringerwand.
Im Besucherzentrum kann man sich einen Audio-Guide ausleihen. Das ist die beste Erfindung, die sich denken lässt. Nichts fürchterlicher, als durcheinander brüllende Fremdenführer, möglichst noch in unterschiedlichen Sprachen. Man kann Nummern drücken, Hintergrundinformationen sind oft eigens anzuwählen, die man sich auch verkneifen kann. Ich mag Hintergrundinformationen. In Mauthausen kommt man nicht um sie herum. Das Prospekt kündigt 75 Minuten an, es ist die reine Laufzeit des Bandes. 26 Hörstationen verteilen sich über das Lagergelände. Mauthausen hat gegenüber Weimar das Pech, bis heute fast ausschließlich mit dem Lager assoziiert zu werden, Buchenwald hieß eben nicht Weimar. Noch heute, hören wir später bei unserer Gastgeberin Anita Peterseil, die in Reiferdorf ein freundliches Haus führt, noch heute haben Mauthausener Probleme mit der Auskunft, woher sie stammen. Sie sagen: aus der Nähe von Linz. Auch Tourismusprospekte verdrängen das Lager zwar nicht, halten die Hinweise aber knapp. Mauthausen ist sehenswert.
Was aber die Präsentation der KZ-Gedenkstätte betrifft, erst im Mai ist eine neue Dauerausstellung im ehemaligen Krankenbau der Öffentlichkeit übergeben worden: sie ist musterhaft. Sie klammert nichts aus, weder im Hörangebot noch in den Ausstellungsräumen. Auch das Foto des toten Lagerkommandanten Franz Ziereis ist zu sehen, nackt in den Todesdraht gehängt von Häftlingen nach der Befreiung. Ein Film zeigt die Verkündung von Todesurteilen in einem ersten Mauthausenprozess, es waren ziemlich viele Todesurteile. Auf anderen Fotos erkennt man erhängte Häftlinge, die ihrer Qual selbst ein Ende bereiteten. Häftlinge im 380-Volt-Draht. Sie starben nicht gleich, manchmal brauchten sie 24 Stunden dazu und waren dann verkohlt. Deren Selbstmord war fingiert, keine Todesart, die man wählt. Jeder Wachmann, der einen Häftling auf der Flucht erschoss, hatte, man glaubt es kaum, eine Untersuchung in Wien zu erwarten, belangt wurde niemals auch nur ein einziger von ihnen.
Mauthausen war das erste KZ, in dem ein Häftlingsbordell eingerichtet wurde, die Frauen kamen aus Ravensbrück. Die Baracke, in der sich das Bordell logierte, steht noch, sie steht gleich links, wenn man das wuchtige Tor passiert hat. Darin befand sich schon vorher die Lagerschreibstube und die Kantine, die im Lagerplan in Anführungszeichen genannt wird, denn es war natürlich nur ein schlechtes Zerrbild einer echten Kantine. Gleich rechts liegt die Wäschereibaracke, deren Keller man begehen kann. Dahinter die Außenmauer, Klagemauer genannt, mit vielen Gedenktafeln für einzelne Personen oder Häftlingsgruppen. Man kann an dieser Mauer entlang gehen, wenn man der Reihenfolge der Hörstationen nicht folgen möchte. Das aber ist besser, weil es immer auch allgemeinere Informationen gibt. Von Gruppenhierarchien im Lager. Nie vorher hörte ich, wie es zuging, wenn einer ein Paket von Verwandten bekam. Denn das ging.
Nein, Solidarität wurde wohl selbst unter den Politischen nicht mit den allergrößten Buchstaben geschrieben. Immerhin haben die um 1943 versucht, verstärkt in Funktionshäftlingspositionen zu gelangen. Die waren fast die einzigen, die im Krankenbau auch Behandlung erhielten. Eine andere Vergünstigung hieß, peinlich genug, Bordell. In den Stuben hatten sich die Häftlinge barfuß zu bewegen, die Baracke folgte den penibel festgelegten Abmaßen von 52 mal 8 Metern. In der Häftlingshierarchie standen Juden und russische Kriegsgefangene ganz unten, was bis auf die Schlafregeln durchschlug. Die Nationalitäten waren sortiert, die Zuordnung zu ihnen bisweilen eher fragwürdig. Tod durch Arbeit war Haupttodesart, der Steinbruch, heute fast idyllisch begrünt, selbst die Todesstiege ist zu einer gleichmäßigen Treppe geworden, war Ort unvollstellbarer Quälereien, unfassbarer Willkür, war das Außen von Ausweglosigkeit. Immerhin gab es einmal einen Massenausbruch, an den sich die berüchtigte „Mühlviertler Hasenjagd“ anschloss.
