Schnitzler: Liebelei; Landestheater Eisenach

Es gibt ein Theater nach und neben Michael Thalheimer und Frank Castorf. Es gibt Menschen, die das irritiert. Es gibt Menschen, die es verstörend finden, wenn Menschen, die zwischen den neunziger und den nuller Jahren unendlich oft in der Berliner Volksbühne waren, nun schon seit Jahren fast gar nicht mehr ins Theater gehen. Das könnte sowohl auf finale Bedarfsdeckung als auch schlimme Folgeschäden hindeuten. Irgendwann schlagen die Pendel, wie sie es literarisch seit Edgar Allan Poe tun und theatergeschichtlich offenbar auch, in die andere Richtung aus. Es gibt dann plötzlich und für viele gar nicht so unerwartet, ansehnliche Menschengruppen, potentielle Theaterzuschauer gar, die nicht in Panik aus dem Parkett flüchten, wenn auf der Bühne ein Bühnenbild erscheint, wenn die Schauspieler Kostüme tragen und wenn es, wir wollen langsam in Richtung Eisenach schwenken, minutenlang auf der Bühne richtiges Wasser regnet. Zuschauer mussten sich nicht auf der Bühne mangels Gestühl an aus dem Schnürboden hängende Seile klammern, um dem Spielgeschehen im leer geräumten Parkett zu folgen, wo einige Darsteller erst einmal ausgiebig in Ecken urinierten, sie durften in den Sesseln lungern und lümmeln oder einfach nur so sitzen. Eine jugendstilartige Schrift wurde lesbar auf dem transparenten Vorgang, der Name des Autors, der Titel des Stückes und die Handlungszeit. So ähnlich sah man es einst, als dieser Autor Schnitzler lebte, in den schwarzweißen Stummfilmen anfangs und als Zwischentitel.

Man wird dem Landestheater Eisenach, das in nicht vollkommen freiwilliger Symbiose mit dem Südthüringischen Staatstheater Meiningen sein Dasein fristet, nicht zu nahe treten, wenn man ihm keinen Ehrgeiz unterstellt, wie einst die Meininger zu theaterhistorischem Weltruhm zu gelangen, erst recht nicht mit kaum mehr als einer einsamen Sprechtheater-Inszenierung in der Spielzeit. Diesseits allen Größenwahns aber sollte man dem Haus mit allen Beteiligten sehr wohl den Ehrgeiz unterstellen, solide Arbeit zu liefern. Und sie packen es. Diese grundsolide „Liebelei“ mit lauter Darstellerinnen und Darstellern, die sicher nicht auf einen Ruf ans Wiener Burgtheater warten als Lohn ihres Schnitzler-Spiels, haben geschafft, was wichtig ist: Den Zuschauern (der Premiere zunächst) sagte es zu, es gab einen zunächst leicht zögerlichen, dann aber immer stärker werdenden Beifall. Das liegt am Stück, dem ein Verständiger knapp sechzig Jahre nach der Premiere in Wien attestierte, „so werden in Schnitzlers Werk aus der zeitbedingten Hülle immer klarer die zeitlosen Gültigkeiten sich hervorschälen.“ Diese 1954 tapfer behauptete Tendenz hat sich in den folgenden sechzig Jahren offenbar bestätigt. Deshalb hat man, habe ich hier in Eisenach zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, einer Bühnengeschichte aus der Mottenkiste beizuwohnen. Freilich schüttelt mich auch keine soziale Empörung gegen die schnöde Oberschicht von anno dazumal.

