Goethe: Faust I, Nationaltheater Weimar
Beginnen wir, ausnahmsweise, mit Reaktionen. Neben mir saß einer, der sagte zum Schluss: „Endlich mal wieder vernünftige Schauspieler!“ Vor mir gingen zwei, weiblich, im kleinen Schwarzen heimwärts, sich gestenreich darüber austauschend, was im „richtigen Faust“ alles steht. Der neben mir rief „Bravo!“, als dem ersten Einzel-Buh vom Rang die kleine Buh-Parade folgte, die den neuen Intendanten Hasko Weber und sein Team begrüßte, als sie sich verneigen kamen. Mit ellenlanger Pause dauerte alles keine drei Stunden, hinreichend viel Premierenprominenz machte hinreichend wichtige Gesichter. Fast auf den Tag 65 Jahre vor dieser Premiere, am fünften September 1948, resümierte Herbert Ihering in seinen Bemerkungen zum damaligen Weimarer „Faust“: „Man versteht von allen Plätzen jedes leise Wort.“ Und meinte die Akustik. Heute ließe sich sagen: Es war ein Erlebnis, die Darsteller zu hören, weil und wie sie den Text sprachen. Denn Hasko Weber ließ Goethes Text seine Rechte, nur ganz selten unterlag er dem fünfzig Jahre alten Zeitgeist, welcher Bildungsgut-Panik vor den „Stellen“ hat und es einfach nicht fertig bringt, sie geradeaus zu nehmen. Immerhin entfaltete er genau dann besonders lustige Einfälle, wobei der stets erfolgreiche Scheindialog mit der Souffleuse inzwischen auch schon einen leichten Damenbart hat.
Es ist Goethe selbst, der uns zwingt, die Ausgangslage seines Titelhelden fraglos hinzunehmen. Wir lernen ihn in letaler Krise kennen. Was zu ihr führte, wie er in sie geriet, liegt außerhalb höchstdero Augenmerks. Die neue Weimarer Inszenierung arbeitet mit einem fließenden Übergang in die Exposition des „Habe nun, ach“. Eben noch spricht Lutz Salzmann Text aus dem Prolog im Himmel, fragt Sebastian Kowski, ob er den Faust kenne, den der natürlich, wieso eigentlich, kennt. Und zwar überraschend genau. Und schon liegt der scheinbare HERR schnarchend am Boden, hustet, greift nach einer Pillendose, röchelt. Die Engel sind gestrichen, Mephistopheles darf auch nicht sagen: „Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern.“ Er steht im Hintergrund der kahlen Bühne (Oliver Helf), während der offenbar tablettenabhängige Mann am Boden sein Eingangslamento noch liegend startet.
Lutz Salzmann ist Faust. Als er anfängt, mühsam seinen Monolog zu sprechen, hat das Publikum bereits eine Tonlagenvorgabe hinter sich. Hasko Weber lässt das Vorspiel zu einem wilden Slapstick explodieren, vergaß auch nicht, das seit dem deutschen Verbot des Rauchens in öffentlichen Räumen obligate Demonstrativ-Rauchen auf der Bühne zu zelebrieren, Elke Wieditz übernahm diesen Part mit dem Qualm. Neben ihr agierten Birgit Unterweger als lustige Person und Kunoslav Šebrek als Dichter. Und im Handumdrehen verwandelte sich die Szene in eine verrückte Schiller-Parodie, Unterweger wälzte sich als vergiftete Luise am Boden, dass es ein Hauptspaß war. Das kann ja heiter werden, mag der eine oder andere Besucher mit Blick auf den Untertitel des Abends „Der Tragödie erster Teil“ da bereits gedacht haben. Tragisch ist da über weite Strecken nichts. Freilich auch bei Goethe nicht. Das soll nie vergessen werden.
Es wurde heiter. Noch ein bisschen künstlich, als der im Robert-Walser-Herisau geborene Kunoslav Šebrek den mit amerikanischem Akzent redenden Famulus Wagner gab, voll brüllender Herrlichkeit, als Sebastian Kowski mit Pelz, Pappkarton, Sessel und Arzttasche anrückte, den mephistophelischen Teil des Paktes zu besiegeln. Wie er da mit weißem Hut, die fette Zigarre paffend, im Sessel lümmelt, wie er da das schon verführte Publikum mit seinen rosa Stiefeln aus dem Karton, die er gegen seine knallbunten Turnschuhe austauscht, weiter heiß macht, um schließlich das Blut, den besonderen Saft, fast bis zum Bühnenhimmel spritzen zu lassen, das ist nant, also: fulmi-nant, womit mir der Einbau dieses Haupt- und Staatswortes neuer deutscher Kritik halbwegs listig gelungen ist. Wie will da das Strebziel Fausts zu dem, was die Welt im Innersten zusammen hält, noch im Auge bleiben? Nachdem der verkannte Mephistopheles auch noch den übereifrigen Schüler (Fridolin Sandmeyer) abgefertigt hat, dass es eine Zweitlust war (oder schon Drittlust??).
Den Irrwitz des Vorspiels auf dem Theater nimmt Auerbachs Keller auf und steigert ihn so, dass man die bühnentechnische Realisierung des Tischkanten-Wunders fast gar nicht vermisst. Faust und Mephistopheles mit überdimensionalen Sombreros auf dem Kopfe (Kostüme Syzzy Syzzler), das vergisst sich so schnell nicht, die drei irren Studiosi natürlich auch nicht. Man sollte aus therapeutischen Gründen vergleichsweise eine Abhandlung wie die von Manfred Nössig über den 1970er „Faust“ in Halle lesen, die auch den Weimarer „Faust“ von 1966 mit Wolfgang Dehler in der Titelrolle einbezieht, an den sich wohl auch die graubärtigsten Premierengäste Hasko Webers kaum noch erinnern können. Da war „Auerbachs Keller“ weithin Kritik am Bildungswesen des Klassenstaates. Und zwischen Faust und Wagner ging es um die wissenschaftlich-technische Revolution unter den Vorzeichen der drohenden sozialistischen Menschengemeinschaft. Von dieser hohen Warte mag der Ulk mit bekippten Hosen heute arg harmlos wirken.
