Max Frisch: Andorra; Landestheater Coburg

Programmhefte haben nicht immer sehr viel mit der Inszenierung zu tun, der sie gelten. Oft dienen sie als Belesenheitsnachweis der Dramaturgie mit akutem Zeitgeisthang. Dem steht im Falle von „Andorra“ in Coburg zweierlei entgegen. Erstens ist es kein Heft, die sind dem Großen Haus vorbehalten. Zweitens stehen die drei Texte von Max Frisch selbst, von A. L. Kennedy und von Wolfgang Benz, dem 1941 geborenen Zeitgeschichtler, dem in fast modellhafter Weise der Status des Umstrittenseins zukommt, in bestenfalls vermitteltem Zusammenhang mit „Andorra“. Der Name des Stückes jedenfalls und sein Inhalt, wie er sich bei Max Frisch seit 1961 findet, kommen darin nicht vor. Dass die 1965 geborene Schottin A. L. Kennedy Betroffenheit angesichts eines ertrunkenen syrischen Kindes empfindet und dies öffentlich macht, ist nachvollziehbar. Dass ein Zeitgeschichtler das Paradigma der Unvergleichbarkeit des Holocaust angreift, indem er Vergleiche zieht, die natürlich immer möglich sind, ist ein ebenfalls natürliches Phänomen des Wissenschaftsmarktes. Sein in Coburg verwendeter Text „Vom Vorurteil zum Feindbild“ hat jedoch eine böse Tücke. Er ist in seiner vorgezeigten abstrakten Allgemeinheit auch auf Rechtsextreme anwendbar, denen gegenüber das Vorurteil längst zum weithin akzeptierten Feindbild mutierte. Gewollt?

In welches krude Koordinatensystem stellt sich Regisseur Michael Götz (Jahrgang 1982), zu dessen Sozialisierung sicher auch der Schulstoff „Andorra“ gehörte, der früher, wie ich las, von Hunderten von Schultheatergruppen aufgeführt wurde und im Westen wohl die Effekte erzielte, die im Osten „Die Gewehre der Frau Carrar“ von Brecht bewirkten. Darf man deshalb aber einem der auch international erfolgreichsten deutschsprachigen Theatertexte der Nachkriegszeit die Kernsubstanz rauben zugunsten einer vermeintlich noch allgemeineren Kernsubstanz? Das Wort Jude fällt in Coburg kein einziges Mal. Eine Premierenbesucherin war nach den knapp anderthalb Stunden zu der Überzeugung gelangt, dieser Andri sei stigmatisiert und schließlich getötet worden, weil er ein „Schwarzer“ war. Kann einer Inszenierung von „Andorra“ Schlimmeres geschehen als solches Missverstandenwerden? Das Konzept taugt nichts, heißt das, obwohl seine Ansätze in mehr als einem Detail durchaus nachvollziehbar sind. Götz lässt sein Ensemble am Ende den Anfang noch einmal spielen, textidentisch, und jeder versteht, was gemeint ist. Nur der blutige Andri steht jetzt vorn mit dem Sack über dem Kopf. Hat jeder in der Reithalle verstanden: Andorra ist überall? Sollte das überhaupt so verstanden werden?

Das Spiel selbst überzeugte fast durchweg, mit einer allerdings gravierenden Ausnahme: Nils Liebscher war ein katastrophaler Lehrer. Dieser Vater und Lehrer, der bei Frisch einst fast ein Revolutionär war, der mit einer Frau aus dem Land der Nachbarn einen Sohn zeugte, den er zu Hause glaubte verleugnen zu müssen, war weder als Typ noch als Persönlichkeit auch nur in irgendeiner Phase glaubhaft, selbst in Andorra sollte doch ein trinkender Lehrer nicht wirken wie ein vom Unkrautjäten heimgekehrter Kleingärtner mit schlecht sitzender Perücke. Und überhaupt: den Betrunkenen zu spielen, scheint mittlerweile auf mehreren Bühnen so schwer, dass man rufen möchte, halt Dich doch einfach gerade, Kumpel, so steifbeinig stakt und wankt und schwankt niemand, es sei in der Schmierenkomödie. Auch Ingo Paulick als Soldat sah im Suff eher peinlich als komisch aus. Er hatte überhaupt zu lange die Alpha-Rolle in der vermutlich überzeugten Regieabsicht, so wäre die täuschende Normalität des andorranischen Alltagslebens rund um den Marktplatz mit seinen zum Sankt-Georgs-Tag frisch geweißelten Häusern am treffendsten zu übermitteln. Mit diesem lockeren und dreisten Burschen flirtet selbst eine Andri versprochene Barblin in aller Arglosigkeit.

