Mrozek: Tango, Theater Rudolstadt
Warum heißt das Stück eigentlich „Tango“? Jene Premieren-Besucher, die den Mrozek-Text bei der Hand haben, können die Probe aufs Exempel machen: Nur eine einzige Stelle hat sich der Autor gegönnt für einen Fingerzeig und die war in Rudolstadt gestrichen. Oder sollte ich sie überhört haben? Gesprochen wird sie bei Mrozek von Vater Stomil, den Christian Klischat zu spielen hat mit offenem Hosenstall. Inmitten einer längeren Tirade, von denen das Stück wimmelt. „Kannst du dir vorstellen, welch ein Mut dazu gehörte, Tango zu tanzen?“ fragt Stomil seinen Sohn Artur, dessen Text-Wulst Regisseur Tobias Rott Benjamin Griebel übertragen hat. In der Pause hörte ich eine insiderische Dame zu einer anderen offenbar ebenfalls insiderischen Dame sagen: „Den Text hätte ich nicht lernen wollen!“ Griebel lernte ihn, beherrscht ihn, und macht die Crux der Vorlage genau damit überdeutlich. Mrozek hat ein Debattenstück geschrieben für intellektuelle Diskurs-Genießer. In mindestens einer Hinsicht ist „Tango“ eher Lese- als Spielstück.
Ob 1964, als das Stück neu war, jemand die Tango-Frage positiv hätte beantworten können, fragt sich. Das setzt unweigerlich ein wenig Wissen um Tango-Traditionen voraus, die dem frisch aus Polen in die westliche Kulturhemisphäre eintretenden Mrozek sicher prägnant vor Augen standen. Er verließ 1963 sein Land, war in der DDR wohl deshalb lange nicht sonderlich beliebt. Mit Mut aber verbindet heute zweifellos kaum jemand jenen wilden Schwenktanz aus Argentinien und Umgebung. Eher mit dem Fortgeschrittenenkurs der jeweiligen heimischen Tanzschule. Wenn Mrozek in seinem Regietext, der von naturalistischer Ausführlichkeit strotzt, von den Darstellern des Edek und des Eugen verlangt: „Sie tanzen alle Figuren, die der Tango vorschreibt, bis der Vorhang fällt.“, dann tun Joachim Brunner und Johannes Arpe in Rudolstadt genau das nicht. Die vertrackte Symbolkraft des Titels ist auf diese Weise verschenkt. Die weit weniger vertrackte Aussagekraft des Bühnenbildes dagegen nutzt Susanne Füller weidlich und zum Wohl der Inszenierung. Man wagt sich kaum vorzustellen, das Spiel wäre in der üblichen leeren Black Box des Kostenspartheaters abgelaufen.
Tobias Rott, mir in angenehmster Erinnerung mit seiner Fassung von Dario Fo's „Bezahlt wird nicht!“ in Meiningen, die mir nebenher den absoluten „Einschaltquoten“-Hit unter meinen THEATERGÄNGEN eintrug, nur ein anderer Text wurde noch häufiger besucht, will natürlich das Spielstück eher als das Lesestück. Er setzt deshalb, wo immer es sich bietet, auf das Groteske der Spielsituation, auf das Absurde der ausgetauschten Argumente und aufs Tableau gehobenen Haltungen. Heraus kommt (für mich) ein Aha-Erlebnis. Das Stück ist Wellness für den vorwissenden Kopf geworden (oder geblieben), während seine Fähigkeit zu berühren, sich in Luft auflöste, falls sie je vorhanden war. Man müsste über Mrozeks spezielle Einordnung in das einst modische „Theater des Absurden“ reden. Für das Erleben des Theaterabends wäre das vermutlich trotzdem nicht hilfreich. Anne Kies, schlanker als schlank, darf Oma Eugenia sein und allein aus der Altersdifferenz viel Honig saugen. Ihr Spiel hält das Auge fest, während das Ohr traktiert wird.
Als vor mittlerweile auch schon wieder sechs Jahren in Darmstadt der „Tango“ gegeben wurde, stellte Kritikerin Judith von Sternburg erstaunt fest, da werde ja die Grunderfahrung der Kinder der 68er Eltern verhandelt. Das ist für ein Stück, welches im kommenden Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag feiert, mehr als erstaunlich und erklärt zugleich auch eine gewisse Ratlosigkeit der Ostsozialisierten vor ihm. Denn hier hatten wir diese Typen nicht als Massenphänomen bestimmter Mittelschichtkreise. Dieser rasch widerlich gewordene Schwulst von Spontaneität und Freiheit, von sexueller Libertinage, von Kunst als Aktion und Happening konnte „Zonenkinder“ kaum wuschig machen. Bei allem Modeklau des Ostens schaffte doch nicht alles den Sprung über die Mauer mit vergleichbarer Wirkung. Erstaunlich ist das aber vor allem aus dem Grund, weil der 1930 geborene Pole Mrozek, der am 15. August in Nizza starb, ein Phänomen schon formvollendet, sensationell souverän und voll rabenschwarzen Humors auf die Schippe nahm, das es noch gar nicht richtig gab.
