Albee; Wer hat Angst vor Virginia Woolf?; Südthür. Staatstheater Meiningen

Regen sich Theater in einem näheren Umkreis doch ein wenig gegenseitig an zu ihren Spielplänen? 2008 gab es diesen Albee in Weimar, 2011 folgte Gera, 2012 Coburg und jetzt ist Meiningen an der Reihe. Ich will das nicht schlecht reden, in Berlin wetteifern bisweilen drei Häuser gleichzeitig um ein Stück, dem Zuschauer kann das Vergnügen machen, muss allerdings nicht. Immerhin gibt es für Heimwege zur S-Bahn perfekte Insider-Gesprächsthemen. Für den Heimweg aus Meiningen blieb mir, allein im Auto, nur die Freude, die wider Erwarten (und Internet-Ankündigung) nicht bis 12. November gesperrte Auffahrt Nord nutzen zu können, womit das rein Private an dieser Stelle schon erledigt ist. Bereits ins Berufliche spielt das kleine Vergnügen, einen haargenau 27 Jahre vor der Premiere in den Kammerspielen gedruckten Artikel aus dem längst verblichenen Zentralblatt der DDR-CDU, „Neue Zeit“ nachgelesen zu haben. Der Kritiker Georg Antosch plünderte nicht nur grenzwertig schamlos die 1963er Premieren-Kritik von Friedrich Luft zur deutschsprachigen Erstaufführung im Schlosspark-Theater in Westberlin am 13. Oktober 1963, er berichtete auch von verstörten Zuschauern, die die Kammerspiele des Staatsschauspiels Dresden in der Pause verließen.

In Meiningen hielten, wenn mir nichts entgangen ist, alle durch, auch wenn hinter mir ein männliches Ur-Stöhnen von einer weiblichen Stimme mit dem Satz kommentiert wurde: „Ich habe dich gewarnt.“ 1962 in New York und 1963 in Berlin ging alles noch eine Stunde länger. Das Buch, in dem Hans-Joachim Rodewald, der den George gibt, in tiefer Nacht zu lesen begehrt, was das ungläubig-maßlose Erstaunen seiner Martha (Ulrike Walther) auslöst, soll, wenn ich keiner Falschmeldung aufsitze, Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ sein. Gegen die Anstrengung, diesen Wälzer zu lesen, sind zweieinhalb, selbst dreieinhalb Stunden Edward Albee huschende Kurzweil pur. Und angetan, den ahnungsvolleren Zuschauer wenigstens vorübergehend in staunende Bewunderung zu versetzen. Immerhin ist dieser George nach dem Willen seines Schöpfers Historiker und soweit sich Historiker auch mit der Theorie der Geschichte auseinander setzen, was man für die Vereinigten Staaten von Amerika nicht bedenkenlos voraussetzen sollte, also ein nicht untypischer Vertreter seiner Zunft. Nur etwas unamerikanisch ist er, ohne dass ein Ausschuss deswegen gegen ihn aktiv werden müsste, das erledigt seine Gattin Martha ganz allein.

Martha ist, könnte man sagen, der Ein-Frau-Ausschuss zur Untersuchung und Verurteilung unamerikanischer Tätigkeit, dem Senator McCarthy und seiner Freisler-Haftigkeit nicht gänzlich fern. Das Unamerikanische an George, dessen Alter Albee mit 46 ansetzt, ist sein vollkommen unterentwickelter Karriere-Drang. Er hat sich eingerichtet, hat seine Ruhe gefunden. Ob ihn auch seine Professur inhaltlich ausfüllt oder ihm Zeit und Raum lässt für private Projekte, Historiker im wirklichen Leben neigen ja dazu, vom Zeitpunkt der ersten Semester-Prüfung an an ihrem Opus Magnum zu arbeiten, das als 32-bändiges Standard-Werk anvisiert wird, erfahren wir nicht. Im Stücktext nicht und auf der Bühne damit selbstredend auch nicht. In Meiningen ist Rodewald in einer Farbgebung gewandet, dass er neben seiner feuermelder-roten Martha (Bühne und Kostüme Monika Maria Cleres) absticht wie die sprichwörtliche graue Maus. Da Martha die Tochter des allmächtigen College-Präsidenten ist, wo George lehrt und vielleicht auch forscht, gab es gewisse Schwiegersohn-Erwartungen des Mannes, dem Tochter-Erwartungen ganz patriarchalisch ziemlich sicher nie auch nur eine Sekunde in den Sinn kamen. George ist als Aufsteiger ein Versager.

