Arthur Miller: Der Tod des Handlungsreisenden; Bühnen der Stadt Gera

Dass der Mann, der am Anfang mit zwei riesigen stabilen Metallkoffern auf die Bühne kommt und nach Linda schreit, am Ende nicht mehr leben wird, wissen wir, ehe wir unsere Plätze im Theater eingenommen haben, denn das Stück heißt „Der Tod des Handlungsreisenden“. Da das Stück von Arthur Miller inzwischen den 65. Geburtstag seiner Uraufführung hinter sich hat, die gab es am 10. Febuar 1949 im Morosco Theatre in New York, die Regie führte kein Geringerer als Elia Kazan, ist es zusätzlich schwer, Überraschung zu heucheln, was das kommende Bühnengeschehen betrifft. Denn es gab da nicht nur jenen Film von Laszlo Benedek von 1951, der 1952 fünf Oscar-Nominierungen und vier Golden Globes einheimste, sondern vor allem die Schlöndorff-Fassung von 1985 mit Dustin Hoffmann als Willy und John Malkovich als Biff Loman, um nur die Superstars zu nennen. Wir wissen also, was kommen wird und können uns deshalb in Ruhe darauf konzentrieren, wie es kommen wird.

Gespielt wird in Gera die deutsche Fassung von Volker Schlöndorff und Florian Hopf mit dem Untertitel „Ein soziales Psychodrama“, was als Charakteristik eher dem Fernsehen als dem Theater zuzuordnen wäre, zumal es gewichtige Aussagen von Arthur Miller selbst gibt, die gegen diesen Untertitel ins Feld geführt werden könnten. In seinen frühen Autorenjahren hat sich Miller nicht zufällig mit dem Wesen der Tragödie befasst und ihr Sätze gewidmet, die auf den „Tod des Handlungsreisenden“ wie zugeschnitten wirken. In einer Bilanz ein Jahr nach der Uraufführung hielt Arthur Miller fest: „... für mich besteht die Tragödie Willy Lomans darin, daß er sein Leben hergab oder sogar verkaufte, um die Verschwendung desselben zu rechtfertigen. Es ist die Tragödie eines Menschen, der wirklich glaubte, daß nur er allein die Forderungen nicht erfüllte, die die Apostel des freien Wettbewerbs in den Spitzenpositionen der Rundfunkanstalten und Werbeagenturen an die Menschheit stellen.“

Es ist vielleicht hilfreich zu wissen, dass Miller beim Schreiben des Stückes mehr gelacht haben will als je zuvor, wenn er allein war. Das verblüfft ähnlich wie eine gleichartige Überlieferung zu Kleists „Familie Schroffenstein“ aus der Schweizer Entstehungszeit, weil es scheinbar gar nicht zum Werk und seinem ernsten Charakter passen will. Und auch von der Inszenierung unter Elia Kazan vermeldet Miller genau dies. Der Berliner Kritiker Friedrich Luft dagegen, der im Frühsommer 1950 die Helmuth-Käutner-Inszenierung im Hebbel-Theater sah und begeistert lobte, kannte das New Yorker Original und schrieb: „Ich habe am Broadway ... hartgesottene New Yorker Geschäftsleute heulen sehen wie die Schloßhunde.“ Fünfzig Jahre nach der Uraufführung, 1999, sah Arthur Miller sein erfolgreichstes Stück aus der Geschichte vieler Aufführungen in vielen Ländern, in Schweden und China hatte er selbst Regie geführt, ohne die Landessprache zu kennen: „Die Geschichte des Stückes hat bewiesen, dass der größte Teil der Welt diesen Zustand zu kennen scheint.“ Was nichts anderes bedeutet als: Das spezifisch Amerikanische an diesem Drama ist viel weniger spezifisch, als vielfach vorläufig vermutet wurde. Es ist vor allem spezifisch kapitalistisch und das klang nicht zu allen Zeiten in allen Ohren gleich hinnehmbar.