Mehr als fünfzig Jahre nach der Züricher Uraufführung sind, könnte man glauben, alle Tiefen und Untiefen des Max-Frisch-Textes ausgelotet. Man meint zu wissen, wie Barblin starten muss, um dann nicht ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Frisch selbst hat bei den Proben erst einen Schrei gehabt, ihn dann gestrichen und schließlich wieder aufgenommen, nur zu einem anderen Zeitpunkt. In Coburg gibt es keinen Schrei. Und doch wirkt, als der Soldat Barblin von hinten packt und ihr den Mund zuhält und ihre Arme plötzlich schlaff hängen, ganz stark.  Der Pfarrer reibt die Hände, als wüsche er sie non stop in Dauerunschuld, er bekennt als einziger Schuld. Nur woran eigentlich? Das Abstrahieren der Regie vom Antisemitismus, um den es eben auch im Modell „Andorra“ geht, wenn es als Modell gesehen und gespielt wird, bewirkt keine Weiterung, sondern verengt. In den frühen Jahren nach der Uraufführung haben sich mit guten Gründen gute Köpfe dagegen verwahrt, den Judenhass als Beispiel für was auch immer, gar ausschließlich als Beispiel gezeigt zu bekommen. Sie ließen den Einwurf nicht gelten, dass Juden noch als Opfer zwingend das auserwählte Volk Gottes sein wollen und deshalb gegen jeden Vergleich mit Militanz auftreten.

Denn wenn Michael Götz schon meint, das Judesein als Spezialfall beliebigen Andersseins auf die Bühne bringen zu müssen, dann sollte er auch konsequent all das streichen, was im Text eben auf das Judesein und nichts anderes bezogen ist. Die Deutschheit der Vorurteile, die zum Feindbild werden, ist bei Frisch zwar nicht als solche gekennzeichnet, wohl aber erhalten. Es war ja der Deutschschweizer Frisch, der viele Jahre, wenn nicht sein bewussten Leben nach dem Krieg lang, von der Frage umgetrieben wurde, was gewesen wäre, wenn die Deutschen wie die Schwarzen in Andorra einmarschiert wären. Wie hätten sich die Musterknaben der Freiheit, der Demokratie verhalten? „Andorra“ zeigt, wie die wohlanständigen, nur ihren Geschäften lebenden Andorraner, als es so weit war, diesen andersartigen Andri dem Soldaten Peider ausliefern, indem sie seine Flucht verhindern. Michael Götz hat die Möglichkeit ausgeschlagen, eine nachgelagerte Perspektive in den Vordergrund-Szenen des Frisch-Textes, im Stil epischen Theaters zu inszenieren. Er hat auch nicht den Versuch wiederholt, den es gab, alles als Tribunal mit Rückblicken zu spielen. Er entschied sich für eine in blaues Licht getauchte Konzentration aller Vordergrund-Szenen Frischs in einer einzigen mit Rache-Vision, in der Andri seinerseits alle umbringt.

Farben spielen in dieser Inszenierung eine wichtige Rolle (Bühnenbild und Kostüme Till Kuhnert). Das weiße Andorra mit ausschließlich blonden Andorranern, die Landesfarben Rot und Weiß immer wiederkehrend: rote Gürtel, rote Krawatten, rote Schnürsenkel in weißen Schuhen, weiß-rotes Klebeband am Boden, eine weißrote, von Anfang bis Ende funktionslose Stange wie ein Schlagbaum an der Seite. Überraschend dann die Mutter aus dem Nachbarland im knallroten Kleid. Da ist viel Schweiz im Andorra-Spiel, rein farblich, während Señora ja eher an ein nachbarliches Spanien gemahnt, was bis heute übrigens niemandem auffallen will, obwohl auch in Spanien „Schwarze“ herrschten, die allerdings wie die „Schwarzen“ Italiens nie durch forcierten Antisemitismus auffielen. Doppelrollen halten den Personalaufwand in der Reithalle in Grenzen. Kerstin Hänel ist die Gattin des Lehrers, die sich ehrlich freut, als Andri etwas ungelenk um die Hand der Barblin anhält, und sie ist der Wirt, der schon mal skrupellos für 50 Pfund des Lehrers Grundstück kauft, damit der den raffgierigen Tischler für die Lehrstelle bezahlen kann, die Andri haben soll. Eva Marianne Berger ist die Señora und der nationalistische Doktor, Thomas Straus der Tischler und der Jemand, dessen Rolle in Coburg nicht gestrichen und dennoch vollkommen unplausibel bleibt.

Auch Ingo Paulick hat neben dem Soldaten noch den Gesellen zu spielen, diesen fast klarsten moralischen Versager der Inszenierung, der es unwidersprochen zulässt, für den guten Stuhl des Lehrlings Andri gelobt zu werden, während sein eigenes Bruchstück dem anderen in die Schuhe geschoben wird, ohne dass sich der Tischler auch nur eine Spur um die Wahrheit kümmert. Wo der Jude nicht einmal im Wort vorkommt, gibt es natürlich auch keine Judenschau, Die diffizilste Szene aus Frischs „Andorra“ ist komplett eliminiert, es gibt danach auch den Wahnsinn Barblins nicht, die die verbliebenen Schuhe Andris auf dem Markt stehen lassen möchte, wenn der wieder kommt. Bei Frisch weißelt Barblin ja nicht am Ende wieder ihr Elternhaus wie am Anfang, sondern das Pflaster des Marktplatzes, auf dem die Judenschau stattfand. Einerseits ersparte sich die Regie damit die im Ur-Text angelegte Unstimmigkeit, wieso der „bekannte“ Jude Andri noch eigens an seinen nackten Füßen erkannt werden muss, andererseits verzichtete sie auf einen starken Akzent. Benjamin Hübner und Sarah Zaharanski als Andri und Barblin loteten ihre Rollen so weit aus, dass vom missratenen Konzept nicht lediglich gesagt werden muss, es zog alles in Mitleidenschaft.
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