Das Paar ist kinderlos, das Paar kommt zu Beginn des Spiels von einer Party nach Hause, und Martha überrascht ihren George mit der Ankündigung, dass gleich Gäste läuten werden. Da hat Rodewald einen seiner beiden Schuhe schon ausgezogen. Das Gäste-Paar ist deutlich jünger, Albee hat 28 und 26 Jahre für Nick und Honey bestimmt. Sie sind ein bisschen verlegen zunächst, er (Yannick Fischer) sogar im Smoking, sie (Carla Witte) in einem andauernd nach oben rutschenden engen blauen Kleid, das man bei anderer Farbe „das kleine schwarze“ nennen würde. Es rutschte teils so weit nach oben, dass die Ton-in-Ton-Strumpfhose bis zum Bund zu sehen was, also auch der geblümte Schlüpfer, der meine beiden Nachbarinnen zur linken zu geflüsterten Gesprächen animierte. Aktion entsteht in dergleichen Zusammenkünften in den Vereinigten Staaten offenbar hauptsächlich durch das Einschenken, das Mixen und das Austrinken von Drinks. Manche sind braun, dann heißen sie Brandy oder Bourbon, manche sind weiß, dann sind sie Gin. Dazu gibt es Eis und wir alle wissen, dass man das „on the rocks“ nennt. Edward Albee hat für seine spärliche Bühne eine den Raum beherrschende fahrbare Bar vorgesehen, die hat Meiningen in Miniatur.

Noch ehe Nick und Honey auf der Bühne sind, hat George mit gutem Grund eine Verhaltensregel vorgegeben, gegen die Martha dann sehr rasch verstößt, was sie am Ende bedauert. Dieser Verstoß aber beschleunigt die Eskalation des Geschehens und verschärft seine Zuspitzung. Denn es gibt im Ehealltag der beiden etwas, das man Spiel nennen könnte, wenn es nicht zu ernst genommen würde. Es ist ein Sohn, der nur in der verabredeten Einbildung der beiden lebt. Wie sie mit ihm und sich umgehen, wenn sie allein sind, wissen wir nicht, Albee hat es nicht einmal angedeutet. Georg Hensel hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass ein solches Spiel mit einem fiktiven Kind bei homosexuellen Paaren keineswegs selten sei. Das sieht dann aus, als hätte der selbst homosexuelle Dramatiker Albee aus seiner Erfahrungswelt in eine heterosexuelle Beziehung eine sonst schwer nachvollziehbare Verhaltensweise übertragen. Wie auch immer, in dieser Nacht von Sonnabend auf Sonntag steht für Nick und Honey wie eine Tatsache im Raum, dass der 21. Geburtstag des Sohnes bevorsteht und er deshalb zu Besuch kommen wird. Der fast ununterbrochene Alkoholkonsum hält die ungehemmt aggressive Martha davon ab, Gefahr zu wittern, Warnungen zu registrieren.

