Brecht: Die Kleinbürgerhochzeit; Berliner Ensemble

Was war dieser Brecht in jungen Jahren für ein Kerl. Mit wie unglaublich sicherem Griff haute er im Herbst 1919 diesen Einakter hin, der langsam, aber sicher hundert Jahre alt wird. Und immer noch vor Vitalität geradezu sprüht und funkelt. Das schließt keineswegs aus, dass all die anderen Einakter jener Monate nicht annähernd so lebendig blieben wie "Die Hochzeit", die erst Jahre später zur "Kleinbürgerhochzeit" wurde. Weil die Inszenierung des Berliner Ensembles aus dem Jahr 2000 (!!) noch immer läuft und das Publikum quieken lässt, können Autor und Regie nicht viel falsch gemacht haben. In der Tat, Philip Thiedemann brauchte eine einzige, freilich wunderbare Idee, um den Einakter so herrlich abendfüllend zu gestalten. Die Enge des Kleinbürgerlebens wird bei ihm buchstäblich genommen, das Bühnenbild von Etienne Pluss macht den Spielraum so eng, dass jede Bewegung, jede Ortsveränderung einer der neun beteiligten Personen fortlaufend Situationskomik erzeugt. Das hält tatsächlich volle anderthalb Stunden vor, es gibt keinen Hänger, kein Loch, keinen Aussetzer, nichts dergleichen.

Und volle anderthalb Stunden wandern die Lachanfälle wie immer neu angefachte Brandnester zwischen Parkett und Rängen, die Zuschauer wischen sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Dabei wirken auffallend am stärksten nicht die vermeintlich potentesten Passagen des Textes, sondern das stumme Spiel. Carmen-Maja Antoni als Mutter der Braut hat wenig Text, aber es lohnt sich, sie keine halbe Sekunde aus den Augen zu lassen. Jeder Blick zur Seite, jede in die Höhe gezogene Augenbraue, jeder vergebliche Handgriff, alles, alles ist urkomisch, saukomisch, traumkomisch. Natürlich sind die Gags in mehr als dreizehn Jahren Laufzeit erprobt, doch hat man zu keinem Zeitpunkt das Empfinden, hier spule sich kalte Routine ab. Alle neun an der Hochzeitstafel produzieren ein optisches Tableau, das fesselnd bleibt vom ersten bedrängten Hinsetzen bis zum allerletzten Kampf des Hochzeitspaares gegen das Abrutschen auf der Schräge des kippenden Bühnenaufbaus.

Der Bräutigam (Boris Jacoby) hat sich als engagierter Heimwerker betätigt und alles selbst gefertigt: Er misstraute der Qualität des Industrieprodukts. So sitzen die Gäste auf Stühlen Marke Eigenbau an einem Tisch Marke Eigenbau, die Chaiselongue ist ebenso Eigenbau wie der Schrank und das Ehebett (das man nicht zu Gesicht bekommt). Der Running Gag des Einakters und ebenso der Inszenierung ist das schrittweise Versagen des Meublements. Da kracht eine Lehne, dort bricht ein Bein, später gehen Wände und Schrank zu Bruch. Zwischenzeitlich ist es allein eine Augenweide, wie die Speisen und Getränke aufgetischt werden, die Tür geht nicht auf, ohne die Sitzenden extrem in Bedrängnis zu bringen. Zusätzlich erschwert die Regie das Agieren dadurch, dass die Hochzeitstafel erhöht ist und eben ein nach vorn offener schmaler Kasten. Niemand kann also einfach in eine beliebige Richtung ausweichen. So steigt man übereinander, schiebt sich aneinander vorbei, kriecht unterm Tisch, bleibt hängen, beschüttet sich, wirft Geschirr um.

Das hat sehr viel von Stummfilm-Slapstick und ist damit natürlich nahe an Brechts eigenen Jugend-Vorlieben. Vielleicht sollte man Nora Bossong gelegentlich statt des übernächsten Preises oder eines Förderstipendiums eine Freikarte für "Die Kleinbürgerhochzeit" überreichen, damit sie sich auf Brecht-Plüsch von dessen lyrischer Überproduktion erholen kann. Hat den alten Zigarrenraucher im Mao-Look irgendwer auf einer Warteliste für den aktualisierten Kanon der deutschen Komödien? Und die "Keuschheitsballade in D-Dur" will auch erst einmal geschrieben sein, man kann sich den Augsburger Barden des Jahres 1918 gut vorstellen, wie er das zur Klampfe und zu eigenem diabolischen Vergnügen da und dort einer geneigten Damenwelt vorkrächzte. Im BE tat es mit Schifferklavier Winfried Goos mit Ingo-Appelt-Charme, er gab den Freund des Bräutigams, der anfangs mit der Frau (Krista Birkner) nach Kräften flirtete und füßelte.

