Moliere: Tartuffe; Schaubühne Berlin

Wenn es irgendein Wort gibt, das diese rasante, irrwitzige, aberwitzige, tolldreiste Inszenierung am knappsten charakterisiert, dann: überdreht. Michael Thalheimer macht einerseits, was er immer macht, er dampft ein, er verwandelt den Text in eine Art Pressling, andererseits aber gibt er seinen Darstellern geradezu unglaublichen Raum, was in diesem „Tartuffe“ zu Soli führt, die einen atemlos machen vom Zuschauen. Und zu allem dreht sich die Bühne, nur eben nicht horizontal, wie es jede gute alte Drehbühne täte, sie tut es vertikal. Und bringt damit nicht nur das eingangs ordentlich über dem Sessel als einzigem Bühnenmöbel an der Goldbronzewand hängende schwarze Kruzifix nach und nach in Kopflage, die viel mit dem Teufel zu tun hat. Der Sessel selbst hängt plötzlich an der linken Wand, die Darsteller spielen mit ihren Gleichgewichtsproblemen und sie spielen grandios.
Ich hörte Zuschauerinnen, die seit der Premiere am 20. Dezember schon zum wiederholten Male in die Schaubühne einrückten, nur um weiteren nächsten Freundinnen dies Erlebnis zu verschaffen.

Dass Thalheimer die Madame Pernelle mit einem Mann besetzt, mit Felix Römer, gehört sicher zum Ritus des Düpierens von Erwartungshaltungen. Auch kommt Tartuffe selbst, Lars Eidinger, nicht wie bei Moliere erst sehr spät auf die Bühne, nachdem er von den anderen Figuren von allerlei Seiten vorher schon im bühnenklassischen Verfahren exponiert wurde. Er übernimmt die Charakterisierung seiner Person, genauer: des Bildes von sich, das er erzeugen möchte und bis zum Handlungsbeginn erzeugt hat bei den anderen Personen der Komödie, in einer langen Bußpredigt im Habit eines Schmerzensmannes, im Ton eines Savonarola. Je länger er redet, die strähnigen langen Haare ins Gesicht hängend, leicht nach vorn wippend, umso mehr zieht er seine Hörer in seinen Bann. Der Effekt wird erlebbar, den er auf den Orgon des Spiels (Ingo Hülsmann), aber eben keineswegs nur auf ihn, fast magisch ausübt. Man sieht später vor allem an Dorine (Judith Engel) diese Wirkung und deren Kraft auch gegen bewussten Abwehrwillen.

Gegen diese Textflut, der noch kein Hauch des späteren Aufscheinens der Abgründe und Profanitäten des vermeintlichen Gottesmannes beigemischt ist, setzt die Regie den beinharten Kontrast des puren Irrwitzes. Judith Engel steht links an der Wand und sagt ihre Dorine-Sätze her, diese wunderbar starken, souveränen und vor allem extrem schlagfertigen Frauensätze, in einem Tonfall, gegen den das härteste Understatement ein Beredsamkeitshurricane wäre, dazu eine Mitleid erregende Leichenbittermiene, während Vater Orgon und Tochter Mariane das Publikum von einem Lachanfall in den nächsten treiben. Luise Wolfram als Mariane im blauen Faltenrockkleid mit gelben, unterschiedlich hoch gezogenen Kniestrümpfen schon äußerlich der Witz auf Füßen, später gesellt sich Bruder Damis (Frank Hartwig) mit Knieschützern, kurzer Hose und Pullunder dazu, der Dialog zwischen Bruder und Schwester brüllkomisch. Cléante (Kay Bartholomäus Schulze), bei Moliere so etwas wie die Stimme der Frühaufklärung, ist hier ein schräger Zombie mit Zottelhaaren. Valeré (Tilman Strauß als Bräutigam) alles, nur nicht der begehrenswerte Geliebte. Elmire, die Gattin (Regine Zimmermann) auch irgendwie nicht ganz von dieser Welt.

Einer aber zeigt, wie man, wenn die Regie diese Lesart fordert, aus einer unscheinbaren Kleinrolle einen Auftritt zaubert, der den Zuschauern Angstschweiß auf Stirn und Rücken treibt, der Angst nämlich, vom eigenen Lachen zerrissen zu werden. Urs Jucker zelebriert einen Monsieur Loyal, der seinem Namen allenfalls bei Moliere selbst Ehre macht, als einen außer Rand und Band geratenen, vollkommen entfesselten Gerichtsvollzieher, der mit Aktenordner unterm Arm erscheint, um Orgon nebst Familie den Enteignungsvollzug als Verdikt auszuhändigen und wie ein Irrwisch durchs Bild springt, sich an sich selbst über sich selbst begeisternd. Er geht buchstäblich über nicht vorhandene Tische und Bänke. Zum Ausgleich hat Thalheimer den royalistischen Moliere-Schluss mit der Verhaftung Tartuffes und dem Lob des gerechten und unbestechlichen Königs vollkommen gestrichen. Er fehlt einem nicht. Fehlt einem überhaupt etwas?

Wer die deutschen Moliere-Reime so sprechen lässt wie Thalheimer an der Schaubühne, der lässt ihre Komik wie unfreiwillige Komik wirken, ein verblüffend einfacher wie wirkungsvoller Effekt. Pathos raus, drollige Betonung rein und schon biegt sich der Zuschauer auch an Stellen, wo er vielleicht sonst unbewegt sitzen würde. Klar, dass das ein Ereignis ist. Wer fragt nach der Gefährdung des Bürgers durch Gurus oder was man sonst schon so gefragt hat im Glauben, man müsse immer etwas fragen, wenn der „Tartuffe“ läuft. Er läuft und läuft, während manch ach so antwortendes Stück viel späteren Datums längst vergessen, und zwar vollkommen und total vergessen ist. Die Geschichte vom dem eigenen Augenschein nicht trauenden Besitzbürger, der sogar seine Tochter und sein gesamtes Vermögen einem Prediger überantwortet, sie muss nicht auf irgendetwas befragt werden. „Halt die Fresse!“ wird immer wieder gebrüllt im Saal A der Schaubühne. Genau. Man hätte den Tartuffe ja ein wenig wie Tebartz van Elst aussehen lassen können. Man kennt solche blöden Ideen von deutschen Bühnen.

Die Schaubühne aber hat Eidinger, dessen Tartuffe-Oberkörper mit Versen beschrieben ist, falls mich trotz Traumplatz in Reihe 6 mein Blick nicht vollkommen täuschte. Der muss nicht sehr viel anders aussehen als er selbst. Und er passt dann auch nicht so recht zu sich selbst, als er der Mensch wird, dessen Name als sprichwörtlich gilt. Er setzt sich mal auf den Schoß von Dorine, mal auf den von Orgon, mal breitet er die Arme wie der Gekreuzigte, mal fühlt er Elmire unter den Rock. Man muss sich als Zuschauer selbst bedauern, wenn man nicht wie die Berliner Premieren-Kritik sich vorher einem Coaching durch Killer-Filme, Killer-Spiele und Death-Metal-Klänge, durchweg alles made in USA, unterzog. Sieht man dann überhaupt, was man sieht? Kurioserweise assoziiert niemand Theater im Theater, soweit er für seinen Besuch Honorar kassiert. Gut, dass die Top-Kritiker des Landes sich nicht über die Woche Rassegeflügel-Schauen hingeben, sonst läsen wir womöglich, die Damen auf den Bühnen hätten an zutrauliche Seidenhühner erinnert. Möge dieser „Tartuffe“ laufen, er macht über sich hinaus Lust auf Schaubühne.
  www.schaubuehne.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround