Lessing: Minna von Barnhelm, Hans-Otto-Theater Potsdam

In seinen „Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele“ hielt Lessing fest: „Das Genie will mehr thun als seine Vorgänger; der Affe des Genies nur etwas anders.“ Auf welch wundersam-einfache Weise hat Regisseurin Isabel Osthues, wohnhaft in Hamburg, inszenierend unter anderem regelmäßig in Potsdam, den Affen der Genies gezeigt, wie lebendig, wie quick-, ja quietschlebendig diese vermeintliche Lessing-Kamelle allein aus sich heraus ist, wenn man sie aus sich heraus sein lässt. Osthues vertraute auf fast schon fundamentalistische Weise dem Text, sie vertraute ihren Spielerinnen und Spielern und am Ende hätten die leider zu wenigen Zuschauer dieser Aufführung je sechs bis zwölf Hände haben müssen, um angemessenen Applaus artikulieren zu können. Doch auch ein dünnes Bravo ist ein Bravo, auch ein Beifallstrampeln, das nicht die Theater-Fundamente erschüttert, bleibt ein Beifallstrampeln.

Man sieht ein Bühnenbild (Jeremias Böttcher), das wohl nicht ohne Absicht an eine Puppenstube erinnert, man darf die zeitliche Überlappung von Rokoko und Klassizismus hinzudenken, in der Lessing siedelt als Aufklärer und exemplifizierender Theatertheoretiker. Die Stuben sind in Pastellfarben gehalten, es gibt eine Treppe, die dem universalisierten Reitknecht Just (Michael Schrodt) wie eine Klammer zu Anfang und Ende der drei Stunden (inklusive Pause) als Rutschfläche dient. Nur wenige Requisiten kommen hinzu, vor allem die Reiseutensilien des Fräuleins Minna von Barnhelm (Franziska Melzer) und ihres Freundin-Mädchens Franziska (Elzemarieke de Vos). Es gibt richtige Kostüme (Mascha Schubert), die den Figuren Kolorit geben (auch in ihrer Farbigkeit), ohne etwa Rokoko-Kleiderstil nachzuahmen.

In „Die Welt am Montag“ vom 18. Januar 1904 las der Theatergänger dies: „Diese Vorstellung ist der Triumph einer Regie, die sich mit eindringendem Verständnis und liebevoller Empfänglichkeit für den Geist der Dichtung anspruchslos in ihren Dienst gestellt und mit suggestiver Kraft von den Schauspielern auch die widerstrebenden und unbedeutenden in ihren Dienst gezwungen hat.“ Das schrieb Siegfried Jacobsohn und meinte die „Minna“-Inszenierung von Max Reinhardt, der selbst den Just gab und dafür mitten in allem Lob für seine Regie von allen Kritikern Schelte bezog. Ich möchte mich aus dem Fenster lehnen und behaupten, diese Formulierung ist ebenso auf Isabel Osthues anzuwenden und meine, es muss keine Schande sein, wenigstens auf diese Weise mit dem großen Reinhardt verglichen zu werden. Auch wenn sie selbst nicht auf der Bühne agierte, auch wenn von widerstrebenden und unbedeutenden Schauspielern sich niemand auffällig machte.

Natürlich darf man (wie wohl fast immer bei dieser Figur, das liegt bei Lessing) fragen, ob man diesem Major von Tellheim in seiner ganzen vergnatzten Begriffsstutzigkeit, in seiner gehemmten wie auch enthemmten Männlichkeit (enthemmt in der naiven Annahme des puren Rollenklischees Mann-Versorger) nicht mehr und anderes Leben auf der Bühne hätte einhauchen können. Wolfgang Vogler entschied sich fast stereotyp für eine Standbein/Spielbein- Haltung, die ungefähr dem entspricht, was in der militärischen Antreteordnung dem natürlich dennoch vollkommen unlockeren und immer noch gezwungenen „Rührt Euch!“-Befehl entspräche. Das ist gar nicht so passfremd entworfen. Viel mehr ist der Rolle, ohne sie zu verlassen, wohl wahrlich nicht zu entlocken. Keinem Geringeren als dem nachmalig hochberühmten Eduard von Winterstein als Tellheim sagte Jacobsohn in seiner unnachahmlichen Art nach: „Sein Regisseur hat es wenigstens fertig gebracht,  daß er nicht stört.“ Dazu hatte Isabel Osthues bei Wolfgang Vogler keine Verlassung.

