Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder; Das Meininger Theater

Das Meininger Theater überrascht mit seiner ersten Saison-Premiere mehrfach. Zunächst glaubt man gut zwanzig Minuten, vielleicht doch das falsche Stück erwischt zu haben, Brecht kann das auf keinen Fall sein. Dann plötzlich, man hörte eben noch in Liedform verpackt Dialogpassagen aus Szene 1 und überlegte, wie die Regie wohl die Kurve kriegen könnte aus diesem Vorspiel auf der Bühne, in dem die wankenden Gestalten nicht erst nahen, sondern schon zugange sind, dann plötzlich gibt es Brecht vom Blatt. Nicht dass Brecht vom Blatt verwerflich wäre, man kennt das alte Gesellschaftsspiel zu Weihnachten, da eine riesige Kiste unterm Baum liegt und man wickelt aus und wickelt aus und wickelt aus und als endlich der Geschenkkern erreicht ist, passt er in eine Schachtel von acht mal acht mal acht Zentimetern. In Meiningen, ein schrägeres Bild will mir nicht einfallen, ist es umgekehrt, in der Verpackung versteckt sich Größeres, von dem man nicht ahnen konnte, dass es in diese Hülle passen würde. Der Anfang sah nach finnischem Schockrock aus, für den europäischen Songcontest gestylt. Ich verstand zunächst nichts, dann wenig und dann immer mehr, bis ich alles verstand. Auch eine solche Spielidee muss man erst einmal haben. Man ist in diesem Falle die Regisseurin Jasmina Hadžiahmetović, seit 1992 in Deutschland lebend.

Nach der Pause blieb eine ganze Reihe von Plätzen im Parkett leer, wie es oben aussah, weiß ich nicht. Und ich will keineswegs argwöhnen, dass den Abgängern einfach ein solider Planwagen fehlte. Denn vom Brecht fehlte sonst nicht viel, abgesehen von den Strichen vor allem im mittleren Teil, wo mit ihrem Text auch einige Nebenfiguren abgängig wurden, was streckenweise Situationen und Dialogstellen die Sinnfälligkeit raubte. Dafür gab es immer wieder winzige Text-Zugaben etwa der Art, dass Brechts Schindanger durch das vermeintlich gängigere Massengrab ersetzt wurde, als es darum ging, den von seiner Mutter verleugneten Schweizerkas unter die Erde zu bringen. Dass die zwölf Szenen mit vorab gesprochener Inhaltsangabe die aristotelischen Einheiten missachteten, war einst Lehrinhalt des praktizierten epischen Theaters, sechzig Jahre nach Brechts Tod müsste man vielen Theaterbesuchern vermutlich erst erläutern, was das für Einheiten waren. Und wenn halt die erste Szene 1624 spielt, die elfte und die zwölfte zwölf Jahre später und fast jede der zwölf an einem jeweils anderen Ort, dann ist das heute Normalität, auch Sonntagabendkrimis agieren mit Unterzeilen wie „drei Monate vorher“, „acht Jahre später“, für ein Theater gibt das bei zwölf Jahren Zeitunterschied allenfalls die Frage, ob man die Agierenden auch sichtbar älter werden lassen soll.

In Meiningen sehen alle 1636 aus wie 1624 und es wäre schnöde, das als sonderlich störend zu bezeichnen. Die Ortswechsel realisiert das Bühnenbild von Klaus Werner Noack, der auch für die Kostüme zuständig war, mit einem halben Dutzend baugleicher käfigartiger Roll-Container in Bauwagen-Größe, die von den Schauspielern jeweils verschoben, verdreht, verhangen, geöffnet, im Bühnenboden arretiert werden. Im Mutter Courages Marketenderwagen, der sich öfter als die anderen frontal einsehbar präsentiert, stehen am Boden zwei lindgrüne Kistchen, von denen eines das Symbol für Radioaktivität zeigt. Der Feldhauptmann agiert in einer Montur, die halbwegs an schwarze SS-Uniformen erinnert. Ich müsste lügen, würde ich solche Aktualitätssignale originell nennen, man nimmt sie hin. Der Effekt der Inszenierung, von dem ich hoffe, er war ein gewollter, lag für mich in dem überzeugenden Beweis der Tragkraft des Brechtschen Textes. 75 Jahre nach der Uraufführung am Schauspielhaus Zürich am 19. April 1941 ist da nichts an Substanz, das seither prägnanter formuliert worden wäre, das „überholt“ wäre. Brecht demontiert vor allem, was selbst im nüchternsten Kopf üblicherweise Moral heißt. Er selbst hat, wenn auch nicht in diesem Stück, sein Fazit auf die kürzestmögliche Formel gebracht: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“