Überhaupt: die erhöhte Spielfläche, die zugleich den Blick auf die Hinterbühne so weit verstellt, dass man nur die Unterkörper der Darsteller sah, sobald sie die Höhe einmal nach hinten verlassen hatten. Wie auch hier wiederum ein einfacher Einfall phantastische Spielmöglichkeiten eröffnet: Beine in dieser agierenden Selbständigkeit sah man selten in sprechenderer Funktion. Und den Damen blieb zusätzlich der ständige Kampf gegen den möglichen Blick unter ihre Röcke für die komischsten Verrenkungen. Alles mit dem einzigen Zweck, die Banalität der Dialoge in fesselnde Aktion zu verwandeln, soweit bei dem geringen Radius der Aktion der Begriff nicht schon überfordert ist. Die Banalität des Dialogs ist, es sei vorbeugend erwähnt, die volle Absicht des Einakters, man muss gar nicht lange darauf verweisen, dass auch hundert Jahre später solche und ähnliche Gesprächs- und Unterhaltungsniveaus üblich sind. Ein Zapp-Blick zur "Scripted Reality" im Privatfernsehen reicht hin, den Wahnsinn des Alltags immer wieder in voller Hässlichkeit präsent zu halten.

Muss man verraten, dass die Braut schwanger ist, um wenigstens einen Punkt zu erwähnen, der hundert Jahre nach dem jungen Brecht niemandem mehr Empörungsfalten auf die Stirn treibt? Larissa Fuchs ist die Braut, die ich am Vortag erst als neues Dienstmädchen Anna sah im alten Max Frisch "Biedermann und die Brandstifter". Sie ist eine gute Braut mit leicht heiserer Stimme, von der man nicht sicher weiß, wie und warum sie an diesen Bräutigam geraten ist. Der wiederum (Boris Jacoby) besteht am Ende des laufenden Chaos auf seiner Hochzeitsnacht und besticht bis dahin immer wieder mit stummem Spiel vor allem in Interaktion mit seiner Mutter (Carmen-Maja Antoni). Michael Rothmann, am Vortag noch Ringer Schmitz bei Frisch, sitzt als Mann der Frau (Krista Birkner) am anderen Ende der Tafel. Schon die Entfernung signalisiert den Status ihrer Paarbeziehung, der sich in der zweiten Hälfte zur wildesten Auseinandersetzung des Einakters steigert, in der sogar ein Tischbein fliegt.

Fast stoisch versucht Michael Kinkel als Vater der Braut immer wieder seine Geschichten vorzutragen, die ihm bei jedem beliebigen Stichwort einfallen, die aber niemand hören will bis auf den Freund des Bräutigams. Carmen-Maja Antoni schläft einmal demonstrativ ein und schnarcht wie ein sibirisches Sägewerk. Die Tochter/Braut bekennt genervt, seine Geschichten nie lustig gefunden zu haben und es ist pure Resignation, wenn der Vater fast zum Schluss seinerseits verrät, dass er mit ihnen eigentlich so etwas wie Deeskalation zu treiben beabsichtigte. Es wird viel getrunken, noch mehr verschüttet und es gibt einen Akt im Stehen, von dem der Zuschauer nur die Beine und die Bewegungen sieht. Jörg Thieme als junger Mann hält eine salbungsvolle Hochzeitsrede, die ihm sein Tischnachbar Michael Rothmann dadurch madig macht, dass er sie als aus einem Buch auswenig gelernt entlarvt.

Dass diese rasante Inszenierung mit ihrer Power-Dauer-Komik Passagen überhören lässt, die dem Autor Brecht sicher wichtiger waren als der pure Klamauk, den er möglich machte, gehört zu den hinnehmbaren Kollateralschäden. Es begann bei dem triefenden Bekenntnis der Brautschwester Anke Engelsmann zu Heinrich Heine und reichte bis zu der fast vollkommen untergehenden Anspielung auf das Theaterstück "Baal", dessen Autor der Autor Brecht natürlich 1919 als allseits bekannt voraussetzte. Fast untergehende sind immer besser als vollkommen gestrichene Passagen, das reine und vollständige Vergnügen an diesem Theaterabend war ungeschmälert. Interessant wäre zu erfahren, wie das bei den zahlreichen jungen Zuschauern ankam, die sich im Foyer auf französisch, englisch, niederländisch unterhalten hatten. Und sich offenbar auch amüsierten.

 


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