Dies Belgien

Die Situation hat sich eingeprägt. Ein Mädchen, rotblond, aufgeregt und doch selbstsicher, tritt auf uns zu, als wir eben in Zandvoort die leichte Steigung zur Promenade gehen wollen. Sie sieht uns offenbar an, woher wir kommen. Oder sie hat uns reden gehört. Sie fragt uns, ob wir schon einmal in unserem Leben in Belgien gewesen seien, auf deutsch. Wir waren nicht in Belgien. Ob wir uns vorstellen könnten, einmal nach Belgien zu fahren. Wir konnten es uns vorstellen. Aber wir wussten nichts zu sagen über das Land.

Das Mädchen lächelte milde. Die meisten, sagte sie, fahren nur durch oder fliegen darüber hinweg. Und sie bedankte sich bei uns, obwohl wir gar nichts getan hatten, das eines Dankes wert gewesen wäre. Auf der Promenade ereilte uns wie immer das Gefühl, dass doch auch einmal Flut sein dürfte, wenn wir das Meer sehen, aber es war nie Flut. Oder erst viel später, an einem Januartag, da wir eine Familie bis zu den Hüften im Wasser sahen, die es nicht mehr geschafft hatte, den plötzlich kommenden Fluten zu entrinnen, die gar nicht so plötzlich kamen. Uns grauste bei der Vorstellung, wie man wohl so durchweicht bei Minusgraden im Auto sitzt, denn das Auto stand nicht weit vom höchsten Punkt, den die Wasser gerade noch berührten. Und die Familie setzte sich patschnass hinein.

Und Belgien? Zwei Jahre dauerte es noch, bis wir zusammen das erste Mal dort waren. Brüssel erprobte ich zuvor allein. Und sieben mal noch fuhr ich in immer dasselbe Hotel, von Nordafrikanern geführt, die es normal fanden, von morgens bis abends sehr ernste, sehr klassische europäische Musik zu spielen im Foyer, an der Bar und im Speisesaal. Die immer ernste Gesichter machten und mir immer ein anderes Zimmer zuwiesen. Ich habe in acht verschiedenen Zimmern dieses Hotels gewohnt, mal nach der eine Seite, mal zum Parkplatz, mal auch nach vorn auf die Chaussee du Mons. Ich bin zu nächtlicher Stunde vom Grand Place und seiner Umgebung zu Fuß zurückgekehrt, Biere im Magen, von denen das dünnste hierzulande als schwerer Doppelbock gelten würde. Und fürchtete mich nie.

Ach, diese belgischen Biere. Vielleicht gibt es gar nicht so viele nichtbelgische Menschen, die schon so viele verschiedene belgische Biere kosteten wie ich, es mögen jetzt schon gegen 600 zusammen gekommen sein. Und es macht mir größtes Vergnügen, genau dies Belgiern zu verraten, wenn sie mich beobachten beim Studium der Etiketten in ihren Spezialgeschäften. Sie werden freundlich, sie entdecken ihre Fremdsprachenkenntnisse, sie zeigen mir ihre Raritäten. Und sie amüsieren sich, wenn ich von den Lambics erzähle, die mir aus den Flaschen schossen, nachdem ich die Korken mühsam entfernt hatte.

Irgendwo in Westvlaanderen traf ich einen Mann mit einem Fahrrad auf drei verschiedenen Soldatenfriedhöfen. Er stellte sein Rad immer an die Mauer neben dem Eingang, er schaute aus der Entfernung, wie ich die Kamera in Position brachte und dann sprach er mich an. Ich konnte keine überzeugenden Gründe vorbringen, warum ich gebannt bin von diesen Kreuzen, warum es mich starr macht, wenn ich aus Geburts- und Todesdatum ersehe, wer noch nicht 18 war, als er fiel, wen es an seinem Geburtstag traf oder wen genau zu Heiligabend. Ach, diese belgischen Friedhöfe. Ieper, die Grabensysteme, die sie Dodengang nennen, die es fühlbar machen. Die Fotos, die die überfluteten Ebenen zeigen. Die Briten haben ihre Friedhöfe nie so groß gemacht wie die Deutschen. Die nur vier ganz große pflegen, eines mit dem Mahnmal von Käthe Kollwitz. Der Name des Sohnes Peter ist poliert auf dem flachen Stein mit den zehn Namen. Der Mann mit dem Fahrrad hat mir erklärt, dass da, wo er wohnt, im Umkreis von nur 25 Kilometern 20 britische Soldatenfriedhöfe liegen. Meist sind sie von Feldern umgeben, man muss laufen bis zu ihnen. Einmal sah man die Spuren der Überschwemmung noch im Januar, die es gegeben hatte fast wie damals, als Überschwemmung eine Strategie war.

Ich kann heute in Brüssel deutschen Busfahrern den Weg weisen und kenne die Burgen in der Wallonie. Ich habe den Ijzertoren gesehen, alle 22 Etagen von oben nach unten. Und immer, wenn wir den Ring um Brüssel passiert haben, wenn Blankenberge näher kommt, oder Oostduinkerke, wenn wir den Abzweig nach Brugge passieren oder durch Malmedy kommen, denke ich an dieses Mädchen in Zandvoort. Bis heute weiß ich nicht, ob es eine Holländerin war oder eine junge Dame aus dem belgischen Vlaanderen. Ich würde ihr gern erzählen, dass ich nun auch den einzigen Getränkemarkt in Benelux besucht habe, den man in Holland betritt und in Belgien verlässt. Oder umgekehrt natürlich. Vielleicht aber war das auch nur die clevere Werbung dafür.


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