Minna aber, deren Name den Titel liefert, ist ohne jede Zutat faszinierend modern. Ihr von Lessing mitgegebenes Päckchen heißt Stimmigkeit. Denn es fiele heute noch immer schwer, sich ein keine  21 Jahre altes Mädchen, gedoppelt durch ihre altersgleiche Kammerjungfer/Freundin, mit dieser Erfahrungssattheit, dieser Formulierschärfe, dieser Schlagfertigkeit, Souveränität und zugleich eben mädchenhaften Grilligkeit zu denken. Aber 1763, in dem Jahr, in dem sich die Handlung des Lustspiels begibt? Im Altbundesgebiet durften Frauen kein eigenes Konto eröffnen noch zweihundert Jahre nach Lessing, der also offenbar geradezu überkühn vorausgriff mit der Erfindung seiner sächsischen Heldin aus Thüringen. Franziska Melzer war diese Minna mit Haut und Haar, sie konnte hüpfen wie ein Backfischlein, kokettieren wie eine erprobte Salondame, voller Humor, voll selbstverständlicher Gestik und, das machte fast am meisten Spaß, in perfektem Zusammenspiel mit der Franziska von Elzemarieke de Vos. Der blieb der größere Teil an Situationskomik, die durfte sich slapsticknah austoben und riss dennoch das Spiel nicht an sich, was ihm Unwucht gegeben hätte. Theatervergnügen pur, ein Lustspiel darf durchaus auch auf die Art lustig sein.

Die traditionell dankbaren Männer-Rollen im Stück sind die des Dieners Just, des Wirtes und des französischen Offiziers Riccaut. Den Wirt gab Peter Pagel, der später auch noch kurz als Oheim von Bruchsall das Happy End pathetisierte und damit ironisierte. Den Diener und den Riccaut spielte Michael Schrodt. Zwei Darsteller, vier Rollen, die Lösung funktionierte, hinzu gesellte sich Florian Schmidtke als gewesener Wachtmeister Paul Werner. Die Riccaut-Rolle ist wohltuend zusammen gestrichen, sie hat als Lesetext die unabweisliche Tendenz zur Nervigkeit. Wie Schrodt aber von oben aus dem Zuschauerraum sich auf die grauen Haare eines Herrn in Reihe 5 stützend zur Bühne  vorarbeitete, das löste auf und unterhielt bestens. Es ergänzte als Surplus den starken Just-Part, den Schrodt davor und danach lieferte. Ganz diese Qualität erreichte Peter Pagel nicht im Spiel, wohl aber in der Art, wie er seinen Text für sich sprechen ließ. Und als er dreist durch das mal schief, mal gerade hängende Bildnis Friedrichs des Großen ins Zimmer lauschte, da hatte er seine Lacher wie nur irgendein Purzelbaumschläger.

Florian Schmidtke bewies Stegreiffähigkeiten, als er das von Tellheim verschmähte Geld in den Orchestergraben und zum Publikum warf: „Hier ist ja niemand!“ Leider, in den ersten Reihen herrschte in der Tat gähnende Leere, das dankbare Publikum besiedelte die Reihen von 6 aufwärts. Und dieser brave Wachtmeister Werner wusste sich in Szene zu setzen, immer mal wieder eine kleine, feine Geste, immer mal wieder ein Wechsel in Tempo und Lautstärke und, wie bei allen anderen Mitwirkenden auch: der Text saß nicht nur einfach, er durfte wirken. Dem kommt sicher entgegen, das Lessing nicht solch ein Dauerfeuer an geflügelten Worten in sein Lustspiel vom Ende des siebenjährigen Krieges verwoben hat, dass es wie bei Schiller und Goethe fast durchgängig die Regisseure zu Meidbewegungen zwingt. Isabel Osthues, es sei wiederholt, vertraute dem Text und der bedankte sich höflich für das ihm erwiesene Vertrauen. So wünscht man sich diese Klassiker öfter auf einer deutschen Bühne. Was nach dem Reinhardt von 1904 auch schon Jacobsohn hoffte. Geholfen hat es dennoch nur mäßig bis mittelmäßig.

Muss man der Episoden-Rolle der Witwe Marloff nachtrauern? Nein. Die Brief-Lösung überzeugt. Muss man die Spielchen mit dem vertauschten Ring zu nahe liegend finden? Nein, das war gerade in ihrer Einfachheit eine schöne Idee. Der im Auftrag der örtlichen Polizei seine Logiergäste aushorchende Wirt war fast ein Hausvertrauensmann aus DDR-Zeiten, die friderizianische Neugier nach Geheimnissen überrascht in Potsdam nur junge Leute und Altbundesbürger. Die kleinen Zusätze (Kürbis-Zeit, Franziskas Ruf „Nicht sticken!“) fügen sich ein und befeuern das Vergnügen. Die Idee mit dem „Neustart“ nach der fixen Erstszene zwischen Franziska und Paul Werner, die buchstäblich ineinander springen, ist einer von vielen kleinen Höhepunkten. Wie auch die beiden also überaus sparsamen Sächsel-Einlagen (Dain Dällhaim). Am Ende rutscht, er hat dem König auf dem Bild die Zunge rausgestreckt, Just-Schrodt zum zweiten Male die Treppe herab. Da hat der Wachtmeister seine Wachtmeisterin Franziska schon gekriegt.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround