Schiller: Kabale und Liebe; Nationaltheater Weimar

Weimar ist, bezogen auf Schillers „Kabale und Liebe“, eine kammerdienerfreie Zone. Auch die Inszenierung im Großen Haus von 2005, die noch 2009 im zweiten großen Schillerjahr die üblichen Schülerscharen ins Haus lotste, kam bereits ohne Kammerdiener aus. Die Mädchen damals kicherten über die quietschenden Schuhe von Elke Wieditz als Mutter Miller, die Mädchen jetzt kichern, als Nadja Robiné im Hintergrund der offenen Spielfläche im e-Werk ihren Popo freilegt zum Kostümwechsel, was in umgekehrter Richtung später noch einmal verläuft und dann auch deutlich aufmerksamer von den restlichen Schülerscharen beobachtet wird. Nadja Robiné ist, das gleich bemerkt, mit streng gestrafftem Haar eine geradezu überirdisch schöne Lady Milford und scheint mit offenem Haar wie ausgetauscht, ein verblüffender Effekt. Ihr Dialog mit Luise Miller (Katharina Hackhausen), auch das vorab, erinnert eher an einen im Nachmittags- und Frühabend-Programm des Fernsehens erprobten Zickenkrieg als an die klassische Szene des klassischen Schiller.

Die Frage, ob „Kabale und Liebe“ ohne Kammerdienerszene gespielt werden kann, erübrigt sich 2014 noch mehr als 2009. Damals fehlte der alte Herr in gleich vier Inszenierungen nacheinander, die ich sah, man konnte beinahe an DDR-Sozialisierungsspätschäden denken, die da verarbeitet wurden. Nur waren halt die Inszenatoren gar nicht alle Gewächse des verflossenen Kleinstaats. Und doch gab es den Effekt (bei mir): mit Kammerdiener erstmals in der Berliner Schaubühne war es doch ein anderes Stück. Auch Andreas Kriegenburg in Düsseldorf verzichtete auf ihn, erfand aber dafür den auf nackte Haut geschriebenen Intrigenbrief, der jetzt im e-Werk in der Regie von Bettina Bruinier fröhliche Auferstehung feiert. Kriegenburg ließ zwei Wurms parallel und teilweise synchron spielen, nur einer wurde beschrieben. Bruinier kommt mit Wurm im Singular aus, ihn spielt eigentlich Tobias Schormann, doch musste ihn krankheitshalber kurzfristig Krunoslav Šebrek in der zweiten und dritten Vorstellung ersetzen. Šebrek gab den Sekretär mit Buch und hielt dabei das Spiel überraschend bruchlos.

Elke Wieditz übernimmt inzwischen die Rolle tiefgefrorener Leichen im TATORT, die Streichung der Mutterrolle verstärkt wenigstens potentiell die Bindung zwischen Vater und Tochter, der herrliche Blick ins Familienleben des Musikus, der eben auch ein Blick in Schillers frühes Familienerlebnis ist für alle, die sich mit der Biographie des Schwaben etwas näher befasst haben,  entfällt natürlich damit. Und auch die gar nicht so vergangene Neigung einer Mutter zu höheren Kreisen, wenn diese ein Auge aufs Töchterlein werfen. Gestrichen ist die Kammerjungfer Sophie, deren Fehlen das des Kammerdieners für den Rollenstatus der Lady Milford ergänzt, die Lady muss damit zwangsläufig Substanz verlieren. Ihre plötzliche Offenheit gegen eine der menschlichsten Ansprachen der klassischen Bühnenliteratur, der Luises, sie sei gar nicht so, wie sie zu scheinen beabsichtige, ist streng genommen fast nicht mehr motiviert. Wenn Nadja Robiné hier schwächelt, dann hat sie fast keine andere Chance. Und umgekehrt ist für die Luise natürlich gerade an dieser Stelle kaum Boden bereitet. Katharina Hackhausen kommt sehr gut über die langen Zeiten, in denen sie ohne Text und Bewegung ist, sehr früh zeigt sie dem sehr jungenhaften Ferdinand (Jonas Schlagowsky), dem man normalerweise keinen Gefreiten, geschweige einen Major abnehmen würde, wie sehr sie ihm im Tiefen und Letzten überlegen ist. Er ist, so jung er ist, schon ganz Mann in seiner vereinnahmenden Art. Dieser Ferdinand ist seinem Vater ähnlicher, als man zunächst glauben soll, wenn man ihn im Dialog mit dem Präsidenten sieht.

Der Präsident, wie ihn Ingolf Müller-Beck gibt, ist nicht nur radikal bürgerlich, gänzlich unadelig, er ist zudem auch ein arg ordinärer Bürger. In jeder zweiten Szene agiert er mit obszönen Gesten und man hat nie das Gefühl, hier breche etwa nur in spezieller Situation der Lack. Dieser Präsident hat keinen Lack, es fragt sich folgerichtig, was ihn zur rechten Hand eines Herzogs gemacht haben könnte. Diese Zusammenhänge sind vielleicht nicht außerhalb des Stücktextes, sicher aber außerhalb der Regiekonzeption von Bettina Bruinier. Es hängen ohne rechte soziale Grundierung alle diese Leute als Figuren arg in der Luft. Was verkörpert dieser Sekretär Wurm an Status und Macht, wer ist dieser wie fast immer auf der Bühne nur als Karikatur agierende Hofmarschall von Kalb (Fridolin Sandmeyer)? Dessen Ausbruch in der schön erfundenen Szene mit dem Präsidenten, der ihn motivieren will, den Briefadressaten zu spielen, hat etwas von Fremdkörper, obwohl gerade hier für diese Rolle der klassische Ort ist, den ganzen Komödianten zu zeigen. Die Rekonstruktion der Strumpfbandstory macht in Weimar, wie fast immer und überall, großes Vergnügen für den Zuschauer. Und hält ihn weit weg von jedem Gedanken, es handle sich bei all dem um ein so genanntes bürgerliches Trauerspiel.

Musikus Miller (Sebastian Nakajew) ist im e-Werk so jung, dass man ihm den Vater kaum glauben mag, am Ende aber, als ihm langsam klar wird, dass Luise ihm ihren Freitod ankündigen will, wird er stark. Was wohl viel damit zu tun hat, dass an diesem Punkt auch Katharina Hackhausen ihre eindrucksvollsten Minuten hat. Der Schluss ist Bruinier, nicht Schiller. Nicht, weil die giftige Limonade durch Schreckschusspistolen und Theaterblut ersetzt ist. Sondern vor allem, weil Ferdinand überlebt. Es hat innerhalb der Konzeption, dies soll nicht verschwiegen werden, Logik. Dieser Ferdinand kann am Ende wohl tatsächlich selbst Präsident werden. Er war ja nicht nur wie bei Schiller für einen großen Liebenden viel zu rasch eifersüchtig, er war ja nicht nur wie bei Schiller viel zu rasch an der Grenze des Verführtwerdens (bei Lady Milford), er war eben auch der Sohn, der schnell mit dem Vater zusammen eine raucht. Wie überhaupt mächtig viel geraucht wird im e-Werk, es zieht bis in die oberen der zehn Stuhlreihen. Man muss es nicht mögen.
Gespielt wird knappe zwei Stunden ohne Pause, 2009 waren es zweieinhalb Stunden mit Pause.

Ein Zitat aus dem Stück hat sogar bis auf die Eintrittskarten gefunden: „Ein entsetzliches Schicksal hat die Sprache unserer Herzen verwirrt.“ Es kennzeichnet die dramaturgische Ausrichtung der Inszenierung sehr prägnant. Diese Spielauffassung ist meilenweit von jener entfernt, die einst glaubte, Theater könne die Veränderbarkeit von Verhältnissen zeigen. Auf der längst kanonisch gewordenen, also schon gar nicht mehr reflektierten Basis einer Weltsicht, für die es keine Verhältnisse, sondern nur Diskurse gibt, ist alles in dieser Welt nur Sprachproblem. Und wird dafür gar noch das Schicksal verantwortlich gemacht, dann ist daran weniger der ebenfalls unreflektierte Rückfall ins Schicksalsdrama fragwürdig, sondern eben vermittelte deprimierende Erkenntnis, dass betroffenen Verwirrten in diesem Leben nicht zu helfen ist. Die Konsequenz zieht Luise Miller dann höchst folgerichtig. Die Konsequenz hat auch Lady Milford, wenngleich nur in gemäßigter Radikalität, gezogen. Bei den Männern des Spiels trifft die Verwirrung der Sprache ganz offenbar nur auf Leere, bleibt somit wirkungslos, das Schicksal, gut oder schlimm genug, bleibt machtlos.


Bettina Bruinier ist keine Anfängerin, sie braucht folglich keine Nachhilfestunden in irgendetwas. Ihre Weimarer „Kabale und Liebe“ finden nicht nur bei den ganz jungen Leuten den freilich immer ziemlich rituellen Beifall, auch die paar älteren Paare dazwischen klatschten herzlich. Bei den am häufigsten gespielten klassischen Stücken wird jede Regie, die sich nicht selbst zurückzunehmen  oder gar zu verleugnen imstande ist, in die unvermeidliche Falle gehen. Im Griff nach dem nie Dagewesenen geht eins fast immer verloren: die eigentlich den Schülern auf dem Weg zu ihren Schulstoffen zugedachten Begegnungen mit den Autoren der auf die Bühne gestellten Werke. Im idealen Falle entsteht Neugier auf Theater, eine Lust aufs Wiederkommen. Das wäre viel und höchst zu schätzen. Von und über Schiller erleben die jungen Zuschauer eher wenig. Der Einsatz von Bachs „Wie soll ich mich freuen“ und von Wencke Myhres „Hoch der Liebe“, sie feierte am Tag nach der Premiere ihren 67. Geburtstag, bedient zwar jugendliche Identifizierungsweisen, aber  möglicherweise nur mit dem oberflächlich passendem Text.
  www.nationaltheater-weimar.de


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