Schiller: Kabale und Liebe; Schauspiel Leipzig

„... meine Louise Millerin hat verschiedene Eigenschaften an sich, welche auf dem Theater nicht wol passieren. Z. e. Die gothische Vermischung von Komischem und Tragischem, die allzu freie Darstellung einiger mächtiger Narrenarten und die zerstreuende Mannigfaltigkeit des Details.“ Das schrieb Schiller seinem späteren Schwager Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald am 27. März 1783 aus Bauerbach ins nahe Meiningen und man könnte verblüfft sein, wie genau er auf den Punkt zu bringen in der Lage war, was Bühnen und Kritiker dann auch tatsächlich verunsicherte oder gar abstieß. Was „gothische Vermischung“ genannt wird, hat seine bleibende Blüte bekanntlich bei Shakespeare gefunden. So nimmt es nicht Wunder, wenn Schiller ein paar Monate später, wiederum an Reinwald gerichtet, hofft, „daß meine Arbeiten sich dem Geschmak der Englischen Nazion mehr als dem Teutschen nähern, da ich ja ohnehin nach englischen Mustern gebildet bin.“ Das gehört immer noch ins Stammbuch als jener, die Schiller gern gegen Shakespeare stellen, dem Vorbild eines gewissen Karl Marx folgend oder unabhängig von ihm natürlich auch.

Die Leipziger Inszenierung des österreichischen Regisseurs Georg Schmiedleitner beginnt mit der Komik vom Zuschauer aus links vorn. Der Stadtmusikant Miller (Matthias Hummitzsch) versucht seiner Frau (Ellen Hellwig) beizubiegen, dass er gewillt ist, die aus seiner Sicht in jeder Hinsicht unpassende Beziehung der gemeinsamen Tochter Luise (Pina Bergemann) zum Major Ferdinand von Walter (Sebastian Tessenow) einem unvermeidlichen Ende zuzuführen. Der Gattin, wer seinen Schiller kennt, weiß es, ist die Beziehung ja gar nicht so unsympathisch, nebenher wirft sie sogar den einen oder anderen präsentablen Sachwert ab und schließlich gilt eine gute Partie klassen- und schichtübergreifend bis heute keineswegs als das schlimmste Schicksal, das einen oder eine treffen kann. Der Musikus pflegt durchaus deftigen Umgang mit der Gattin, er kneift ihr in den Hintern, worauf sie quiekt, und verbietet ihr schon mal lautstark das Wort, wobei er ob ihrer, nun ja, Einfalt, ja nicht ganz daneben liegt. Ellen Hellwig erinnert mehr als nur ein wenig an die hinlänglich berühmte Witwe Bolte, auf dem Weg zum Sauerkohle mag man sie sich sehr gut vorstellen.

Das Programmheft, es sei erwähnt, weil durchaus ungewöhnlich, verzichtet vollständig auf die sonst fast alle Programmhefte hemmungslos überfrachtenden und seine möglichen Leser überfordernden Oberschlau-Zitate aus den jeweils angesagtesten Hauptbüchern des feineren Feuilletons und bringt stattdessen ein sehr ausführliches Werkstattgespräch, welches der Dramaturg Matthias Huber mit dem Regisseur Georg Schmiedleitner führte. Wer es vorher liest, hat den Vorteil, manches auf der Bühne zu verstehen, was er sonst wohl schwerlich verstanden hätte. Ich beispielsweise gehöre zu jenen armen Tröpfen, die immer bewundernd zu jenen Kollegen und Kolleginnen aufschauen, welche ein Drittel bis die Hälfte ihrer Premierenbesprechungen mit Bühnenbilddeutungen füllen, was meiner offenbar angeborenen Begriffsstutzigkeit immerhin so weit hilft, dass ich anschließend weiß: Ach, das war das Bühnenbild, also die schwarze Schachtel hinten links oder die fahlgelbe Schräge vorne rechts. Und man kann Lacan darin erkennen, oder etwas späten Baudrillard mit der Philosophie des Als-Ob-Trotzdem als semidurchsichtiger Folie. In Leipzig besteht das Bühnenbild aus drei Drehscheiben, schwarz, welche sich auf einer großen Drehscheibe, schwarz, die man früher vielleicht etwas angestaubt Drehbühne genannt hätte, läufig oder gegenläufig drehen.

Diese sich drehenden Drehscheiben, nun kommt das Programmheft ins Spiel, symbolisieren Struktur, also gesellschaftliche Struktur, näherhin die gesellschaftspolitische Sprengkraft des bürgerlichen Trauerspiels: „Ganz einfache Vorgänge eigentlich, aber diese Bühne zeigt so sehr, dass die Maschine Gesellschaft die Menschen auch von außen bestimmt.“ Es mag gelernte DDR-Bürger älteren Semesters geben, denen solches Gesellschaftsbild die Haare zu Berge stehen lässt, weil ein gewisser Karl Marx mit einem gewissen Friedrich Engels einen nicht unerheblichen Teil ihrer Geisteskräfte darauf verwendet hatten im neunzehnten Jahrhundert, das Mechanistische auch im materialistischen Weltbild ihrer Vorgänger zu korrigieren. Darunter auch einen wie von La Mettrie, der mit seinem „L'homme machine“ (1747) in die Geschichte einging als Lästerer und Provokateur auf wackliger philosophisch-anthropologischer Grundlage. Freilich kann man auf Drehscheiben prima laufen, ohne vorwärts zu kommen und verschwinden, wenn man stehen bleibt, wobei man, wenn man die passende Zeit durchhält, ja wieder an der Stelle auftaucht, die man kürzlich verließ. Kombiniert ist das Bühnenbild von Harald B. Thor mit einer speziellen Lichtregie, welche dafür sorgt, das die Bühne überwiegend dunkel bleibt, weil das Licht in Richtung Zuschauerraum gerichtet ist. Und so für mächtige Schatten an den Seitenwänden sorgt.

Die Vorstellung, die ich sah, war zu fast hundert Prozent mit Schülern gefüllt, die wenigen Erwachsenen wohl Lehrer und Lehrerinnen, was zu relativ regelmäßigem Aufleuchten von Displays in den Reihen sorgte, zu mancher an den Mund geführten Anderthalb-Liter-Flasche und zu fortgesetztem sehr leisen Flüstern. Immerhin, es ertönte nur einmal ein Klingelton, ansonsten hatte der Nachwuchs seine Kommunikationstechnik gut im Griff. Unbelastet von philosophischen Geschichts- und Gesellschaftsbildern aus grauer Vorzeit folgte man dem Geschehen, lachte an Stellen, wo sicher nur diese Generation, vor allem aber dieses Durchschnittsalter lacht. Wenn sich Lady Milford (Julia Berke) vorübergehend oben ohne zeigt etwa, ehe sie sich von Sebastian Tessenow in das aufwendigste Kleid des Abends helfen lässt. Vorher sah, wir sind bei den Kostümen von Klaus Bruns, diese Lady ein wenig nach Lola Blau aus, zeigte Strapsenverruchtheit unter weißem Hemde, bei der man nicht ewig überlegen muss, was da jetzt eben symbolisiert wird. Wer seinen Schiller kennt, weiß, dass da mehr Rolle als Essenz aufscheint, spätestens mit der Erzählung ihres englischen Schicksals erfährt aber auch der Zuschauer fast alles, der seinen Schiller nicht kennt. Diese Lady Milford ist nicht, was sie scheint, ihr Pech ist eben nur, dass sie grerade diesen Ferdinand liebt, welcher sich an Luise gebunden hat. Mir war die starke Julia Berke ein winziges bisschen zu stark.

Der einst sehr berühmte Eduard Genast (1797 bis 1866), der von 1829 bis 1864 zum Weimarer Hoftheater gehörte, sah im Mai 1847 Karl La Roche (1794 bis 1884) in Wien am Burgtheater in der Rolle des Sekretärs Wurm. „Er verschmähte alle die Faxen, die so manche Darsteller dieser Rolle anbringen, indem sie womöglich vor dem moralischen Auge des Publikums mit zwei Pferdefüßen und doppelter Hahnenfeder erscheinen.“ Dieser offenbar ziemlich alten und trotzdem löblichen Rollenauffassung folgte auch Dirk Lange in Leipzig, er dämonisierte nicht, der mittlerweile zum Kostümstandard des Secretare gehörende ärmellose Strickpullunder, der den Bürospießer anzeigt wie der Irokese auf dem Kopf den Punk, hätte das auch konterkariert. Das forciert unservile Auftreten des Mannes gegenüber seinem Dienstherrn, dem Präsidenten von Walter (Andreas Keller), Vater des Ferdinand, sah vor fast 140 Jahren Theodor Fontane schon einmal in der Darstellung des damaligen Wurm Richard Kahle (1842 bis 1916), der übrigens vom Leipziger Stadttheater ans Königliche Schauspielhaus nach Berlin verpflichtet worden war. Fontane: „... ich möchte aber doch anheimgeben, ob das so Gewollte auch das richtig Gewollte ist. Gewiß hat die Gestalt von Anfang an etwas Herbes, aber er darf darüber die Sekretärgeschmeidigkeit nicht verlieren.“

Die berühmte Diktierszene, was sah man da nicht alles schon in jüngerer Zeit inklusive beschriebener Bäuche, findet in Leipzig auf der großen Drehscheibe statt. Luise, die Erpresste und verlogen Bedrohte, schreibt mit Kreide am Boden liegend auf den schwarzen Rand der runden Fläche, während Wurm seine Zudringlichkeit bis zur Betatscherei steigert und erst von der von Pina Bergemann mit beherrschtem Ekel vorgetragenen Ankündigung, ihn in der Brautnacht zu erwürgen und sich anschließend wonnevoll aufs Rad flechten zu lassen, in seinem notgeilen Eifer bremsen lässt. Die arg mangelnde Heimlichkeit dieses Briefes, den bei Schiller ja der vorgeschobene Adressat Hofmarschall von Kalb (Jonas Fürstenau) für Ferdinand auffällig zu verlieren hat, muss der Zuschauer für sich deuten, falls er Lust dazu hat. Fürstenau verzichtet nicht komplett auf die landauf, landab an die Kalb-Rolle geheftete Tuntigkeit, warum er freilich erst über die Geschichte mit dem Konkurrenten motiviert werden muss, erschließt sich in der Leipziger Spielfassung nicht zwanglos, die das Angebot eines Kabinett-Stückchens ausschlägt, das immer denkbar bleibt, aber die Gewichte unnötig verschieben würde. Überhaupt ist dieser Hofmarschall nahezu überflüssig, wenn er so unexponiert bleibt, wie hier. Für ganz überflüssig hielt Regisseur Schmiedleitner den Kammerdiener, was inzwischen so oft geschieht, dass ein Verbleib der Rolle im Stück fast überraschender ist als ihre Streichung. Dieser Strich beraubt immer auch die Lady Milford, die doch alles Zeug dazu hat, ihrer Darstellerin beste Chancen zu großem Spiel zu geben.

Nur weil der Passus in einer Besprechung von „Kabale und Liebe“ zu finden ist, die in diesem Jahr 200 Jahre alt wurde, sei er zitiert, der Verfasser war kein Geringerer als Clemens Brentano, der dem Theater weit verbundener war als heute weithin geglaubt: „Eine gute Aufführung aber nenne ich eine solche, in welcher alle Schauspieler in gleichem Grade wahr, deutlich, bestimmt und scharf spielen. In einer guten Aufführung kann keinem einzelnen Schauspieler geklatscht werden, sondern nur der ganzen Darstellung am Schlusse...“.  Man darf sich aussuchen, ob hier die Betonung auf der Gleichheit allein, oder auf einer Gleichheit auf höchstem Niveau liegt. Die Leipziger „Kabale und Liebe“, die am 15. Februar diesen Jahres ihre Premiere hatte und den Auftakt einer kleinen Schiller-Reihe darstellt, die am 31. Januar 2015 mit der Premiere von „Maria Stuart“ fortgesetzt wird, alle drei Inszenierungen liegen in den Händen von Georg Schmiedleitner, verlor ihre Qualität nicht durch das Herausragen oder starke Abfallen einzelner Darsteller, als Ensembleleistung ist das etwas. Dennoch bleibt Uneingelöstes, wobei der Regisseur in seinem Werkstattgespräch mit dem Dramaturgen deutlich macht, dass er sich dessen von Beginn an bewusst war. Das ist lobenswert ehrlich. Mir brachte der schwebende Schlagzeuger Paul Tetzlaff nicht den Effekt, den sich die Regie offenbar versprach. Der wiederholte Ruf „Vater! Vater! Vater!“ des Sohnes Ferdinand beendet den Abend nach ziemlich genau zwei Stunden. Ich freue mich nun auf „Maria Stuart“.
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