Lutz Hübner: Gretchen 89ff; Theater im Gewölbe Weimar

Als Lutz Hübner geboren wurde, war das Jahr der Olympischen Spiele in Innsbruck und Tokio. Ich erinnere mich der Namen Thomas Köhler, Klaus Bonsack, Ortrun Enderlein, Ilse Geisler, Karin Balzer, Ingrid Krämer. Der äthiopische Marathonläufer Bikila Abebe lief in Turnschuhen zum zweiten Gold und nicht noch einmal barfuß wie 1960. Lutz Hübner wurde zwei Wochen vor den Winterspielen geboren und zwar in Heilbronn. In der Gegend ging es eher um Springreiter, Dressurreiter und ähnliche feinere Sportarten. Ein Vierteljahrhundert später wurde just die Zahl geschichtsnotorisch, die auch in dieser Szenenfolge ins Auge fällt: 89ff. Unbedarft könnte man bei Hören des Titels an so dicke Dinge denken, wie Epochenumbruch oder Freiheit statt Sozialismus. Ist aber nicht so. Das Erfolgsstück, Uraufführung am 29. Oktober 1997 in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin, meint eine Stelle in Goethes „Faust I“. Beim Meister selbst ist es das Ende der Szene „Abend“, die Herren und Damen Insider sagen „Kästchenszene“ und die verbliebenen Bildungsbürger wissen: die mit dem Gold, zu dem es drängt.

Das „Theater im Gewölbe“ in Weimar hat die Szenenfolge mit Musik und Gesang inzwischen fast fünf Jahre im Repertoire, Premiere war am 1. Oktober 2011, das spricht für Stück und Theater gleichermaßen. In großen Häusern sind schon Inszenierungen, die noch in der nächsten Spielzeit laufen, oft nur solche, die einfach zu spät im Jahr Premiere hatten, um ihre Reichweite schon ausgeschöpft zu haben. Lutz Hübner, man kann es nachlesen, ohne aufwändige Recherchen anstellen zu müssen, ist der nach Shakespeare und Goethe meistgespielte Autor an deutschen Theatern, „Gretchen 89ff“ trägt kräftig zu dieser Erfolgsstatistik bei in kleineren und kleinsten Häusern, bei Amateurtheatern und Schüleraufführungen. Da spielt es überhaupt keine Rolle, ob Mimen auf der Bühne und/oder Zuschauern vor der Bühne die Namen Heinz Hilpert, Gustav Gründgens oder Castorf viel oder wenig sagen (eher wenig bei Jungen und Nicht-Feuilleton-Lesern). Lutz Hübner eröffnet einen Blick ins Getriebe, einen höchst vergnüglichen. Sein Text ist publikumsfreundlich, publikumsfreundlich ist auch der Programmflyer mit Goethe komplett.

Denn mehr Spieltext vom Geheimrat ist nicht. Fünf Zeilen Regiehinweise, 28 Verszeilen, hinzu kommt das hyperberühmte Gretchen-Lied „Es war ein König in Thule“, soweit es hinzukommt. Damit wären wir beim Witz des Abends. Lutz Hübner lässt sein Publikum miterleben, wie in acht Konstellationen Regisseur und Gretchen-Darstellerin „Birgit Kowalski“ die Kästchenszene proben. Fünf Szenen vor der Pause, drei Szenen nach ihr. Die Zuschauer in der ersten Reihe müssen nicht auf die Pause warten, um etwas trinken zu können, ihre Eintrittskarte beinhaltet ein Getränk. Ich fragte am Einlass dezent, ob es eventuell störe, wenn ich in der ersten Reihe in mein Notizbuch kritzle, was verneint wurde. Ich hielt mich dennoch zurück. Und hatte einen erfrischenden Abend im Cranach-Haus am Markt. Ich musste mehrfach herzlich lachen, ich habe jeden Szenenapplaus mitgeklatscht und auch am Ende. Reinen Herzens. Wenn Theater sich Theater hernimmt, das ist spätestens seit Shakespeare so, dann haut es, wie man früher vielleicht gesagt hätte, Pegasus von allein die Flügel hoch und der zieht dann, mit Hübner im Sattel, acht feine Runden.