Es wäre ein hübsches Thema, warum nicht wenige Miller-Stücke ihre erste deutschsprachige Aufführung nicht in Deutschland hatten, eines aber sogar in Weimar 1949, warum namhafteste deutsche Theaterkritiker um Miller einen mehr oder weniger deutlichen Bogen geschlagen haben, während beispielsweise in Österreich ganz andere Töne hörbar wurden. Vielleicht störte einer wie Arthur Miller ja das Wunschbild einer bestimmten deutschen Öffentlichkeit vom Mutterland der Freiheit, von Gottes eigenem Land, vielleicht wollte genau diese Öffentlichkeit ja lieber gar kein kritisches Theater, das die Ebene der abstrakten Allgemeinheit verließ. Mythenzerstörung gilt zwar als legitimes Verfahren von Theaterpraxis, aber eben nicht immer, überall und für jeden Mythos. Das Gespenst des Antiamerikanismus geht immer noch gepflegt um in der Welt, während das Gespenst des Antisowjetismus als Spiegelphänomen längst unten in der Mottenkiste liegt. Nur mühsam versucht das neue Gespenst des Russland-Verstehens an seine Stelle zu treten.

Willy Loman hat eine überschaubare Anzahl von sehr einfachen Vorurteilen, die sehr mit der Gesellschaft zu tun haben, in der er lebt, mit ihren herrschenden Wertvorstellungen. Erfolg steht in seiner Werthierarchie ganz weit oben, gut ist, was Erfolg bringt, schlecht ist, was Erfolg verhindert. Viele von Lomans Maximen würden ihn bloßstellen, dehnte er ihre Anwendung auf sich selbst aus. Das aber fürchtet er, wenn er überhaupt jemals in die Nähe einer Situation kommt, die ihn zwingen könnte, seine teilweise unfassbaren Illusionen, seine teilweise himmelschreienden Lebenslügen zu durchschauen. Wenn Sohn Biff gegen Ende des zweiten Aktes seinem Bruder Happy und seinem Vater Willy vorhält: „In diesem Haus ist noch nicht eine Minute die Wahrheit gesagt worden.“, dann ist das ein, vielleicht sogar der Schlüsselsatz des Geschehens. Hinter dem sich freilich auch alle die Deuter verstecken können, die froh wären, wenn „Der Tod des Handlungsreisenden“ tatsächlich nur ein Psychodrama wäre. Über die erzählte Geschichte von Willy Lomans Vater, der auf Fahrt unterwegs Flöten schnitzte und diese dann verkaufte, wenn der Wagen hielt, liest man schnell hinweg oder hört es nicht in der Bühnenfassung.

Es deutet aber an, welche Tradition sich da fortsetzt in einer Familie und es wäre wiederum eine hübsche Geschichte, Einflussanteile zu sortieren, die über Ibsen zurück reichen in naturalistische Vererbungstheorien und über Piscator, in dessen Schule Arthur Miller in seinen jungen Jahren in den USA ganz direkt ging, eben tatsächlich zu prononciert gesellschaftskritischen Sichten. Willy Loman ist der Sohn eines Windhundes, könnte man sagen, und hat selbst wieder zwei Windhunde hervorgebracht, der eine klaut von Kindesbeinen an bei jeder Gelegenheit und hält im Sinne seines Vaters und seiner seltsamen Lebensmaximen die Fähigkeit, einen Nagel in die Wand schlagen zu können für wichtiger und vor allem männlicher, als die Fähigkeit, eine Mathematikprüfung zu bestehen als Voraussetzung für einen Universitätsbesuch. In diesen Kreisen, man kennt das bis in die Jetztzeit aus unzähligen Kino-und Fernsehfilmen, aus unzähligen Serienfolgen, kompensiert man seine der tatsächlichen Lage entsprechenden Minderwertigkeitsgefühle gern mit fiktiven Selbstaufwertungen. Man sagt, man sei in der und der Branche, um nicht sagen zu müssen, man sei Müllfahrer oder Putzfrau, die sprachliche Beschönigung niederer Tätigkeiten ist längst auch in Deutschland Alltag.