Das ist eine Wahrheit, die noch den Duldsamsten aus dem Sessel reißt, nicht zu reden von all denen, denen das Materialismus ist, dem man einfach nur mit Idealismus zu begegnen braucht. Idealismus missverstanden als: Ideale haben. Dummerweise hat auch der Erz-Materialist Ideale. Die Geschichte einer Mutter mit drei Kindern von drei verschiedenen Vätern, die sich durchschlagen muss ausgerechnet in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, den in seinen Verheerungen, auf die Bevölkerungszahl Europas gerechnet, kein späterer Krieg je übertraf, ist exemplarisch ausgestellt. Brecht hat auf Grimmelshausen zurückgegriffen, Stoff seinen Zwecken handlich gemacht, wie es seine Art war. Seine Anna Fierling, sein Koch Pfeifenpieter, sein Feldprediger, alle, die er auftreten lässt, auch Yvette Pottier, sind nicht die, die man umgehend auf die Anklagebank in Den Haag setzen würde, ginge es um die verantwortlichen Hintermänner von Massenmord und Verheerung eines halben Kontinents. Das ranghöchste Wesen dieses Spiels ist ein Feldhauptmann. Und doch arrangieren sich alle auf ihre jeweilige Art mit dem Krieg, machen sie, wie Mutter Courage, diese Marketenderin, den Krieg zu ihrer Geschäftsgrundlage. Und das schließt eben keineswegs aus, denselben Krieg moralisch zu verurteilen und zu verwünschen, sogar, ihn inständig zu hassen.

Brecht tut, um hier Erfahrungen der deutschen Nachkriegsgeschichte einzubeziehen, gerade nicht, was Millionen Deutscher später ganz selbstverständlich taten: die Schuld bei denen ganz oben anzusiedeln, idealerweise ausschließlich bei Hitler und einem schlimmsten Dutzend. Brecht zeigt schon, ehe der Krieg eigentlich recht begann, dass da auch die kleinen Leute verdienen, dass sie Profit ziehen, es muss nicht einmal zwingend Blut fließen. Der eine bekommt einen Posten, weil den ein Jude nicht mehr besetzen durfte, der andere bekommt eine Wohnung und ihr Mobiliar, weil dort ein Häftling nicht mehr wohnte, ein Emigrant alles zurücklassen musste. Der einfache Sattler, den Wehrmachtsaufträge wohlhabend machen, das überlastete Lazarett, das einer adligen Dame ein gutes Gewissen verschaffte, wenn sie Wunden verband, es gab und gibt viele Arten, vom Krieg zu leben. Anna Fierling, genannt Mutter Courage, hat die unangenehme Eigenschaft, sich keinerlei Illusionen hinzugeben. Noch wenn sie liebt, tut sie das mit der Nüchternheit, die man unter romantischen Himmeln als größte Katastrophe sehen würde. Es geht auffallend oft im Stück um Tugend und Tugenden, die Regie hat keine der wichtigen Passagen gestrichen. Brecht hat wohl, auch wenn ihm die Eigenschaft dazu noch heute gern abgesprochen wird, sich selbst geprüft.

Oder wie deuten wir die Sätze der Mutter Courage in der zweiten Szene: „Überhaupt, wenn es wo so große Tugenden gibt, das beweist, dass da etwas faul ist. … In einem guten Land brauchts keine Tugenden, alle können ganz gewöhnlich sein, mittelgescheit und meinetwegen Feiglinge.“ Nicht in der „Mutter Courage“, wohl aber in „Leben des Galilei“ findet sich: „Unglücklich das Land, das Helden braucht“. Wir befinden uns also direkt in einer Kernzone Brechtschen Gesellschafts-Denkens, er konstruiert kein Heldenbild, sondern bindet auch das an eine idealistische Moral. Natürlich gibt es Mütter, die ihren Sohn, wenn er tot vor ihnen liegt, nicht verleugnen, wie es Anna Fierling tut. Diese Mütter sterben dann und lassen ihre stumme Tochter allein in der Welt zurück. Diese Moral ist brutal, aber nur so lange, wie man den Satz leugnet: „Das Höchste, was der Mensch besitzt ist das Leben.“ Singt Brecht vielleicht gar das „Lob der Feigheit“, ohne ihr einen eigenen Song zu widmen? Wer will sich ohne alle Scheinheiligkeit, alle dreiste Verlogenheit, alle Bigotterie hinstellen, den ersten Stein zu werfen? Verleugneten nicht selbst Apostel den Herrn? An welcher Stelle der nach Bedarf offenen Richterskala steht unter den Verleugnungen die Selbstverleugnung? Bis in diese Tiefen führte Regisseurin Jasmina Hadžiahmetović nicht, wollte es wohl auch nicht.