Die Titel der acht Szenen lauten in der Reihenfolge des Abends „Der alte Haudegen“, „Die Anfängerin“, „Der Schmerzensmann“, „Das Tourneepferd“, „Die Dramaturgin“, „Der Freudianer“, „Die Diva“ und final „Der Streicher“. Die Gender-Gerechtigkeit hat bei Hübner noch nicht zugeschlagen, Gretchen ist in sieben Fällen eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen, der Regisseur ist der Regisseur, nur einmal ist der Regisseur die Dramaturgin und die hat die freilich erwartbare Idee, einen Mann das Gretchen spielen zu lassen. Der Spaß liegt immer im Detail. Für das der Autor natürlich vor allem steht, aber auch die Regie von Saskia Leisenburg. Sie hat ihren beiden Akteuren Sybille Tancke und Martin Schink die Leine gelassen, die solche Abende brauchen, die extreme Nähe zum Publikum unterm Kreuzgewölbe des ältesten Weimarer Renaissancehauses sorgt von sich aus für Abwesenheit von Routine. Das Publikum geht mit, was man heute wohl Interaktion nennen müsste. Es geht also immer und ausschließlich um jene Szene, als Gretchen nach Hause kommt, das Kästchen findet mit dem Schmuck und sich der Versuchung bewusst wird.

Ausgezogen wird nicht, obwohl bei Goethe steht: „Sie fängt an zu singen, indem sie sich auszieht.“ Überhaupt kommt der König von Thule gewollt kurz, denn es ist Marotten-Abend und nicht Geheimratsweihe angesagt. Der alte Haudegen ist im Geiste in der Vergangenheit und nervt sein Gretchen mit seinen ständigen Reminiszenzen. Die Anfängerin ist hyperaktiv und hat zu viel Coaching und Briefing intus, kopflastig ihr Agieren. Der Schmerzensmann würde eigentlich am Burgtheater inszenieren, wenn die Welt nicht böse wäre. Das Tourneepferd kommt aus Wien, nur eben nicht vom Burgtheater, sondern eher aus der Vorstadt, wo der Nestroy die Jelinek vollständig ersetzt. Und die Dramaturgin, die dem Weanerischen das Bahlinern foljen lässt, die ist übermotiviert. Sie ist die Mittelstreckenläuferin, die nach 120 Metern schon 80 Meter Vorsprung hat und dann noch überrundet wird. Nach der Pause der Freudianer, der vor allem wissen will, ob die Gretchendarstellerin spitz ist auf den Faust-Darsteller und sein einschlägiges Kopuliergerät. Die Diva hat zu viele Maria Callas-Reportagen gesehen und nervt den Regie-Anfänger.

Bleibt der Streicher. Das ist der, dessen Schaffen nur von den ganz großen, ganz reichen Häusern für eine breitere Nachwelt dokumentiert wird. Diese Häuser lassen Programmhefte drucken, die den kompletten Stück-Text bringen und alle Streichungen sichtbar machen. Wer solche Programmbücher kennt, ist fast immer erschlagen von der Dreistigkeit, mit der halbe Akte, ganze Szenen, Ambition und Intention gestrichen werden, wobei der Streicher immer überzeugt ist, das einzig Mögliche getan zu haben. Denn: Vor allem Klassiker zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, dass sie keine Ahnung hatten, wie man ein Stück schreibt. Der Streicher von Lutz Hübner, das ist so etwas wie die finale Pointe, streicht die gesamte Szene in einigen Zwischenschritten, denn er kann die entscheidende Frage an sich selbst: „Brauchen wir die Szene überhaupt?“ nicht mit einem klaren Ja beantworten. Da sieht sogar der Schmerzensmann alt aus, der sein Publikum „Abo-Schweine“ nennt und dem Freudianer verpuffen die Anspielungen auf Otto Mühl und Einar Schleef. Streicher heißt die letzte Weisheit, alles ist nur Nebenstrang. Auf die nächsten fünf Jahre Erfolg!

 


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