Im Gelände der SS-Verwaltungsbaracken findet sich der Denkmalpark. An exponiertem Platz direkt über dem Abgrund des Steinbruchs steht das von der Deutschen Demokratischen Republik 1966 installierte Memorial. Es sitzt eine Frauenfigur da, vor Brechts „Deutschland, bleiche Mutter...“. Stacheldraht in XXL-Format neben der Mauer mit der Schrift. Ein Memorial der Bundesrepublik Deutschland habe ich nicht gesehen. Man gestattete offenbar in Sachen Antifaschismus doch der Diktatur hinterm eisernen Vorhang einen sehr speziellen Alleinvertretungsanspruch. Bulgarien fällt unangenehm auf mit dem einzigen Denkmal, das eingezäunt ist und am Gitter die Hinweise führt: Privatgelände! Und: Betreten verboten! Auch so lässt sich Isolation verführen. Ungarische Jugendliche singen im Schatten ein traurig klingendes Lied. Es sind viele Osteuropäer unterwegs im Lagergelände, Familien mit Kindern. Auch die Krematorien in Mauthausen stammen von Topf & Söhne Erfurt, ein Schriftstück ist ausgestellt noch vom Februar 1945.
Das neue Museum im Krankenrevier wiederholt dem, der die Audio-Führung annahm, vieles. Es bleibt genug darüber hinaus. Im Keller ein Namenbuch mit 2000 Seiten Stärke, 81.000 Tote sind plastisch gemacht mit ihren erhaltenen Namen. Die eigentlichen Todesstätten vermitteln nur Vorstellungen, sind rekonstruiert. Mehr Anregung braucht keine Phantasie, die Details, die etwa das im Elsass gelegene Natzweiler-Struthof vermittelt, gehen dagegen an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus. Man mag einwenden, dass es auch bei den Opfern keine Grenzen des Erträglichen gab. Dennoch habe ich in Natzweiler blödes Lachen von jungen Leuten gehört, in Mauthausen nicht. Von da gingen eine Zeit Transporte nach Schloss Hartheim. Zwischen Gusen und Mauthausen verkehrte auch ein Gaswagen. Es hilft nicht zu sagen: das alles kennen wir. Denn nichts wird besser dadurch. Brecht wusste, was er schrieb vom besudelten unter den Völkern. Und Mauthausen macht klar, dass jede Beschränkung auf das so genannte Altreich dabei fehlgeht.
Die vier Stunden freie Parkzeit an der Gedenkstätte sind längst um, da fordert immer noch die neue Ausstellung Aufmerksamkeit. Die Audiogeräte sind sicherheitshalber rechtzeitig zurückzubringen, das Betonbecken links vor dem Zugang zum Garagenhof hat keine Nummer auf dem Lageplan und folglich auch keine Erklärung dazu. Das war der Swimmingpool der SS, verriet die junge Frau an der Rezeption im Besucherzentrum, offiziell geführt als Feuerlöschteich. In Bergen-Belsen ist so einer völlig zugewachsen und selbst anhand der alten Fotos kaum noch zu identifizieren. Ist es Zufall, dass dort, wo das „Sanitätslager“ außer- und unterhalb der Hauptmauern lag, mitten auf dem gepflegten Rasen eine riesige Trauerweide steht als lebendes Monument in gebührlichem Abstand zu all den Monumenten sonst? Deren Beton und Plastiken fast unvermeidlich zum Zuviel an Pathos neigen, gemildert durch die nahezu allgegenwärtigen kleinen Steine jüdischer Gedenkart.
Nach reichlich fünf Stunden Konzentrationslager fallen zwei Euro Parkgebühr an. Es bleibt Verblüffung über Besucher, die jetzt erst kommen. Ein vertrauter Name im Totenregister weckt Recherchebedarf. Gut, das unser Zimmer schon beziehbar war, als wir ankamen am späten Vormittag. Nun ist die schwanzlose Katze nicht mehr zu sehen, eine andere, zutraulichere, lässt sich den Hals kraulen, ehe sie zu ihren Katzen-Crackern weiter zieht. Die anderen Gäste sind Nutzer des Donauradweges. Von Passau nach Wien rollen sie, eine Gymnasiallehrerin aus Tübingen darunter, die noch nie von Ilmenau gehört hatte. Wir tauschten kleine Meinungen aus über Verhältnisse von Einwohnerzahlen und Studentenzahlen. Nach dem Frühstück beschließt Reiferdorf 11, uns eine Abschiedsszene der besonderen Art zu präsentieren. Unter unserem Fenster erscheint auf der Wiese vor einem Maisfeld ein prachtvoller Fasanenhahn, wenig später sind genau sechs deutlich weniger prachtvolle Hennen in seiner Nähe. Gegenüber der A 1 Tankstelle 627 wirbt ein Großplakat für ein dreitägiges Zigeunerfest. Ob dies wohl bei uns so heißen dürfte?