Man könnte die Wirkung der Inszenierung an den Lachern ermessen, die sie auslöste. Es gab, wenn ich nichts überhört habe, keinen Lacher wegen unfreiwilliger Komik, es gab die Lacher der Verunsicherung. Bei: „Komm, geh mit angeln, sagte der Fischer zum Wurm.“ Bei: „Die Tochter is nix. Wenigstens red sie nicht, das ist schon etwas.“ Bei: „Kattrin, hüt dich vor den Mageren“, in Meiningen ergänzt durch „und Blonden“. Bei: „Ich hab hier einen sitzen mit einem Glauben und einen mit einer Kass. Ich weiß nicht, was gefährlicher ist.“ Bei: „Sie haben eine erwerbsunfähige Tochter aufm Hals.“ Bei: „Die schönsten Plän sind schon zuschanden geworden durch die Kleinlichkeit von denen, wo sie ausführen sollten“. Bei: „Seit ich verlumpt bin, bin ich ein besserer Mensch geworden.“ Bei: „... so einer bleibt gefährlich auch im Zustand des Verfalls.“ Niemand lachte bei der Einführung von Szene 9, als es hieß: „In den ehemals blühenden Landschaften wütet der Hunger.“ Was die einen vielleicht als Reminiszenz an Einheitskanzler Kohl empfanden, überraschte andere dadurch, dass Kohl nicht einmal das erfunden hat. Die Soziologie des Meininger Premieren-Lachens wäre kein anderer Forschungsgegenstand als die Soziologie des Rudolstädter, des Coburger oder des meinetwegen Weimarer Premieren-Lachens. Es gibt auch das Signal-Lachen.

Als Rollen-Vorgabe für Darsteller ist „Mutter Courage und ihre Kinder“ das bessere Angebot für die Titel-Figur und Tochter Kattrin, die Söhne können es nur schwerer haben. In Meiningen gibt es eine Akzentverschiebung in Richtung dreier Rollen: Hans-Joachim Rodewald ist ein Feldprediger, wie er kaum mehr aus der Textvorgabe herausholen kann. Ob oben auf einem der Roll-Container, ob am Boden anschmiegsam sitzend, er holt Humor aus der Rolle und baut keine antiklerikale Karikatur. Michael Jeske überraschte mich nur in einem Punkt, der aber war ein sehr dicker: Das Lied vom weisen Salomo. So kannte ich ihn nicht, was gegen mich sprechen mag, ich bekenne es gern. Dass er gut ist und Stimme, wem muss man das sagen? Wienerisch redend sammelte Meret Engelhardt viel Aufmerksamkeit auf ihre Yvette Pottier. Es war ein Vergnügen, sie zu sehen und zu hören. Die Herrenriege Sven Zinkan als Eilif, Philipp Henry Brehl als Schweizerkas, Matthias Herold als Feldwebel und älterer Soldat, Vivian Frey als Werber und junger Soldaten, Reinhard Bock als Feldhauptmann und Bauer gaben ihren Figuren prägnantes Profil, wobei viel Martialisches von der Optik des Kostüms vorgegeben wurde. Die Kinder der Meininger Ballettschule Balance setzten einen feinen Akzent ins Spiel nach der Pause mit ihrem Gesang im Käfig. Bleibt Christine Zart.

Ihre Mutter Courage versuchte gar nicht erst, bekannten Über-Vorbildern zu folgen. Aber ebenso wenig versuchte sie, mit Gewalt die ganz andere Figur zu kreieren. Dafür sang sie im was auch immer bedeutenden Vorspiel so beeindruckend, dass sie alle Neugier hatte, ehe das eigentliche Spiel anhub. Ihre starken Momente, ihre vielen starken Momente hatte sie im Zusammenspiel: mit der stummen Tochter (Anna Krestel), mit den Söhnen, im Hin- und Hergerissensein mit dem Koch, im höchst differenzierten Eingehen auf den Feldprediger. Sie passte in die Bilder, die ihr gebaut waren: beim Rupfen des Kapauns in der Badewanne, beim frierenden Sitzen im Fichtelgebirge neben dem Koch, der einen Brief aus Utrecht bekommt. Sie ist keine „Hyäne des Schlachtfelds“, wie sie vom verschmähten Feldprediger genannt wird. Ihre Härte ist Panzerung gegen die Härten der Welt. Man hörte in Meiningen wie einen Kommentar Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ und das „Solidaritätslied“ eingebaut, letzteres nur angesungen. 66 Jahre nach der „Mutter Courage“ der Spielzeit 1949/50 in der Regie von Fritz Diez hat sich das Haus keine lästige Pflicht auferlegt mit einer Neuauflage, sondern Spielfreude vorgeführt, die es mancher Theorie zufolge gar nicht geben dürfte. Ein Bogen von Verfremdung extra zu Einfühlung extra. Das hält Brecht locker aus.
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