Schiller: Maria Stuart; Schauspiel Leipzig
Der feste Boden, den Maria Stuart zu Beginn dieser Inszenierung unter den Füßen hat, ist leicht schwankend: Sie hängt, als Gefangene eines Käfigs (Bühne: Harald B. Thor) an der Decke. Sie verursacht, außer dem wilden Geschrei, mit dem sie im Verlaufe des Abends nicht allein bleibt, seltsame Geräusche, deren Ursache sich bald auf die Bleischuhe zurückführen lässt, die ihr Gehen behindern, ihre Flucht zu verhindern haben. Sie trägt nur ein Hemd (Kostüme: Cornelia Kraske) und sie ist blond. Wer vor Vorstellungsbeginn ins Programmheft geschaut hat, in dem die Königinnen traditionell schwarzhaarig und rothaarig zu sehen sind, nur eben vertauscht, weiß: hier ist vor der Premiere noch einmal am optischen Konzept gedreht worden. Beide Kontrahentinnen, Bettina Schmidt als Elisabeth und Anna Keil als Maria, sind nun blond. Mag sein, dass die Haarfarbe den Inszenierungsabsichten von Regisseur Georg Schmiedleitner als Klischee erschien und in der Tat wäre sie genau dann so deutbar, wenn nicht die historischen Vorbilder beider Frauen eben so ausgesehen hätten. Nur deshalb wurden sie immer wieder so dargestellt und nicht anders, obwohl es dafür natürlich keinen zwingenden Grund gibt, denn auch bei Schiller ist „Maria Stuart“ kein historisches Dokumentarspiel.
Wer einen klassischen Fünfakter auf eine Spielzeit von neunzig bis hundert Minuten pressen will, muss radikal streichen. Auch Georg Schmiedleitner wählt diejenige Radikalkur, die dabei seit einigen Jahren als die offenbar erprobteste gesehen wird: das gesamte Personal der Maria ist komplett gestrichen, sie hat weder ihren Haushofmeister noch ihren Arzt, weder ihre Amme noch ihre Kammerfrau. Die würden zu einer Königin im Käfig zwar kaum passen, aber die Königin von Schottland passt selbst nicht in den Käfig, der frei erfunden ist. Maria Stuart ist bei Schiller Zwangsgast von Amias Paulet, den Denis Petković spielt in Leipzig, während Drugeon Drury, der zweite Hüter und Mittäter beim anfänglichen Erbrechen der Privatschatullen der Königin, der Strichfassung geopfert wurde. Wo keine Hanna Kennedy, da keine Exposition des Dramas, die schreiende Maria im Käfig setzt im Grunde voraus, dass der Zuschauer schon weiß, warum sie schreit. Paulet muss, da auch Staatsrat Davison gestrichen ist, dessen Part am Ende übernehmen, der wohl doch unverzichtbar erschien. Er ist dann das Opfer des schlechten Gewissens der Königin Elisabeth, das er bei Schiller natürlich nicht ist. Bei dem steht er eher für Rechtsstaatlichkeit.
Dass ich eingangs nicht zufällig bei vermeintlichen Nebensächlichkeiten anhielt, erhellt aus der Besetzung der Rolle des Großschatzmeisters William Cecil, Baron von Burleigh, mit Anne Cathrin Buhtz. Solche Ideen sind einfach zu abgenutzt, um noch die geringste Überraschung auszulösen, eine Lady Burleigh, die vielleicht das Böse, das Demagogisch-Ideologische auf spezielle, auf weibliche Art hätte verkörpern können, ist wohl gut denkbar, in Leipzig aber nicht getroffen worden. Die Regie hat etwas geschafft und zwar durchgängig geschafft, was rein dramaturgisch als Leistung angesehen werden darf, der Wirkung des Dramas aber Kraft und Tiefe nimmt: sie hat durchweg die Charaktere verkleinert. Sollte diese Elisabeth tatsächlich die mächtigste Frau der Zeit gewesen sein, die sich Gedanken macht über die Freiheit von Königen, die Abhängigkeit von Volkes Mutwillen, die sich in einen offenbar unwürdigen Mann verliebt (Andreas Keller als Leicester), die zwischen Staatsraison und Privatheit auf höchstem Niveau hin und her gerissen ist? Man kann eine solche Königin nicht über die Spielfläche laufen lassen mit Catwalk-Schulterbewegungen, „Maria Stuart“ ist nicht die Fashion Week. In den Kostümen der Männer setzt sich das fort: Was symbolisieren die monochromen und je zu engen Anzüge bei Leicester, Paulet und Mortimer (Felix Axel Preißler), soll das bürgerliche Gewöhnlichkeit sein? Immerhin ist Graf Aubespine, der französische Gesandte, der die eheliche Verbindung Frankreichs mit England sondieren und fixieren soll, klischeefern mit Fliege angelegt (Sebastian Tessenow).
In ziemlich dichten Abständen, es mag an der fünften Jahreszeit liegen, dass mir dabei sofort das Tätätätätätä der üblichen Büttenabende nach jedem tatsächlichen und vor allem nach jedem vermeintlichen Gag einfiel, wurden Geräuschakzente gesetzt, die mehr Dramatik in jedem einzelnen Einsatz simulierten als der ganze Abend ohne Pause hatte. Die jeweils kurze Verdunkelung der Bühne kaschierte keine Umbauten, oft nur geringfügige Positionswechsel der Darsteller, aber es klang jedesmal wie das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Zwölftontechnik mit Höllenmusik.