Und so haben die Zuschauer diesen sich steigernden Krieg der Gatten, diesen Geschlechterkampf, der aus der Vertrautheit beider Beteiligten wächst, aus dem sicheren Wissen, was wen in welcher Situation am stärksten verletzt, über knapp zweieinhalb Stunden vor Augen und Ohren. Es ist im wirklichen Leben kaum vorstellbar, dass solch ein Paar in dieser Konstellation tatsächlich mehr als zwanzig Jahre miteinander aushält, zumal eben kein Kind da ist. Es ist im wirklichen Leben ebenso schwer vorstellbar, dass ein so gegeneinander lebendes Paar Außenstehende zu Zeugen macht. Das wiederum zeigt, dass der scheinbare Realismus eben gar kein echter ist, schon gar keine späte amerikanische Spielart des europäischen Naturalismus, wie einmal behauptet wurde. Weit eher berechtigt ist die Zuordnung zum Theater des Absurden, wie sie einst Martin Esslin nahe legte. In der DDR wollte man „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ mit „Klassenbezogenheit und Gesellschaftsbedingtheit des Entfremdungsprozesses“ in Verbindung bringen, glattes Eis, wie sich zeigt an allen Entfremdungs-Debatten bis 1989. Auf keinen Fall wollte Edward Albee ahnungslosen Real-Sozialisten Abscheu vor dem amerikanischen Menschentypus einflößen.

Der Dreiakter bietet zuerst und vor allem ein scheinbar altersloses Spielangebot für Schauspieler und Schauspielerinnen. Was auch immer es genau ist, es wirkt. Ob ihn Berlin oder in Wien, in Hamburg oder Coburg: die Großen zeigten, warum sie groß sind und die vermeintlich Kleineren, dass sie können, wenn sie gefordert werden und Spielfreude entfalten dürfen. Die Regie muss ja, mit Verlaub, nicht übertrieben viel tun, muss keine komplizierten Symbole erfinden, keine überraschenden Assoziationen provozieren, nicht einmal abgelatschte Ideen von Einbeziehung des Publikums neu beleben, das gute alte Guckkasten-Kino funktioniert bestens. Und gerade dann muss man der Regie, diesenfalls Peter Bernhardt, danken, dass sie die Leine so und nicht anders hielten. Natürlich glänzte Hans-Joachim Rodewald, natürlich überzeugte Ulrike Walther bis zum wirklich grandiosen Zusammenbruch und den leisen Tönen. Carla Witte war das unbedarfte, das verletzliche, das kleingehaltene Dummchen, das aufbegehrende, erschrockene, mitmachen wollende Wesen in hoher Präzision der Töne, der kleinen Gesten, der irrenden Blicke. Yannick Fischer brauchte Zeit, die Rollensteife abzulegen und hatte seine Höhepunkte im Wortduell mit Rodewald.

Im Sockel der podestartigen Spielfläche konnte man ohne allzu große Mühe kleine Disney-Figuren erkennen, Fingerzeige zum Lied, das die Zuschauer schon empfing, als sie ihre Plätze aufsuchten. Dem Programm ist zu entnehmen, dass Franz Tröger die Spieluhr-Fassung von „Who's afraid of the Big Bad Wolf?“ eigens erstellte. Und das Lied aus dem Disney-Klassiker mit den drei kleinen Schweinchen kennt nun höchstwahrscheinlich wirklich fast jeder auch in Deutschland. Im Albee-Stück war es der verballhornte Party-Song im Haus des Präsidenten. Ich glaube, dass all diejenigen, die bei ihrer Lesart der drei Akte über den Namen Virginia Woolf großzügig hinwegsahen, sich keinen ganz großen Fehlgriff leisteten. Auch wenn Martha am Ende auf die von George ganz leise gesungene Frage mit „Ich“ antwortet, liegt der Schlüssel eher nicht in Richtung dessen, was die große Britin verkörperte, sondern im Blick auf die Zukunft. Angst hat Martha vor einer Zukunft ohne Illusionen nach dem Verlust ihrer privaten Hauptillusion. Es ist nicht auszuschließen, dass Martha und George ihre Silberhochzeit gemeinsam erleben. Sorgen muss man sich um Nick und Honey machen. Sie haben ihre Zukunft gesehen. Es war keine beflügelnde Aussicht.


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