Schiller: Die Jungfrau von Orleans, Südth. Staatstheater Meiningen

Tatsächlich, bei Schiller steht unter dem Titel die Bezeichnung „Eine romantische Tragödie“. Und in dieser Hinsicht bin ich mir sicher: was ich sah, war weder romantisch, noch eine Tragödie. In fast jeder anderen Hinsicht bin ich unsicher. War das offenbar mittlerweile übliche Quietschen und  Juchen am Ende einfach ein Premieren-Ritual jüngerer Theaterbesucher wie es das Ablegen von Stofftieren bei Trauergelegenheiten jeder Art geworden ist oder doch ein Zeichen, dass denen das tatsächlich alles gefallen hat? Es wurde ja, vor allem nach der Pause, auch kräftig gelacht. Denn lustig sah es aus, wie der Ritter mehrfach die Aluminiumleiter bestieg, nachdem er über die Bühne geschlichen war, als hätte ihn ein Freistoß von Hitzlsberger ins Gemächte getroffen. Von oben absolvierte er, was altmodische Theatertrottel die Mauerschau nennen. Vorher gab es, da lachte noch niemand, zweimal das Ballett der tanzenden und ringenden Lederhosen. Leider ist der 100-jährige Krieg zwischen Frankreich und England, in dem Johanna, das Mädchen aus Domrémy seine historische Rolle spielte, von der Schiller nahm, was er brauchte und verwarf, was ihm nicht in sein Spiel passte, nicht annähernd so lustig verlaufen.

Kriege, in denen sich Siegerinnen freuen mit der Gestik von Torschützen und Fußballtrainern, wären zwar, wenn denn Kriege überhaupt nötig bleiben sollen, deutlich angenehmer, als Kriege, in denen die Verlierer gebraten werden oder ein Ohr verlieren oder an den Haaren hinter dem Sieger hergeschleift werden. Dennoch, es geht ja um Theater, hätte ich mich, nur zu meiner eigenen Beruhigung, gefreut, wenn ich an der Inszenierung, Regie Titus Georgi, Jahrgang 1970 und ein leibhaftiger Professor dazu, eine Idee erkannt hätte. So aber, hol mich der Kuckuck, habe ich bestenfalls Ideen erkannt, Plural, mal solche, mal solche, es war ein Gemischtwarenladen. Mal verlegte die Regie das kunstbeflissene Treiben am mittelalterlichen Hofe des albernen und meist auch lächerlich dargestellten Karl ins modern Aktionskünstlerische. Karl und Agnes Sorel (Florian Beyer und Josephine Fabian) bewarfen und beschmierten sich mit Schlampampe. Mal wirkte die Versöhnungsszene zwischen Karl und dem Herzog von Burgund wie eine Reminiszenz an die deutsche Einheit mit dem inzwischen bis zur jeder Brechgrenze strapazierten Versprechen von blühenden Landschaften.

Dass diese Typen auf der Königsebene, Volk kam ohnehin kaum vor, nie meinen, was sie sagen, nie tun, was sie tun, ohne Hintergedanken, Rückversicherungen oder pure Heuchelei, das glaubte ich der Inszenierung zu hundert Prozent. Mit Schiller hat das freilich nicht viel zu tun. Ihm ging es nicht um posthume Enthüllungsgeschichtsschreibung. Die Geschichte war ihm bestenfalls Rohmaterial, was keineswegs wirklich kontrastiert zu seinem Dasein als Geschichtsprofessor ohne Sold in Jena. Jeder Vergleich mit der wirklichen Johanna, die in Rouen verbrannt und nicht allzu lange später heilig gesprochen wurde, füllt zwar Buch- oder Programmheftseiten, trägt zum Stück aber nicht sonderlich viel bei. Das hatten in grauer Vorzeit sogar schon die helleren Realismusspürhunde der DDR-Theaterbetrachtung halbwegs realistisch erkannt.

Als 1887 Otto Brahm knapp 90 Jahre „Die Jungfrau von Orleans“ auf deutschen Bühnen Revue passieren ließ, stellte er fest, dass sich die Tradition der Bühnendarstellung weit von den Absichten des Dichters entfernt hatte. Er rühmte demgegenüber die Aufführung der Meininger. Das waren freilich die alten Meininger, die des Theaterherzogs, nicht die jetzigen. Aber in einer Hinsicht haben letztere die Tradition der ersten auf alle Fälle hochgehalten, sie haben keine Heroine die Rolle der Johanna spielen lassen, sondern eine Darstellerin, der man das Mädchen abnimmt. Liljana Elgers darf hier viel mehr zeigen als in ihrer Rolle als Mariana in „Maß für Maß“, aber sie zeigt vor allem, und das sollte man ihr nicht ankreiden, dass es schwierig ist, die vielschichtige Rolle nicht auseinander brechen zu lassen in viele Einzelrollen, dass es die Aufgabe der Darstellerin eben dieser Johanna ist, alle zu vereinen.