Doch besser so als ein Fleischwolf-Faust, der ja immer auch denkbar bleibt, nicht umsonst lachte das Premierenpublikum kennerisch, als es hieß: „Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen // Probiert ein jeder, was er mag.“ Mit der Deutschheit des „Faust“ lässt sich bekanntlich kaum noch erfolgreich Handel treiben, man möchte eher, wenn schon überhaupt, vor Augen geführt bekommen, wie verblüffend die Reaktion des Soldatenbruders Valentin, des kerndeutschen Gretchenbruders, doch den vermeintlich rein türkischen Ehrenmord-Mentalitäten der Jetztzeit vorausgreift. Hasko Weber war das wohl bewusst, wenngleich er es nicht auf dem Silbertablett servierte. Man durfte es sich in Kenntnis des Textes zwanglos hinzudenken. Überhaupt bleibt ja, das sei mit Trommeln und Pfeifen betont, dieser „Faust“ nicht nur mit der Tragödie zweitem Teil immer und vielleicht sogar vor allem, auch ein Lesedrama. Der Leser entgeht fast automatisch jener Gefahr, die der hier letztmals zitierte Herbert Ihering darin sah, dass Provinzbühnen fast zwangsläufig auf Gretchen fokussieren. Ihering sah den Ausweg 1948 darin, den ersten Teil schon mit Blick auf den zweiten zu inszenieren, was Hasko Weber ziemlich wahrscheinlich auch getan hat.
Das Gretchen darf als einziges ein Kostüm tragen, wie es wohl auch von Zuschauern vor 200 Jahren schon als passend empfunden worden wäre. Das hat, bin ich sicher, vollen Sinn, denn dieses Gretchen ist, aufs Ganze geschaut, die traditionellste Figur des Spieles und Weimar hat in seinem neuen Ensemble ein Gretchen mit der 1990 (!!!) erst geborenen Nora Quest, bei dem man nicht erst lange von den schönsten Hoffnungen faseln muss, zu der es berechtigt. Sie war stark, diese Nora Quest ("Ach neige, Du Schmerzensreiche" mit vergeblichen Abtreibungssprüngen vom Stuhl!), mir wollen auf Anhieb Namen des nicht mehr vorhandenen Ensembles zu Weimar einfallen, die damit verglichen, pure Alptäume waren. Und dass Birgit Unterweger schon mal hier war und jetzt wieder da ist, das ist ebenfalls schon jetzt mit 48-Punkt-Schrift anzumerken, ein Haus braucht auch, was man etwas einfallsarm Erzkomödiantin nennen mag. Die Sparidee Webers, acht Darsteller mit sämtlichen nicht gestrichenen Rollen zu betrauen, bringt Futter für Spieltypen. Lust auf mehr, ein Fazit dieses sechsten September, ist mehr als geweckt.
Auch Weimar 2013 schafft es nicht, dem Mephistopheles die Show zu stehlen. Sebastian Kowski verkneift sich das allzu nahe liegende Diabolische, er gibt dem Witz seines bewundernswert sauber und gut gesprochenen Textes Hör- und damit Wirkraum, sein Zusammen- und Widerspiel mit dem neuen Weimarer Faust Lutz Salzmanns lässt kaum Wünsche offen, gerade weil es nicht mit endgültiger Deutungsmacht in Pseudo-Zeitlupe die kahle Bühne füllt. Hinzu kommen Elke Wieditz (Theaterdirektor, Hexe und andere) und Roswitha Marks (Abonnentin, Hexe, Lieschen und andere), fast die einzigen „von früher“ im neuen Ensemble, die lange Erfahrung und viel Professionalität mitbringen, wenngleich Elke Wieditz bisweilen ein wenig schmallippig wirkte. Die Abonnentin ist eine Erfindung Webers, ihren Text hat der Theaterdirektor als eine Art Organspende großzügig zur Verfügung gestellt.
Bleibt noch einmal Lutz Salzmann, dem die einzige Kurzzeit-Nacktrolle des Abends zufiel und der auch einmal auf die Bühne pinkeln musste. Er verzichtete auf leise Töne. Den Übermenschen-Anspruch des Eingangs - „Bin ich Gott?“ steht auf der ersten Innenseite des Programmheftes natürlich keineswegs zufällig – den kann er wohl nicht wirklich ernst nehmen und spielt ihn mit einer ständig zum Sarkasmus trudelnden Selbstironie. Auch zwischendurch, wenn er menschlicher werden darf, ist er mir immer eine Spur zu laut. Wenngleich keineswegs auch nur in der Nähe jener Brüll-Penetranz, die man auch in Weimar nicht ehrenrührig fand bis unlängst. Nein, dieser Faust ist schon eine Figur, die passt. Blieben schlussendlich noch die Videoeinspiele zu den Szenen, die sich offenbar kein Regisseur mehr zutrauen möchte, vor allem zur Walpurgisnacht, aber auch vorher, verantwortlich Bahadir Hamdemir. Warum soll dem Deutschen Nationaltheater Weimar nicht recht sein, was allen Biennalen zu Venedig und andernorts seit langem billig ist?