Ibsen: Hedda Gabler; Schaubühne Berlin

„Eins verstehe ich nicht“, sagt die junge Frau zwischen einem etwas älteren Paar, vermutlich Vater, Mutter und Tochter, die sich an diesem Sonnabend die Schaubühne gegönnt haben, wo nun schon seit mehr als neun Jahren diese Thomas-Ostermeier-Inszenierung mit nicht abreißendem Erfolg läuft, „wieso vertragen manche Menschen gar keinen Alkohol und andere so viel?“ Die drei sind auf dem Heimweg nach zwei Stunden und zehn Minuten ohne Pause und berühren ein Kernproblem des Abends. Regie und Dramaturgie, Ostermeier und Marius von Mayenburg, haben derart kräftig und folgenreich am Ibsen-Text gestrichen, dass Fragen unbeantwortet bleiben müssen, die bei Ibsen keineswegs ohne Antwort sind. Die Premierenkritik nach dem 26. Oktober 2005, soweit ich sie jetzt noch einmal gelesen habe, verzichtete geradezu auffallend auf Aussagen zum Verhältnis der Spielfassung zum Urtext des Norwegers. Man war 2005 eher damit befasst, Vergleiche zu „Nora“, Ostermeiers vorhergehendem Ibsen, anzustellen. Und zwischen Anne Tismer, der damaligen Nora und Katharina Schüttler, der jetzigen Hedda.

Wer seinen Ibsen kennt, weiß, dass das vermeintliche Problem von Eilert Lövborg keinesfalls darin liegt, keinen Alkohol zu vertragen. Er ist ein trockener Alkoholiker und weiß als solcher sehr genau, dass er, wenn er einen Rückfall vermeiden will, und das will er unbedingt, auch nicht die Spur von Alkohol, gleich in welcher Form, zu sich nehmen darf. Heute gehört es zum Allgemeinwissen, dass man trockene Alkoholiker nicht nur schonend zu behandeln hat, indem man nicht permanent blöde Fragen stellt, ob sie nicht doch eine Eierlikörpraline kosten wollen, dass man sie aber auf gar keinen Fall zum Trinken nötigen darf, wenn sie klar und deutlich das Signal geben, nichts zu wollen. In Ibsens Stück ist eine der zahlreichen Perfidien Hedda Gablers ja genau die, ihn zum Trinken zu bewegen, zu nötigen, und damit letztendlich die Katastrophe heraufzubeschwören, die dann fast unvermeidlich folgen muss, nur ihre Verlaufsform bleibt vorerst offen. Wer seinen Ibsen kennt, weiß auch, dass anders als in der Schaubühne eben nicht Juliane Tesman, die Tante, jene in der Tat komplett auf lächerlich angelegten Norwegermuster-Mokassins gestrickt hat, sondern deren Schwester, die zwar auch bei Ibsen nicht selbst in Erscheinung tritt, sehr wohl aber eine nicht unwichtige Rolle spielt. Als sie stirbt beispielsweise und der Neffe sie noch einmal sehen will.

Allgemein lässt sich vielleicht sagen, dass die Strichfassung dort eingreift, wo schon die Kritik zu Lebzeiten Ibsens ein Übermaß an Bericht und Erzählung monierte, ein Defizit an gezeigter Handlung, an Geschehen auf der Bühne. Bei einem Dramatiker, „der seine Spiele genau, fast abgefeimt zu komponieren pflegte“ (Zitat Hans Mayer: Hedda Gablers schönes Sterben) ist es jedoch riskanter als bei anderen, die Schere anzusetzen. Nicht nur die unsichtbare Schwester der Tante ist komplett gestrichen, auch das Dienstmädchen Berte, das aus dem Haus der Tanten zu den jungen Eheleuten wechselt. Ein Jörgen Tesman, von dem man kaum in einer Andeutung erfährt, dass diese Tante Juliane ihm Vater und Mutter zugleich ersetzte, dass diese andere Tante todkrank ihm eben diese Pantoffeln handarbeitete und nicht Juliane, von dem man nicht erfährt, dass die ja gar nicht vorhandene Berte ihn bereits als Kind betreute, erscheint mit um so größerer irreführender Überzeugungskraft rein als spießiger Dödel, dem gar nicht aufgeht, wie lächerlich er sich macht mit diesen roten Undingern an den Füßen, die zu allem auch im schreienden Kontrast zu seinem sonstigen Outfit stehen. Gestrichen ist also überwiegend das, was das sichtbare Bühnengeschehen erklärt und motiviert und verständlich macht. Das ist eine definitiv riskante Strategie. Und die betrifft auch die Titelfigur Hedda Gabler.