Allen anderen Darstellern machte es schon Schiller um Längen einfacher, sie sind weitgehend eindimensional angelegt, und so darf die Idee, Personal zu sparen durch Doppelbesetzungen und nicht durch Streichungen zahlreicher Rollen, als nachvollziehbar und auch gelungen realisiert gesehen werden. Vom Prolog sind die ersten drei Auftritte ganz gestrichen, Johanna legt los mit Vers 392 aus dem vierten Auftritt. Sie ist zu laut von Beginn und sie ist zu dezidiert, sie spielt die Härte, die ihr erst später zuwächst, gewissermaßen zu früh. Renatus Scheibe ist zuerst Ratsherr von Orleans und da weiß der Erzkomödiant ganz offenbar nicht so recht, was er tun soll. Er stand, wie wir früher im Sandkasten sagten, herum wie Falschgeld. Das wird später deutlich besser. Wie der Abend hätte sein können, zeigte Michael Jeske als Talbot, auch wenn er den Satz „Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“ (3/VI, Vers 2319) nicht sagen durfte.

Dass ein Krönungszug auf der Bühne heute als Ausweis eines ganz und gar staubigen Regiesauriers gelten würde, versteht sich, leider, will ich sagen, von selbst, alle Arten von Surrogat jedoch bleiben unfreiwillig komisch. Titus Georgi hat seine Beteiligten unter eine große Spiegelfläche gelegt, sie sprechen ihre Texte liegend. Das Bühnenbild, um es zu erwähnen, was es nicht zwingend braucht (Katja Wetzel), ist sparsam, manchmal überrascht es mit einem Einfall, der wie die Einfälle der Regie ist, Plural. Unten Stolperfallen, seitlich ein Loch, durch das einmal ein Darsteller verschwinden kann. Wenn er nicht da, sondern sonstwo verschwunden wäre, hätte das Spiel vielleicht ein Viertel Lacher weniger gehabt, aber es hatte für eine Tragödie ohnehin zwei Sackvoll zu viel.

Vielleicht wollte die Regie aber nur beweisen, dass man „Die Jungfrau von Orleans“ heute gar nicht mehr spielen kann, ohne sie zu parodieren, zu persiflieren. Alle Sätze, die unter die Gruppe „Schiller-Zitate“ für jede Gelegenheit fallen, nicht weil das Schiller so wollte, sondern weil eine deutsche Oberlehrertradition die Sätze voller Tiefe und Ewigkeitswert so ablutschte wie die Nachrichtenabteilungen der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien heute den Hype der Woche oder des Monats, also so lange, bis es keiner mehr hören kann, obwohl sich an Wert und Substanz nichts geändert hat, alle diese Sätze, wurde geradezu weg- und kleingeredet.

Andere Inszenierungen streichen nicht nur den Erzbischof, wie Georgi, sondern auch den schwarzen Ritter. In Meiningen darf Altmeister Ulrich Kunze den Ritter und den Vater der Johanna spielen, als Randfiguren, seine Vatersubstanz vom Anfang war gestrichen. Mit den Rollen der Agnes Sorel und der Königin Isabeau musste die junge Josephine Fabian nicht nur sehr anders aussehen, sondern auch spielen. Das machte sie verblüffend gut, wenngleich bisweilen, wie wir auf dem Rückweg vom Sandkasten in die Küche sagten ganz früher, etwas viel Butter unter die Leberwurst geriet. Lukas Spisser war Graf Dunois und Lionel, Raphael Kübler war La Hire und Fastolf, Benjamin Krüger war Raimond, dem der Anfang gestrichen wurde und ein Herold. Harald Schröpfer spielte einen lothringischen Ritter und einen englischen Soldaten.

Dass Hans-Joachim Rodewald, als Herzog von Burgund, plötzlich eine Flasche Burgunder (nehme ich zugunsten der Regieabsicht an) in der Hand hielt, deren Inhalt Michael Jeske offenbar nicht ganz perfekt mundete, ohne dass er wie sein Kollege seinerzeit in der gleichen Szene in Halle im Neuen Theater alternativ die gewählte Flasche englischen Bieres dagegen setzte, stimmte mich missmutig. Wer Mauerschau von der Malerleiter wagt, darf dem Burgunderherzog auch mal einen Chablis von der Loire in die Hand drücken. Die Inszenierung hatte am 5. November bereits ihre erste Premiere im Theater Aschaffenburg, jetzt ist sie in Meiningen eingezogen. Maulende Kritik sollte dort niemanden entmutigen. Wenn nur noch die Menschen ins Theater gehen, die mit RTL Samstagnacht aufgewachsen sind und mit dem Quatsch Comedy Club, die von Kleist nie eine Zeile in der Schule lasen und Schiller für einen vergessenen SPD-Finanzexperten halten (Iris Gleicke war Premieren-Gast), dann ist alles in Ordnung, die Welt insbesondere.
  www.das-meininger-theater.de


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