Kaum vorstellbar ist heute, dass die Berliner Erstaufführung nicht lange nach der Wiener 1896 aus Sorge darum, dass „Liebelei“ nicht abendfüllend sei, anschließend an Kleists „Der zerbrochne Krug“ gezeigt wurde. In Eisenach wagt es die Regie sogar, nach 45 Minuten eine Pause einzulegen, die zu Schnitzlers Zeiten wohl einem Umbau gedient hätte. Das aber wäre bei dem praktikablen Bühnenbild von Anke Niehammer kaum nötig gewesen. Jede Pause in Eisenach ermöglicht Erstbesuchern des Hauses den erstaunt-erfreuten Rundgang, den Kennern des Hauses ruft es die passende Wehmut hervor, wie alles sein könnte, wenn es sein dürfte, und am Pranger steht der parteilose Kulturpolitiker Sachzwang gemeinsam mit seiner Kollegin Klamme Kasse. „Liebelei“ ist ein wunderbares Stück in drei Akten, Arthur Schnitzler (1862 – 1931) war ein Autor, der in Prosa und für die Bühne gleichermaßen Großes schrieb. Die „Liebelei“ war nicht so spektakulär und nicht so skandalträchtig wie sehr viel später der gar nicht so viel später entstandene „Reigen“, auf Länge aber zweifellos erfolgreicher und lebensfähiger. Schnitzler konnte, tut mit leid, liebe Eulen in Athen, auch Rollen schreiben. Und Schauspielerinnen wie Schauspieler lieben seltsamerweise trotz aller Dekonstruktionsorgien im Sägespäne-Flair Rollen, in denen sie spielen dürfen. Die Christine dieses Stückes ist eine Traumrolle, auch Mizi und Frau Binder vertragen Kunst.

Ich zähle hier nicht auf, wer im Laufe von hundertzwanzig Jahren „Liebelei“ schon eine Christine war, die Kritikeraugen feucht spielte, sonst weint wieder die Brigade der Wissensverweigerer, mich arrogant wähnend. Ich behaupte auch nicht feuchtfröhlich, Ekaterina Ivanova stehe den großen Verkörperungen der Rolle kaum oder in nichts nach. Sie war eine Christine, die mir gefallen hat. Sie spielte die Naive, die Unschuldige, die Arglose, die kaum Ahnende, die vor dem eigenen Erkennen Zurückschreckende, die plötzlich Leidenschaftliche, die tödlich Getroffene nuancenreich. Vielleicht war das Ende im Wasser zu heftig, zu theatralisch, aber auch das wurde nicht wirklich zum Bruch. Den nächst Christine schwierigsten Part, ihren Liebsten Fritz Lobheimer, hat Istvan Vincze zu bewältigen. Seine Rolle hat Schwermut, Melancholie, schließlich gar schuldbewusste Todessehnsucht, wobei sich das Schuldgefühl gar nicht in erster Linie gegenüber Christine entwickelt. Den forschen Liebhaber, den Vernascher hat er mehr zu spielen als zu sein. Das alles zu zeigen, gelingt ihm alles andere als eben spielend. Bisweilen ist er einfach zu heftig. Wenn er die Kunstblumen in Christines Dachstube zu Boden schleudert, verletzt er sie ebenso wie mit seiner gedanken- und instinktlosen Bemerkung zur ihrer Brotarbeit, dem Notenabschreiben. Da trifft Vincze den Ton eher nicht, die Geste ist zu abrupt. Lehrreich für uns Heutige immer, wenn er sich vollständig bekleidet und alle Knöpfe schließt, nur weil es klopft oder klingelt.

