Lessing: Emilia Galotti; Deutsches Theater Berlin, auf DVD
„In achtzig Minuten um Lessings Welt“ war Irene Bazingers Nachruf auf Michael Thalheimers Inszenierung der „Emilia Galotti“ am Deutschen Theater Berlin überschrieben. Am 11. Juli 2009 verabschiedete sich das historische Theaterereignis mit Live-Übertragung auf den Vorplatz und anschließendem großen Theaterfest. Da waren fast acht Jahre nach der Premiere vergangen. Mehr Ruhm heimsen Inszenierungen selten ein, auch wenn manche länger laufen. Bazingers Beitrag in der „Literarischen Welt“ illustrierte die vielleicht eindrücklichste Szene des ganzen Spiel im kargen Bühnenraum aus nichts als kahlem Holz: Nina Hoss als Gräfin Orsina küsst Ingo Hülsmann als Marinelli, sie tut, was man in manchen Milieus zu manchen Zeiten „zu Boden knutschen“ nannte. Wer im Lauf der Jahre im ruhmreichen Haus diese „Emilia Galotti“ sah, hatte einen Vorteil nicht, den alle haben, die sich das Erlebnis ins Haus holten, indem sie sich die DVD kauften, die auf der Basis einer Fernsehaufzeichnung für den einstigen Theaterkanal entstand, mit Bonusmaterial.
Dieser Vorteil hat einen schon genannten Namen: Nina Hoss. Denn die Fernsehkamera kann, was das Auge selbst von den besten Plätzen im Parkett aus nicht kann: Großaufnahmen. Man sieht eine Darstellerin, von der man, wenn man nicht ausschließlich im Mustopf rudert, weiß, dass sie eine geniale ist. Doch gerade deshalb macht es ein kaum zu übertreffendes Erlebnis, eben ihr Gesicht bildschirmfüllend zu sehen. Was sie mit diesem Gesicht sagen kann, ohne ein Wort sagen zu müssen, das haut einen einfach auf die sprichwörtlichen Bretter, die in diesem Fall nicht die Welt bedeuten. Da landen auch die anderen Spielbeteiligten des Abends nur auf den Plätzen, so gut sie sind oder sein dürfen. Letzteres muss betont werden. Weil Regisseur Michael Thalheimer seine Schnellsprech-Redux-Fassung eben absichtsvoll so anlegt, dass ein Ausspielen, um nicht zu sagen, ein herkömmliches Ausspielen der Szene, weder erwünscht noch möglich ist. Thalheimer hat außer sich selbst auch andere Nachahmer in diesem Verfahren gehabt. Und nebenbei gesagt, es nutzt sich ab. Der Skandal von einst wird in schnelllebigen Zeiten schneller zur nervigen Reprise, als mancher hofft und viele mit Wonne begrüßen.
„Emilia Galotti“, das späte bürgerliche Trauerspiel von Gotthold Ephraim Lessing mit seinem völlig untürkischen Ehrenmord am Ende ist ein Drama, von dem schon Friedrich Torberg vor fast sechzig Jahren meinte, dass an ihm aus der einen Perspektive gar nichts, aus der anderen aber alles stimme. Der Befund ist ohne Zusatz zitierbar. Thalheimer hat den väterlichen Mord an Tochter Emilia gestrichen. Odoardo Galotti (Peter Pagel) verlässt den Raum, Emilia Galotti (Regine Zimmermann) verschwindet zwischen tanzenden Paaren im Hintergrund der immer dunkler werdenden Spielfläche. Man konnte seinerzeit und kann bis heute über Thalheimer immer wieder einmal den Begriff vom Eindampfen finden. Das Verfahren, wörtlich verstanden, entzieht Flüssigkeit, im Bild zu bleiben hinterlässt es eine kaum vermeidliche Saftlosigkeit. Auch von Skelettierungen war zu lesen, was in Zeiten omnipräsenter Pathologiedarstellungen in allen Krimivarianten niemanden mehr erschreckt oder erschüttert, es ekelt einen bisweilen und soll das wohl gar.
Das Verfahren Thalheimers hat vor allem einen Verarmungseffekt, ob das Gestrichene nun Fleisch vom Knochen oder was auch immer ist. Man muss nur den ersten Akt im Lessing-Original hernehmen, in dem der Maler Conti eine tragende Rolle spielt. Das ist, wenn er fehlt, Verlust an Substanz, wie immer sie begründet wird. Es darf selbst die unheilige Scheu vor dem zu Tode gerittenen Zitat sein. Wenn freilich die eine der möglichen Inszenierungsideen die zeitliche Beschränkung eines Theaterabends auf Spielfilm-Normallänge ist, dann müssen entweder maßgerechte neue Stücke geschrieben werden (oder Romane das Schlachtopfer spielen) oder aber die so genannten Klassiker verwandeln sich in eine Art dramatischen Dörrobstes, von dem man weniger zu sich nimmt, es dafür umso länger im Mund behält (das Bild ist schräg, aber nicht ganz unglücklich). Das Booklet zur DVD hat gleich auf der ersten Textseite nach dem Vorwort des Herausgebers ein Zitat von Johann Heinrich Merck.