Die Lomans lügen sich so in die Tasche, was sie sind oder waren und wenn sie der Wahrheit nicht mehr ausweichen können, weichen sie auf Geschichten aus, die nur deshalb nicht Wahrheit wurden, weil sie aus freien Stücken oder mit entschuldbaren Gründen die entsprechende Möglichkeit, die Chance, wie es in den USA am liebsten heißt, liegen ließen. Es kommt ein armseliges Leben heraus, das aus Schuldenmachen und Schuldenabzahlen besteht und in der großen amerikanischen Summe zu Bankenkrisen führt, die Weltwirtschaften ins Straucheln bringt. In Arthur Millers Stück gibt es niemanden, der die Mechanismen wirklich durchschaut, geschweige denn, daraus Folgerungen zieht. Willy Lomans später Nachfahre Al Bundy hat keine Linda mehr an der Seite und ist deshalb nur noch komisch, wenn auch mit einem kräftigen Rest Tragik verrührt. Willy aber kann tatsächlich zu Tränen rühren, wenn er kaum für Minuten, aber immer wieder für Sekunden innehält und kläglich wird, klein, hilflos. Das Umschlagen aus prahlerisch-lautem, ignorantem Selbstbetrug, aus grober bis böser Oberflächlichkeit zu diesen Momenten, das ist die große Rollenherausforderung.

Ulrich Milde ist dieser Herausforderung, nach der Pause mehr als vor ihr, weitgehend gerecht geworden. Er hat sich durch sein lautes, bisweilen überlautes Angehen der Rolle die Aufgabe nicht unerheblich zusätzlich erschwert, weil die Fallhöhe dann einfach zu groß wird, aber gelangt zu starken Momenten, wenn er die Hand hebt, um den Sohn zu fassen, wenn die Hand zittert und zögert, ehe sie dann doch den Kopf an sich zieht. Da die starken Momente seines Willy durchweg die leiseren sind, könnte vielleicht doch ein Problem im Konzept stecken. Bei Mechthild Scrobanita als Linda Loman ist der Weg bis zum Ausbruch gegen beide Söhne, der mir die stärkste Szene des reichlich zweistündigen Abends schien, nicht ganz so weit, sie darf sich in stummem Spiel Profil geben, was schon mit den Broten auf dem Küchentisch ganz wunderbar gelingt. Die Söhne Biff (Philipp Reinheimer) und Happy (Henning Bäcker) sind von Regisseur Bernhard Stengele weniger auf Psychologie angelegt. Sie haben ausführlich Gelegenheit, Wurf- und Fangkünste zu zeigen, sie sprechen eher stilisiert als auf Einfühlung aus.

Bernhard Stengele und Marianne Hollenstein haben die Bühne sparsam ausgestattet, Zusatzhilfen für das Publikum, wie sie Arthur Miller für die Rückblenden, die Erinnerungen, die inneren Selbstgespräche des Handlungsreisenden in seinen ausführlichen Anweisungen vorsah, unterbleiben, nicht einmal eine besondere Lichtregie hebt aktuelle Rahmenhandlung von diesen Szenen auffallend ab, der Zuschauer muss aufpassen und bleibt vor Irrtum nicht gefeit. Verfremdend wirken auch die Darsteller des Bruders Ben und der Frau in Boston, mit der Sohn Biff seinen Vater im Hotel erwischt (Ouelgo Téné und Rachelle Emmanuella Rasmata Ouedraogo). Die kleineren Rollen des Nachbarn Charley, der Willy Arbeit bietet, die der aus falschem Stolz ablehnt, ohne jedoch die wöchentlich fünfzig Dollar zurückzuweisen, die er zurückzahlen will (Bruno Beeke), des jungen Chefs Howard Wagner (Ralph Jung), des erfolgreichen Schulfreundes Bernard (Manuel Kressin) sind überzeugend besetzt, nur Johanna Paliege als Miss Forsythe zeigt sich insofern überfordert, als sie zu Al Bundy in die Serie besser passen würde als zu diesem Miller, sie fällt aus dem Stück in seiner Geraer Auffassung. Verdienter, wenn auch keineswegs euphorischer Beifall am Ende.
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