Das statuarische Spiel der Darsteller mit meist unbewegten Mienen, selbst wenn sie gerade Text hatten, wurde lediglich und dann um so auffälliger dem Gesamtgestus des Abends widersprechend von dem Panik und Angst und Verlogenheit spielenden Andreas Keller konterkariert. Mit dem wohl ganz und gar ungewollten Ergebnis, dass undenkbar scheint, dass zwei große Königinnen diesen Lappen lieben, dem seine Haut näher ist als sein Hemd. Auch der übereifrige Mortimer ist vielleicht der junge Mann, der sich über Maria hermachen zu dürfen glaubt, aber nie im Leben muss den eine Elisabeth erotisch anmachen, um zu erreichen, was sie will.
Dann ist da noch Shrewsbury, George Talbot, Graf von Shrewsbury (Tilo Krügel), der im Rollstuhl sitzen muss und so von der nach vorn zum Parkett abfallenden schwarzen Spielfläche mit ihren aufklappbaren Teppichstangen zu körperlicher Hochleistung gezwungen ist. Die große moralische Instanz, die er bei Schiller hat, die Integrität, die Souveränität dem Thron und seiner absoluten Inhaberin gegenüber, die vermochte Krügel kaum zu zeigen, von Weisheit zu schweigen. Die sieht, und nicht nur im Klischee, anders aus. Auch in Leipzig läuft das Spiel natürlich auf die zentrale Szene der Begegnung beider Königinnen zu, Maria wird von Paulet, ja was eigentlich, gewaschen, ehe sie ihre Bleischuhe verlassen darf und barfuß hinaus aus dem Käfig. Mit der Nachricht konfrontiert, dass ihr Wunsch, die königliche Schwester zu sehen, jetzt gleich erfüllt werde, zeigt Anna Keil, was die Rolle ihr verdanken könnte, müsste sie nicht immer schreien, dürfte sie spielen. Da auch Bettina Schmidt ihre stärksten Momente in den stillen Augenblicken hatte, wenn sie Nachdenklichkeit zeigen konnte, Skrupel, Schwäche, ja Hilflosigkeit und Anlehnungsbedürfnis, kann vermutet werden, es habe vor allem die Regie ein Problem gehabt.
Die Leipziger „Maria Stuart“ endet mit dem Ruf der Königin Elisabeth: „Graf Leicester?!“ Die berühmte Schlusswendung: „Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.“ hat keinen Sprecher, denn der Graf Kent, der sie zu sagen hätte, ist selbstverständlich gestrichen. Es gab dennoch wilde Bravo-Rufe bei einem Teil des Publikums zum Schluss. Über den Schiller wohl seine Locken geschüttelt hätte. Was hätte ein auch nur vereinzeltes Bravo verdient? Shrewsbury mit Megaphon? Maria, die mit dem Rücken zum Publikum das Hemd aus-, ein leuchtend rotes Kleid anzieht? Die singend abgehende Elisabeth? Die dreimal Maria gegen den Hinterkopf schlagende Lady Burleigh? Das Blut an den Händen Leicesters, als Mortimer sich selbst getötet hat? Leicester, der den Hasenfuß auf den Brief stellt? Der am Arm der Königin Elisabeth leckt? Die sagt: „Ich will euch heute keinen Wunsch versagen.“? Die französische Passage, in die Mortimer verfällt? Die gedoppelte Projektion des Gesichts, für sich genommen eindrucksvoll, aber im Ganzen ein purer Fremdkörper?
Leider oder zum Glück sind tatsächliche Inszenierungen auf der Bühne selten bis nie die einfachen Umsetzungen formulierter Programmatik der Regie. Auch im zweiten Programmheft der kleinen Leipziger Schiller-Reihe, „Kabale und Liebe“ war der Start, das dritte Stück in der Spielzeit 2015/16 wird noch nicht verraten vor der Pressekonferenz, gibt es ein Interview mit Georg Schmiedleitner, dessen Kernaussagen ich auf der Bühne nicht sah. Sie klingen interessant, wollen die Aktualität mit heutigem Vokabular beschwören. Fast jeder These ließe sich ohne viel Mühe widersprechen. Wenn, wie behauptet, Maria Stuart der emotionale Kern des Stückes ist, der Titel kommt schließlich nicht von ungefähr, dann wäre natürlich Emotionalität zu zeigen und zwar in Interaktion nicht nur mit der gegnerischen Seite, das macht in sich schon einseitig. Da fast alle Personen des Stückes das Schreien als Ausdrucksmittel benutzen, ist eine etwas beschränkte Vorstellung von Emotionalität nicht völlig auszuschließen, wenn nicht sofort die Beschränktheit der spielerischen Mittel zitiert sein soll. Und sollte nicht ein Stück, dass als weniger handlungsbezogen gesehen wird, gerade deshalb dynamisiert werden, wo immer es sich anbietet? Wer andere Inszenierungen von „Maria Stuart“ sah, gute und weniger gute, weiß, wie viele Gelegenheiten der Schiller-Text zwanglos liefert. Sollte Georg Schmiedleitners dritter Schiller in Leipzig nicht deutlich stärker ausfallen als seine „Kabale und Liebe“ und diese „Maria Stuart“, müsste sein Engagement für die kleine Reihe etwas voreilig genannt werden.
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