Der Medizin-Student Artur nimmt, man muss ihn gar nicht überinterpretieren, die „Wende“ des Neokonservatismus Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vorweg und tunkt sie ebenfalls gleich mit Schwung in den Kakao und das alles eben 1964. Hier liegt die Potenz des frappierenden Bühnenautors, hier die Quelle des Vergnügens für jeden, der sich mit der (westlichen) Ideologiegeschichte jener Jahre befasst hat. Wer aber nicht George Steiners „Der Tod der Tragödie“ kennt, kann mit den Auslassungen des Experimentier-Theoretikers Stomil über Tragödie und Farce sehr viel weniger anfangen, selbst Dürrenmatts Ansichten zur Tragikomödie dürfen als, Verzeihung, intertextuelle Bezugsgröße gesehen werden. Wem im Theater aber hilft das, der sich an Anne Kies, ächzend im zerbrochenen Stuhl hängend, erfreut, der Anna Oussankinas (Ala) baumelnde Hand unterm Matratzenstapel im Auge behält? All die langen, abstrakten Reden, die Student Artur an die Eltern Eleonore (Carola Sigg) und eben Stomil (Christian Klischat) richtet, an Ala auch, die gewinnen weder Fleisch noch Farbe. Und zwar nicht, weil Benjamin Griebel es nicht schafft, sondern weil sie an und für sich ohne Farbe und Fleisch sind.
Der Autor lässt seine Leser und seine Zuschauer im Theater in einem entscheidenden Punkt allein. Er erklärt mit keiner halben Silbe, warum sich die gesamte Familie so tyrannisieren lässt von diesem Hirnakrobaten. Er setzt seinem Onkel einen Vogelbauer auf den Kopf, er zwingt seine eigene Großmutter, sich auf einen Katafalk (im Bühnenhintergrund) zu legen, wo sie sich mit dem Gedanken an die Ewigkeit vertraut machen kann. Alle folgen seinen Anweisungen, auch Edek (Johannes Arpe), obwohl der als einziger Spieler entschlossen ist, das Ende seines Auftritts von Anfang an schon zu spielen. Arpe zeigt immer schon Renitenz und Drohung, er baut sich auf als der, der er zum Schluss ist, wenn er Artur buchstäblich nach einem Handkantenschlag das Genick umgedreht hat. Die ideale Lösung für die Rolle ist das nicht, aber es hat Konsequenz. „Eine Farce kann übrigens auch ganz schön sein.“ sagt Stomil, der nahezu alles, was „Moderne“ heißt in der Kunstausübung, mit seinem Tun und Reden der Lächerlichkeit preisgibt. Und die dümmliche, die saudümmliche Eleonore, das „Groupy“ vor der Erfindung des Groupys, verkörpert die albernste und unausrottbarste Form weiblicher Kunst- und Künstlerverehrung. Auch hier ist Mrozek der Vorgriff in Person gewesen.
Ich erinnere mich der Furore, die die Dokumentation „Obszönität als Gesellschaftskritik“ im Fernseh-Westen machte, obwohl der öffentliche Beischlaf als Kunst bereits in der antiken Lebensphilosophie der Kyniker vorkam und vom alten Hegel mit spürbarer Lust zitiert wurde. Wenn sich Vater Stomil und Mutter Eleonore vor ihrem Sohn darüber streiten, ob sie es während einer Oper in der ersten Reihe oder während einer Vernissage miteinander trieben, dann ist das natürlich sowohl grotesk als auch realistisch. Es gab ja die „Denke“ vom Establishment, zu dem gehört, wer zweimal mit derselben pennt. All diesen Schwachsinn gab es und, wie wir jetzt wissen, mittendrin auch die verharmlosende Förderung der Pädophilie. Mrozek ist, Frau von Sternburg hatte so unendlich recht, vielleicht jetzt moderner, als er je war. Und es sollte einem Angst machen, wenn dieser Artur einen Akt der Gewalt für legitim hält. Und dann seine ganze jämmerliche, weinerliche, lächerliche Kleinstbürgerlichkeit offeriert, als ihm der Alkohol die Zunge löst.
Das Premierenpublikum in Rudolstadt klatschte emsig, auch ein zaghafter Bravo-Ruf war zu hören. Es wird unter den Älteren wohl Diskussionen geben, wie die neue sich von jener alten „Tango“-Inszenierung unterscheidet, die es zu Füßen der Heidecksburg in seligen DDR-Zeiten gab. Regisseur Tobias Rott wird vielleicht die Verantwortlichen der Internet-Seite des Hauses bitten, ihm nicht einen „Menschenfeind“ in Bremerhaven unterzuschieben, der ein „Volksfeind“ war. Vom Reichtum der Vorlage des Jahrhundert-Polen Mrozek ist viel auf der Strecke geblieben und doch fällt es mir schwer, dem Ensemble das einfach anzulasten. Der Satz, bei dem man sich lesend von der Buchseite lösen kann, um ihn abzuschmecken, der wird halt auf der Bühne von seinem Nachfolger schon fast gelöscht. Bleibt immer noch die Oma, die sich zum Sterben hinlegt, was ihr erst geglaubt wird, als sie tatsächlich tot ist.
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