Merck, Jugendfreund und Partner aus Sturm- und Drang-Zeiten Goethes, gern und wenig zutreffend dennoch als Vorbild für die Figur des Mephisto verrufen, verteidigt in diesem Zitat die Sinnlichkeit als Rausch. Es lässt sich und soll das wohl auch als Apologie des Hettore Gonzaga, Prinzen von Guastalla lesen und wer Sven Lehmann in dieser Rolle agieren sieht, der hat bis zum Ende der achtzig Minuten den Eindruck, genau das vorgeführt zu bekommen. Die geringere Kunst wäre ja, diesen Prinzen als Sozialphänomen einer bestimmten Gesellschaftsverfassung, hier des kleinteiligen Spätabsolutismus zu sehen, dessen Lasterhaftigkeit revolutionäre Impulse im Parkett wecken möge. Die Inszenierungsgeschichte des Trauerspieles im real existierenden Sozialismus zeigt, dass man dieser Wunschlesart tendenziell vulgärsoziologischen Zuschnitts dennoch misstraute, man nahm lieber den Nathan oder die Minna, da konnte weniger zur Minna gehen. Lehmanns Prinz heuchelt seine Gefühle nicht, sie sind echt, ihr Mangel an Dauerhaftigkeit spricht eben nicht gegen ihre Echtheit. Er ist nicht ohne Gewissen, er ist nicht ohne die Blindheiten jeglicher Leidenschaft, die Lessing als Mensch und Aufklärer selbst verurteilte.
Und Emilia? Man möchte die an der bösen Intrige mit Todesfolge für den Bräutigam Appiani (Henning Vogt) scheiternde Ehe mit Ausblick auf ein bukolisches Landleben in erster Näherung als Vernunftehe titulieren. Solche halten in besonderen Umständen manchmal siebzig Jahre, während den Leidenschaftlichen nach ihre dritten Scheidung das Hospiz winkt in Ermangelung von Angehörigen ersten Grades, die die Hand halten, wenn es so weit ist. Man sollte also keineswegs mit der Munterkeit früher Jenaer Romantik alles mit Vernunft vor dem Bindestrich schlechtreden. Dennoch und das ist ja eher das Problem Emilias, ist unterdrückte Sinnlichkeit immer noch Sinnlichkeit. Regine Zimmermann brüllt es heraus, das mit dem Fleisch und den Sinnen und wir dürfen sogar bescheiden vermuten, dass der Protestant Lessing ganz unökumenisch eher katholisches Sündendogma vor Augen hatte als die eigene rationalistische Beschränktheit. Emilia ist berührt von den Verführungsversuchen des Prinzen und kann das Berührtsein in sich nicht unterdrücken.
Hier hat die Inszenierung Stärken, die frappieren. Diese Gesten-Choreographie der ausgestreckten Arme, Hände, Finger, diese Berührungen, die selten tatsächliche sind, da ein Augenwinkel, dort ein Augenwinkel, so übertrugen Goethe und Charlotte von Stein Küsse per Kanarienvogel-Schnabel. Der Prinz ist fasziniert von seiner eigenen Hand, die die Figur Emilias nachzeichnete, er riecht an sich nach Spuren der Nähe. Aber auch Marinelli offenbart in der Szene mit der Orsina sein nur unvollständig unterdrücktes Berührtsein. Es wird nicht platt, auch nicht, als er am Boden liegt. Vor allem seine Auftritte sind von Lachern des unsichtbaren Publikums der Fernsehaufzeichnung begleitet, weil er den Marinelli mit etwas zeigt, was man früher Verfremdung nannte. Ingo Hülsmann und Nina Hoss loten, Phrase leider, aber wahr dennoch, am weitesten aus, was ihnen die Regie ließ. Katrin Klein als Claudia durfte am wenigsten. Hätte ich nicht gelesen, welchem Film die Musik entstammt, auch die Art der Kostüme, dann wäre mir nichts entgangen, diese Art postmoderen Zitierwesens ist auch nur modern und exkommuniziert in gewisser Weise alle, die nicht jedem jeweils aktuellen Kultfilm jedes fernöstlichen Kultregisseurs hinterher eilen.