Das andere, das kontrapunktische Paar Mizi Schlager und Theodor Kaiser spielen Jannike Schubert und Roman Kimmich, beide Rollen eher eindeutig als reich entworfen, folglich letztlich leichter zu spielen und genau deshalb der Gefahr ausgesetzt, zu viel Farbe abzubekommen. Kimmich war mir am Anfang zu laut, zu agil, denkbar, dass er meinte, so sein Vorausahnen verdecken zu müssen, das dieser Theodor, Bruder Leichtfuß, ja hat. Wer das Stück kennt, das Wort vorher wage ich kaum hinzuschreiben, wer zudem noch weiß, dass ganze Abhandlungen über vorausdeutende Zeichen in Bühnentexten existieren, wird beim Spiel auch in Eisenach oft genug genau dieses Vorauswissen sehen und hören, dem Rest schmeckt der Sonntagskloß freilich auch nicht schlechter. Theodor kennt seinen Freund Fritz, Theodor ist der Künstler der gepflegten Meidbewegung, steht allerdings auch gerade, wenn die Situation ihm keine echte Alternative erlaubt. Möge der Inszenierung Zeit bleiben, sich zu entwickeln. Jannike Schubert passt zur Rolle im Spiel, sie hat im Dialog mit Christine auch ihre leiseren Töne, mehr muss nicht. Die Strumpfwirker-Gattin Katharina Binder, Dagmar Poppy, die Freikarten betteln kommt und üble Nachrede verbreiten, hat das Kimmich-Problem. Ihre Startgeschwindigkeit ist zu hoch, um problemlos einbremsen zu können. Dennoch fügt es sich und kann jenseits des Premierenfiebers nur gewinnen.

Nur einem hat Regisseur Boris C. Motzki eine Doppelrolle verordnet: Gregor Nöllen. Er spielt den Vater Christinens, den Violinspieler am Josefstädter Theater, Hans Weiring. Hätte die Dramaturgie nicht jene Textpassage gestrichen, in der Fritz in Christines Stube den spärlichen Bücherbestand betrachtet, wären die Namen Schiller und Hauff gefallen. In Eisenach blieb von der Stelle nur die Büste Schuberts, die der ach so vorgebildete Fritz nicht erkennt. Schillers Name aber hätte die Krücke sein können, die zu jener schon bei der Berliner Erstaufführung von der Kritik bemerkten Referenz an den Musikus Miller und seine Tochter Luise Millerin führt. Neuere Schnitzler-Biographien nehmen das wie eine Selbstverständlichkeit hin und auf. Nöllen ist neben dem Vater auch jener Gatte, der den Ehebrecher Fritz zum Duell fordert und ihn dann tötet, er hat nur eine knappe Szene, in der er Haltung bewahren muss, obwohl er wüten möchte. Als Vater aber spielt er so, dass ich gut nachvollziehen kann, warum einst in Wien am Akademietheater ein Hans Moser in der Rolle so aufblühte, dass ihm eine der allerbesten Leistungen seiner an großen Leistungen wahrlich nicht armen Karriere bescheinigt wurde. Nöllen ist ein guter Weiring. Apropos Moser: Ihn zitierte Roman Kimmich beim Weinausschenken voller Spielspaß.

Es gibt ein weiteres Zitat, das ich mit spezieller Freude erwähne: zweimal, wenn ich es richtig notiert habe, werden auf dem Klavier ein paar wenige Töne angeschlagen, die ich, ich gestehe es gern, erst beim zweiten Mal erkannte: es ist das Motiv aus der grandiosen Verfilmung von Schnitzlers „Traumnovelle“, die Stanley Kubrick 1999 unter dem Titel „Eyes Wide Shut“ der Öffentlichkeit übergab mit Nicole Kidman und Tom Cruise. Das Programmheft weist keine gesonderte Musik-Verantwortung aus, also rechnen wir sie auf das Regiekonto unter die dickeren Haben-Seiten. Dahin gehört auch jene überzeugend realisierte Idee mit dem Umschalten der Beleuchtung, die eine Schattenspiel-Szenerie schafft, zu der stumm gespielt oder getanzt wird. Das wird durchgehalten, auch wenn die Schatten-Szenen nicht alle eine einzige Ebene halten, vielleicht gar nicht sollten, was dann freilich neue Fragen aufwürfe. Georg Hensel hat einst die Meinung vertreten, Schnitzler brauche Wiener Schauspieler. So richtig das sein mag, so wenig gibt es genügend von ihnen, um sie auf alle Bühnen zu verteilen, die einen Schnitzler spielen wollen. Deshalb ist es kaum vermeidbar, dass das Weanerisch auch in Eisenach, wo es nicht vermieden ist, fremd einher kommt. Die „Liebelei“ selbst dafür nicht.
www.theater-eisenach.de


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