Woher kommen ihre Ambitionen, warum will sie unbedingt zwei Klaviere, einen livrierten Diener, ein Reitpferd (bei Ibsen), warum vermisst sie während der sechsmonatigen Studienreise, von der das Paar Tesman zu Beginn des Stückes eben zurückkehrt, Menschen aus ihren Kreisen, mit denen sie über ihre Interessen reden kann und bezieht dabei ausdrücklich den Richter Brack ein, der folglich anders als der eigene Gatte zu diesen Kreisen gehört (bei Ibsen). Hedda Gabler ist die Tochter des Generals Gabler, ihre hochfliegenden Ansprüche bei gleichzeitiger empörter Zurückweisung jeden Gedankens, sich mit den materiellen und finanziellen Voraussetzungen dafür auch nur eine Sekunde lang zu befassen, haben eher adelige Wurzeln als bürgerliche. In wichtigen Punkten ist Hedda Gabler die ältere Schwester von Tschechows Kirschgarten-Besitzerin und die Wahl des Namens für den Titel, das ist nicht meine Entdeckung, signalisiert schon bei Ibsen, dass er sie eher als Tochter des Vaters, denn als Gattin des Ehemannes präsentieren möchte. In der Schaubühne erlebt man eine
Hedda so hyperschlank, dass man Schwangerschaft nicht glauben mag, um die es aber auch in der Strichfassung mehrfach geht. Katharina Schüttler gönnt ihrer Hedda nur sparsamste Mimik, kurze Andeutungen, die dadurch desto prägnanter wirken.

Jan Pappelbaums Bühne überzeugt immer noch mit der einfachen, aber wunderbaren Idee des schrägen Spiegels oben, der den Blick auf das ermöglicht, was der Drehbühnen-Vordergrund jeweils unsichtbar hält. Zur Ausstattung gehört nicht viel mehr als ein überdimensioniertes Sitzmöbel, das man früher wohl Ottomane nannte, ein Wort, bei dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel vermutlich Panikattacken bekäme, der in seinem frischen Text wie immer, wo ich ihn bis jetzt hörte, vor allem mit Kraftausdrücken und alltagssprachlichen Plattitüden operiert, wenn er die Passagen formuliert, die den Unterschied ausmachen müssen zum Herkömmlichen, welches in manchem Weltbild bekanntlich das unübersteigbar Schlimme oder gar Böse ist. Ich gestehe frei weg, dass mir diese Modernisierungen auf den Wecker gehen, um dem Übersetzer-Duktus gemäßigt zu folgen, noch schlimmer ist es, wenn die Typen auf der Bühne reden müssen, wie das halbe Jungdeutschland redet, das seine ersten zwanzig Lebensjahre mit endlosen Vorabendserien und Fließbandübersetzungen aus dem Amerikanischen verbracht hat und glaubt, Schauspielen bestehe primär in Sitcom-Gestik und Sitcom-Mimik. Ich beharre in mieser Herkömmlichkeit darauf, im Theater nicht die Fortsetzung der Straße mit anderen Mitteln erleben zu wollen.

Hedda Gabler ist eine Rolle, auch wenn Ibsen selbst apodiktisch darauf bestand, keine Rollen zu schreiben, sondern Menschen auf die Bühne zu stellen. Eine Rolle, mit der die Darstellerin eine Herausforderung zu bestehen hat: Der Zuschauer sollte sie nicht als eindimensional erfahren, sollte ihre Oberflächlichkeit als nicht nur oberflächlich, ihren Zynismus nicht nur als zynisch erfahren, ihre Leere ist eine surrogatgefüllte, ihre Boshaftigkeit auch Selbstrettungsversuch und, die Sichtweise verdanke ich Hans Mayer, sie setzt bei aller zarten Weiblichkeit auf männliche Verhaltensmuster, sie glaubt, in männlichen Wertsetzungen eher Erfüllung finden zu können als in einer wie auch immer exponierten Weiblichkeit. Für eine Liebe alles opfern kann sie nicht, wo sie dieses Verhalten wahrzunehmen glaubt, reagiert sie, das ist wirklich aufregend, mit Eifersucht und Aggression. So ist es tatsächlich schade, dass die schöne Vorgeschichte gestrichen ist, aus der man vernimmt, wie Hedda schon an der Höheren Töchterschule, an der sie mit Thea Elvsted gemeinsam war, deren schöneres Haar so hasste, dass sie es am liebsten angezündet hätte. In der Strichfassung bleibt Hedda nur das Herabsetzen des Mutes, den Thea aufbrachte, als sie ihren Mann und dessen Kinder verließ, um dem verkappten Genie Eilert Lövborg zu folgen, an dessen Rückkehr ins Leben sie einen hohen Anteil hat wie eben auch am Abfassen des erfolgreichen ersten und des noch viel mehr versprechenden zweiten Buches.

Annedore Bauer betritt den Drehbühnenaufbau wie das bewegliche Denkmal der unbekannten Verlegenheit, mit schiefen Schultern, nach innen verdrehten Beinen, die Handtasche erinnert, wie sie getragen wird, an eine Rolle aus einem berühmten Theater in St. Pauli, nur das Hütchen fehlt noch mit seinem schiefen Sitz. Sie würde am liebsten unsichtbar sein und sie versteht natürlich nicht, dass der frisch dem Alkohol verfallene Lövborg sie nicht mehr braucht, weil er sich selbst nicht mehr braucht. Kay Bartholomäus Schulze ist mit seiner Rolle älter geworden wie alle anderen auch, durch Zufall besitze ich neben dem jetzt verkauften kleinformatigen Programmheft noch das alte mit den Szenenfotos von 2005 (ein Zettel liegt bei, der für eine Vorstellung Wolfgang Maria Bauer als Ersatz für die Stammbesetzung Jörg Hartmann als Richter Brack ankündigt), das den optischen Vergleich ermöglicht. Die 2005 an Katharina Schüttler von der Kritik beobachtete Kindlichkeit ist in Kindfraulichkeit übergegangen, die Männer hat es durchaus etwas härter erwischt, was ihnen keinesfalls schadet, eher nützt. Die Menschen, die mich vor der Schaubühne mit ihren Pappschildern begrüßten, die Kartensuche signalisierten, sind der beste Beweis, dass Stück und Inszenierung leben.

Lars Eidinger hat die womöglich unangenehmste Aufgabe des Abends, er darf in der Lächerlichkeit nicht aufgehen, die er immer wieder vorführen muss. Er ist der frisch Verheiratete, der die Frau bekam, auf die viele scharf waren, die sich aber allen verweigerte. Ihm steht eine Karriere bevor, er hat seinen Doktor gemacht mit einer Fleißarbeit, über die alle Möchtegerngenies sich gern erheben, als wären nicht 99,99 Prozent aller Doktorarbeiten Fleißarbeiten, denn Genies fliegen bekanntlich schon vor dem Abitur vom Gymnasium. Das allzu bereitwillige Lachen eines Publikums über einen Mann, der einen Lebensinhalt hat, ist eher ärgerlich, es befreit aber vermutlich von dem Gefühl, selbst kaum anders zu sein und im Zweifelsfall todsicher eine C3-Professur dem Status des verkannten Genius vorzuziehen. Das wilde Kreischen, das die Regie Eidinger verordnet hat, als er nach der Tat Heddas, die das Apple-Notebook mit dem Hammer zu Splittern hackte, meint, darin einen unerwarteten Liebesbeweis sehen zu müssen, ist sicher lustig. So auch seine Reaktion, als er die Notebook-Überreste auf dem Grill „sieht“. Vor vierzig Jahren war ich im damals noch authentischen Prenzlauer Berg Zeuge, wie ein Kapital-Band von Marx in einer großen Pfanne gebraten wurde. Das war saulustig, ist jetzt aber eben vierzig Jahre alt. Es nimmt der Rolle einfach  zu viel, mehr jedenfalls, als es ihr vermeintlich gibt.

Dem Kritiker, der 2005 Lore Stefaneks Tante Juliane Vorabend-Niveau bescheinigte, sei der im Westen ja noch keineswegs völlig vergessene Theodor Wiesengrund Adorno anempfohlen mit seiner nur vom Titel her anmaßenden „Wahrheit über Hedda Gabler“. Ich zitiere stellvertretend diesen Satz, die die Tante direkt betrifft: „Der Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlich Gute war Aufruhr gegen die Güte. Güte selber ist die Deformation des Guten.“ Diese Deformation hat Lore Stefanek dann doch wohl vorgeführt. Wobei es nicht automatisch klar ist, nur weil es Adorno sagt, dass dann Hedda den Aufruhr-Part des Schönen hat oder die Romantik verkörpert gegen die Bürgerlichkeit, wie es bei Hans Mayer nahe gelegt wird. Wenn sich Hedda dagegen verwahrt, einen Lebensinhalt in einer möglichen Mutterrolle zu finden, dann ist das ja genau deshalb so schlimm, weil sie diesen offenbar mit jedem Lebensinhalt verwechselt, besser verwechseln will. Nur aus den Vorarbeiten Ibsens weiß man, nicht aus dem endgültigen Text, dass General Gabler seine Tochter völlig mittellos zurückließ, ihr Dünkel ist Rache auch am Vater. Sterben in Schönheit, hier ist nun tatsächlich etwas Vorvorgestriges - was für eine irre fixe Idee dieses sich langweilenden Wesens.

Tun übrigens am Ende, wenn Katharina Schüttler an der Wand lehnt mit Schläfenwunde, die drei auf der Bühne überlebenden Lars Eidinger, Annedore Bauer und Jörg Hartmann tatsächlich etwas verurteilenswert Unmoralisches, wenn sie ein vermutliches Sensationsmanuskript zu rekonstruieren versuchen, wo dieses Deutschland mit Eifer und Millionenaufwand Reißwolfakten puzzelt, nur um Akten zu rekonstruieren, deren zu erwartender Sensationswert gegen Null tendiert mit höchster Wahrscheinlichkeit? Die Schaubühnen-Inszenierung setzt auch auf Musik als Bedeutungsträger, verantwortlich ist Malte Beckenbach. Da ich schon vor vierzig und mehr Jahren die Beach Boys fürchterlich fand, noch mehr, als ich sie im Beat Club auch erstmals sehen durfte an meinem Zonen-Fernseher, entging mir die Brian-Wilson-Dimension des Abends völlig. Noch linker bin ich auf dem linken Bein getroffen, wenn es um eine Hiphop-Combo namens N.E.R.D. geht, von der der Geräuschpegel stammen soll, den statt der staubigen Ibsen-Klavier-Tanzmusik Hedda ihrem Selbstmordschuss vorhergehen lässt. Ich freue mich freilich ehrlich für alle, den Ohren und Nase aufgeht, die also keine, um noch einmal den Übersetzer beim Wort zu nehmen, musikalischen Vollpfosten sind. Wie ich offenbar. Ich schließe mit Otto Brahm, der am 18. Februar 1891 nach der Berliner Premiere der „Hedda Gabler“ im Lessingtheater resigniert optimistisch schrieb: „Auch wenn Hedda Gabler jetzt von der Bühne verschwindet, sie wird wiederkehren, sei's auch im neuen Jahrhundert...“ Bis heute setzt sie ihre erfolgreiche Wiedergängerei fort. Wunderbar das.
 www.schaubuehne.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround